Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

vollen Gesammtheit erfassen; und dann erst erschaffen wir,
gleichsam durch unsre eigne Thätigkeit gott-ähnlich, Ideen;
die wir, wenn wir nur bis zu unserm Ideen-Schema hinge-
langt, nach dem auffassen. Jedesmal wenn wir einer Gruppe
von Gedanken Zusammenhang abgewinnen, haben wir eine
genialische -- heißt schöpferische -- Handlung verrichtet; und
je richtiger, und genauer diese war, je mehr wird ihr Ergeb-
niß zu allem, was wir schon wissen, passen; und dies ist die
Probe von dem, was wir Wahrheit nennen.




Als Frau von Arnim bei uns war, und über vieles viel
und schön sprach, sagte sie auch: Beim Einschlafen könne man
dem Geist eine Art von Weg vorschreiben und gleichsam Re-
gionen anweisen; hätte sie lange versucht, und auch in Plato
bestätigt gefunden: da erinnerte ich Varnhagen, was ich immer
sagte: Im wahren festen Schlaf ginge die Seele zu Hause;
sich stärken; sonst hielte sie's nicht aus: das sei ihr verspro-
chen. Sie badete sich in Gottes See.

Frau von Arnim hatte auch geklagt, daß so viel Talente
und Thätigkeiten im Menschen wären, die nicht in Anspruch
genommen würden, und nie zur That würden; man fühle das
deutlich; und oft schmerzhaft -- freilich schwieg ich. -- Als
sie weg war, wiederholte V. das, und setzte hinzu: Das ist
aber bei allen talentvollen Menschen, ja auch bei den anschei-
nend Unbegabtesten; was schlummert nicht alles in jedem! --
"Ja, sagte ich, es muß so sein; es ist wie Öl auf der Lampe,
so wie es weg wäre, ginge das Licht aus; aber es muß mehr

vollen Geſammtheit erfaſſen; und dann erſt erſchaffen wir,
gleichſam durch unſre eigne Thätigkeit gott-ähnlich, Ideen;
die wir, wenn wir nur bis zu unſerm Ideen-Schema hinge-
langt, nach dem auffaſſen. Jedesmal wenn wir einer Gruppe
von Gedanken Zuſammenhang abgewinnen, haben wir eine
genialiſche — heißt ſchöpferiſche — Handlung verrichtet; und
je richtiger, und genauer dieſe war, je mehr wird ihr Ergeb-
niß zu allem, was wir ſchon wiſſen, paſſen; und dies iſt die
Probe von dem, was wir Wahrheit nennen.




Als Frau von Arnim bei uns war, und über vieles viel
und ſchön ſprach, ſagte ſie auch: Beim Einſchlafen könne man
dem Geiſt eine Art von Weg vorſchreiben und gleichſam Re-
gionen anweiſen; hätte ſie lange verſucht, und auch in Plato
beſtätigt gefunden: da erinnerte ich Varnhagen, was ich immer
ſagte: Im wahren feſten Schlaf ginge die Seele zu Hauſe;
ſich ſtärken; ſonſt hielte ſie’s nicht aus: das ſei ihr verſpro-
chen. Sie badete ſich in Gottes See.

Frau von Arnim hatte auch geklagt, daß ſo viel Talente
und Thätigkeiten im Menſchen wären, die nicht in Anſpruch
genommen würden, und nie zur That würden; man fühle das
deutlich; und oft ſchmerzhaft — freilich ſchwieg ich. — Als
ſie weg war, wiederholte V. das, und ſetzte hinzu: Das iſt
aber bei allen talentvollen Menſchen, ja auch bei den anſchei-
nend Unbegabteſten; was ſchlummert nicht alles in jedem! —
„Ja, ſagte ich, es muß ſo ſein; es iſt wie Öl auf der Lampe,
ſo wie es weg wäre, ginge das Licht aus; aber es muß mehr

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0250" n="242"/>
vollen Ge&#x017F;ammtheit erfa&#x017F;&#x017F;en; und dann er&#x017F;t er&#x017F;chaffen wir,<lb/>
gleich&#x017F;am durch un&#x017F;re eigne Thätigkeit gott-ähnlich, Ideen;<lb/>
die wir, wenn wir nur bis zu un&#x017F;erm Ideen-Schema hinge-<lb/>
langt, nach dem auffa&#x017F;&#x017F;en. Jedesmal wenn wir einer Gruppe<lb/>
von Gedanken Zu&#x017F;ammenhang abgewinnen, haben wir eine<lb/>
geniali&#x017F;che &#x2014; heißt &#x017F;chöpferi&#x017F;che &#x2014; Handlung verrichtet; und<lb/>
je richtiger, und genauer die&#x017F;e war, je mehr wird ihr Ergeb-<lb/>
niß zu allem, was wir &#x017F;chon wi&#x017F;&#x017F;en, pa&#x017F;&#x017F;en; und dies i&#x017F;t die<lb/>
Probe von dem, was wir Wahrheit nennen.</p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Sonnabend, den 13. Mai 1826.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Als Frau von Arnim bei uns war, und über vieles viel<lb/>
und &#x017F;chön &#x017F;prach, &#x017F;agte &#x017F;ie auch: Beim Ein&#x017F;chlafen könne man<lb/>
dem Gei&#x017F;t eine Art von Weg vor&#x017F;chreiben und gleich&#x017F;am Re-<lb/>
gionen anwei&#x017F;en; hätte &#x017F;ie lange ver&#x017F;ucht, und auch in Plato<lb/>
be&#x017F;tätigt gefunden: da erinnerte ich Varnhagen, was ich immer<lb/>
&#x017F;agte: Im wahren fe&#x017F;ten Schlaf ginge die Seele zu Hau&#x017F;e;<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;tärken; &#x017F;on&#x017F;t hielte &#x017F;ie&#x2019;s nicht aus: das &#x017F;ei ihr ver&#x017F;pro-<lb/>
chen. Sie badete &#x017F;ich in Gottes See.</p><lb/>
            <p>Frau von Arnim hatte auch geklagt, daß &#x017F;o viel Talente<lb/>
und Thätigkeiten im Men&#x017F;chen wären, die nicht in An&#x017F;pruch<lb/>
genommen würden, und nie zur That würden; man fühle das<lb/>
deutlich; und oft &#x017F;chmerzhaft &#x2014; freilich &#x017F;chwieg ich. &#x2014; Als<lb/>
&#x017F;ie weg war, wiederholte V. das, und &#x017F;etzte hinzu: Das i&#x017F;t<lb/>
aber bei allen talentvollen Men&#x017F;chen, ja auch bei den an&#x017F;chei-<lb/>
nend Unbegabte&#x017F;ten; was &#x017F;chlummert nicht alles in jedem! &#x2014;<lb/>
&#x201E;Ja, &#x017F;agte ich, es muß &#x017F;o &#x017F;ein; es i&#x017F;t wie Öl auf der Lampe,<lb/>
&#x017F;o wie es weg wäre, ginge das Licht aus; aber es muß mehr<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[242/0250] vollen Geſammtheit erfaſſen; und dann erſt erſchaffen wir, gleichſam durch unſre eigne Thätigkeit gott-ähnlich, Ideen; die wir, wenn wir nur bis zu unſerm Ideen-Schema hinge- langt, nach dem auffaſſen. Jedesmal wenn wir einer Gruppe von Gedanken Zuſammenhang abgewinnen, haben wir eine genialiſche — heißt ſchöpferiſche — Handlung verrichtet; und je richtiger, und genauer dieſe war, je mehr wird ihr Ergeb- niß zu allem, was wir ſchon wiſſen, paſſen; und dies iſt die Probe von dem, was wir Wahrheit nennen. Sonnabend, den 13. Mai 1826. Als Frau von Arnim bei uns war, und über vieles viel und ſchön ſprach, ſagte ſie auch: Beim Einſchlafen könne man dem Geiſt eine Art von Weg vorſchreiben und gleichſam Re- gionen anweiſen; hätte ſie lange verſucht, und auch in Plato beſtätigt gefunden: da erinnerte ich Varnhagen, was ich immer ſagte: Im wahren feſten Schlaf ginge die Seele zu Hauſe; ſich ſtärken; ſonſt hielte ſie’s nicht aus: das ſei ihr verſpro- chen. Sie badete ſich in Gottes See. Frau von Arnim hatte auch geklagt, daß ſo viel Talente und Thätigkeiten im Menſchen wären, die nicht in Anſpruch genommen würden, und nie zur That würden; man fühle das deutlich; und oft ſchmerzhaft — freilich ſchwieg ich. — Als ſie weg war, wiederholte V. das, und ſetzte hinzu: Das iſt aber bei allen talentvollen Menſchen, ja auch bei den anſchei- nend Unbegabteſten; was ſchlummert nicht alles in jedem! — „Ja, ſagte ich, es muß ſo ſein; es iſt wie Öl auf der Lampe, ſo wie es weg wäre, ginge das Licht aus; aber es muß mehr

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/250
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/250>, abgerufen am 21.11.2024.