vollen Gesammtheit erfassen; und dann erst erschaffen wir, gleichsam durch unsre eigne Thätigkeit gott-ähnlich, Ideen; die wir, wenn wir nur bis zu unserm Ideen-Schema hinge- langt, nach dem auffassen. Jedesmal wenn wir einer Gruppe von Gedanken Zusammenhang abgewinnen, haben wir eine genialische -- heißt schöpferische -- Handlung verrichtet; und je richtiger, und genauer diese war, je mehr wird ihr Ergeb- niß zu allem, was wir schon wissen, passen; und dies ist die Probe von dem, was wir Wahrheit nennen.
Sonnabend, den 13. Mai 1826.
Als Frau von Arnim bei uns war, und über vieles viel und schön sprach, sagte sie auch: Beim Einschlafen könne man dem Geist eine Art von Weg vorschreiben und gleichsam Re- gionen anweisen; hätte sie lange versucht, und auch in Plato bestätigt gefunden: da erinnerte ich Varnhagen, was ich immer sagte: Im wahren festen Schlaf ginge die Seele zu Hause; sich stärken; sonst hielte sie's nicht aus: das sei ihr verspro- chen. Sie badete sich in Gottes See.
Frau von Arnim hatte auch geklagt, daß so viel Talente und Thätigkeiten im Menschen wären, die nicht in Anspruch genommen würden, und nie zur That würden; man fühle das deutlich; und oft schmerzhaft -- freilich schwieg ich. -- Als sie weg war, wiederholte V. das, und setzte hinzu: Das ist aber bei allen talentvollen Menschen, ja auch bei den anschei- nend Unbegabtesten; was schlummert nicht alles in jedem! -- "Ja, sagte ich, es muß so sein; es ist wie Öl auf der Lampe, so wie es weg wäre, ginge das Licht aus; aber es muß mehr
vollen Geſammtheit erfaſſen; und dann erſt erſchaffen wir, gleichſam durch unſre eigne Thätigkeit gott-ähnlich, Ideen; die wir, wenn wir nur bis zu unſerm Ideen-Schema hinge- langt, nach dem auffaſſen. Jedesmal wenn wir einer Gruppe von Gedanken Zuſammenhang abgewinnen, haben wir eine genialiſche — heißt ſchöpferiſche — Handlung verrichtet; und je richtiger, und genauer dieſe war, je mehr wird ihr Ergeb- niß zu allem, was wir ſchon wiſſen, paſſen; und dies iſt die Probe von dem, was wir Wahrheit nennen.
Sonnabend, den 13. Mai 1826.
Als Frau von Arnim bei uns war, und über vieles viel und ſchön ſprach, ſagte ſie auch: Beim Einſchlafen könne man dem Geiſt eine Art von Weg vorſchreiben und gleichſam Re- gionen anweiſen; hätte ſie lange verſucht, und auch in Plato beſtätigt gefunden: da erinnerte ich Varnhagen, was ich immer ſagte: Im wahren feſten Schlaf ginge die Seele zu Hauſe; ſich ſtärken; ſonſt hielte ſie’s nicht aus: das ſei ihr verſpro- chen. Sie badete ſich in Gottes See.
Frau von Arnim hatte auch geklagt, daß ſo viel Talente und Thätigkeiten im Menſchen wären, die nicht in Anſpruch genommen würden, und nie zur That würden; man fühle das deutlich; und oft ſchmerzhaft — freilich ſchwieg ich. — Als ſie weg war, wiederholte V. das, und ſetzte hinzu: Das iſt aber bei allen talentvollen Menſchen, ja auch bei den anſchei- nend Unbegabteſten; was ſchlummert nicht alles in jedem! — „Ja, ſagte ich, es muß ſo ſein; es iſt wie Öl auf der Lampe, ſo wie es weg wäre, ginge das Licht aus; aber es muß mehr
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0250"n="242"/>
vollen Geſammtheit erfaſſen; und dann erſt erſchaffen wir,<lb/>
gleichſam durch unſre eigne Thätigkeit gott-ähnlich, Ideen;<lb/>
die wir, wenn wir nur bis zu unſerm Ideen-Schema hinge-<lb/>
langt, nach dem auffaſſen. Jedesmal wenn wir einer Gruppe<lb/>
von Gedanken Zuſammenhang abgewinnen, haben wir eine<lb/>
genialiſche — heißt ſchöpferiſche — Handlung verrichtet; und<lb/>
je richtiger, und genauer dieſe war, je mehr wird ihr Ergeb-<lb/>
niß zu allem, was wir ſchon wiſſen, paſſen; und dies iſt die<lb/>
Probe von dem, was wir Wahrheit nennen.</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Sonnabend, den 13. Mai 1826.</hi></dateline><lb/><p>Als Frau von Arnim bei uns war, und über vieles viel<lb/>
und ſchön ſprach, ſagte ſie auch: Beim Einſchlafen könne man<lb/>
dem Geiſt eine Art von Weg vorſchreiben und gleichſam Re-<lb/>
gionen anweiſen; hätte ſie lange verſucht, und auch in Plato<lb/>
beſtätigt gefunden: da erinnerte ich Varnhagen, was ich immer<lb/>ſagte: Im wahren feſten Schlaf ginge die Seele zu Hauſe;<lb/>ſich ſtärken; ſonſt hielte ſie’s nicht aus: das ſei ihr verſpro-<lb/>
chen. Sie badete ſich in Gottes See.</p><lb/><p>Frau von Arnim hatte auch geklagt, daß ſo viel Talente<lb/>
und Thätigkeiten im Menſchen wären, die nicht in Anſpruch<lb/>
genommen würden, und nie zur That würden; man fühle das<lb/>
deutlich; und oft ſchmerzhaft — freilich ſchwieg ich. — Als<lb/>ſie weg war, wiederholte V. das, und ſetzte hinzu: Das iſt<lb/>
aber bei allen talentvollen Menſchen, ja auch bei den anſchei-<lb/>
nend Unbegabteſten; was ſchlummert nicht alles in jedem! —<lb/>„Ja, ſagte ich, es muß ſo ſein; es iſt wie Öl auf der Lampe,<lb/>ſo wie es weg wäre, ginge das Licht aus; aber es muß mehr<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[242/0250]
vollen Geſammtheit erfaſſen; und dann erſt erſchaffen wir,
gleichſam durch unſre eigne Thätigkeit gott-ähnlich, Ideen;
die wir, wenn wir nur bis zu unſerm Ideen-Schema hinge-
langt, nach dem auffaſſen. Jedesmal wenn wir einer Gruppe
von Gedanken Zuſammenhang abgewinnen, haben wir eine
genialiſche — heißt ſchöpferiſche — Handlung verrichtet; und
je richtiger, und genauer dieſe war, je mehr wird ihr Ergeb-
niß zu allem, was wir ſchon wiſſen, paſſen; und dies iſt die
Probe von dem, was wir Wahrheit nennen.
Sonnabend, den 13. Mai 1826.
Als Frau von Arnim bei uns war, und über vieles viel
und ſchön ſprach, ſagte ſie auch: Beim Einſchlafen könne man
dem Geiſt eine Art von Weg vorſchreiben und gleichſam Re-
gionen anweiſen; hätte ſie lange verſucht, und auch in Plato
beſtätigt gefunden: da erinnerte ich Varnhagen, was ich immer
ſagte: Im wahren feſten Schlaf ginge die Seele zu Hauſe;
ſich ſtärken; ſonſt hielte ſie’s nicht aus: das ſei ihr verſpro-
chen. Sie badete ſich in Gottes See.
Frau von Arnim hatte auch geklagt, daß ſo viel Talente
und Thätigkeiten im Menſchen wären, die nicht in Anſpruch
genommen würden, und nie zur That würden; man fühle das
deutlich; und oft ſchmerzhaft — freilich ſchwieg ich. — Als
ſie weg war, wiederholte V. das, und ſetzte hinzu: Das iſt
aber bei allen talentvollen Menſchen, ja auch bei den anſchei-
nend Unbegabteſten; was ſchlummert nicht alles in jedem! —
„Ja, ſagte ich, es muß ſo ſein; es iſt wie Öl auf der Lampe,
ſo wie es weg wäre, ginge das Licht aus; aber es muß mehr
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/250>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.