Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

meinem Geist, meinem Verständniß, dann wird mir das im
Einzelnen, wozu ich das ganze Leben brauchte, zu schwer;
dann sehe ich, daß er ein Gott ist: von Gaben, Größe, Be-
herrschung, Harmonie, Fülle, Weisheit, und ewigem Wachs-
thum
. Du siehst, daß das noch das Ende meines letzten Ge-
sprächs bei Bartholdy's ist, wo er die Shakespear'schen Frauen
höher als die Goethe'schen stellen wollte. Er sprach übrigens
wie von einem Einzigen von ihm. Aber weil sie sein
Menschliches, Menschlichstes, dies sein Größtes nicht fassen;
machen sie lieber ein monstre der Vortrefflichkeit aus ihm:
und er hat grad' die wahre Menschengröße. Grad' das
Zeichen für mich, daß Goethe so groß als irgend ein alter
Dichter, aber der neue, moderne par excellence ist. Ver-
stehst du? Die alten hatten das Weib: die Mutter, die Toch-
ter, die Schwester. Wir haben diese Urgestalten im Lichte
der Frauen (Frauenlicht; sollte es eigentlich heißen): wir ha-
ben Frauen
; und die hat Goethe beim Schopf gehalten,
und ihnen tief durch die Augen in's Herz geschaut, jedes kleinste
Winkelchen im "Labyrinth der Brust." Erkundige dich doch,
ob Gans wirklich dort war, als der König von Baiern ein-
trat. Tausend Segen auf dich! Ich küsse dich. Morgen
mehr. --

-- X. Besuche sind nicht so sympathetisch, als ich sie
wohl durch falschen Ausdruck habe erscheinen lassen. Er kam,
wenn er etwas wollte und brauchte: immer als ob er gar
keine Zeit habe: und immer bei Mad. * sein müßte. Ganz
richtig. In dem Maße, wie er mich eigentlich nicht vertra-
gen kann, in demselben ist, und muß sie ihm die Nahrung

meinem Geiſt, meinem Verſtändniß, dann wird mir das im
Einzelnen, wozu ich das ganze Leben brauchte, zu ſchwer;
dann ſehe ich, daß er ein Gott iſt: von Gaben, Größe, Be-
herrſchung, Harmonie, Fülle, Weisheit, und ewigem Wachs-
thum
. Du ſiehſt, daß das noch das Ende meines letzten Ge-
ſprächs bei Bartholdy’s iſt, wo er die Shakeſpear’ſchen Frauen
höher als die Goethe’ſchen ſtellen wollte. Er ſprach übrigens
wie von einem Einzigen von ihm. Aber weil ſie ſein
Menſchliches, Menſchlichſtes, dies ſein Größtes nicht faſſen;
machen ſie lieber ein monstre der Vortrefflichkeit aus ihm:
und er hat grad’ die wahre Menſchengröße. Grad’ das
Zeichen für mich, daß Goethe ſo groß als irgend ein alter
Dichter, aber der neue, moderne par excellence iſt. Ver-
ſtehſt du? Die alten hatten das Weib: die Mutter, die Toch-
ter, die Schweſter. Wir haben dieſe Urgeſtalten im Lichte
der Frauen (Frauenlicht; ſollte es eigentlich heißen): wir ha-
ben Frauen
; und die hat Goethe beim Schopf gehalten,
und ihnen tief durch die Augen in’s Herz geſchaut, jedes kleinſte
Winkelchen im „Labyrinth der Bruſt.“ Erkundige dich doch,
ob Gans wirklich dort war, als der König von Baiern ein-
trat. Tauſend Segen auf dich! Ich küſſe dich. Morgen
mehr. —

— X. Beſuche ſind nicht ſo ſympathetiſch, als ich ſie
wohl durch falſchen Ausdruck habe erſcheinen laſſen. Er kam,
wenn er etwas wollte und brauchte: immer als ob er gar
keine Zeit habe: und immer bei Mad. * ſein müßte. Ganz
richtig. In dem Maße, wie er mich eigentlich nicht vertra-
gen kann, in demſelben iſt, und muß ſie ihm die Nahrung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0311" n="303"/>
meinem Gei&#x017F;t, meinem Ver&#x017F;tändniß, dann wird mir das im<lb/>
Einzelnen, wozu ich das ganze Leben brauchte, zu &#x017F;chwer;<lb/>
dann &#x017F;ehe ich, daß er ein <hi rendition="#g">Gott</hi> i&#x017F;t: von Gaben, Größe, Be-<lb/>
herr&#x017F;chung, Harmonie, Fülle, Weisheit, und <hi rendition="#g">ewigem Wachs-<lb/>
thum</hi>. Du &#x017F;ieh&#x017F;t, daß das noch das Ende meines letzten Ge-<lb/>
&#x017F;prächs bei Bartholdy&#x2019;s i&#x017F;t, wo <hi rendition="#g">er</hi> die Shake&#x017F;pear&#x2019;&#x017F;chen Frauen<lb/>
höher als die Goethe&#x2019;&#x017F;chen &#x017F;tellen wollte. Er &#x017F;prach übrigens<lb/>
wie von einem <hi rendition="#g">Einzigen</hi> von ihm. Aber weil &#x017F;ie &#x017F;ein<lb/>
Men&#x017F;chliches, Men&#x017F;chlic<hi rendition="#g">h&#x017F;tes</hi>, dies &#x017F;ein Größtes nicht fa&#x017F;&#x017F;en;<lb/>
machen &#x017F;ie lieber ein <hi rendition="#aq">monstre</hi> der Vortrefflichkeit aus ihm:<lb/>
und er hat grad&#x2019; die wahre <hi rendition="#g">Men&#x017F;cheng</hi>röße. Grad&#x2019; <hi rendition="#g">das</hi><lb/>
Zeichen für mich, daß Goethe &#x017F;o groß als <hi rendition="#g">irgend</hi> ein alter<lb/>
Dichter, aber der neue, moderne <hi rendition="#g"><hi rendition="#aq">par excellence</hi></hi> i&#x017F;t. Ver-<lb/>
&#x017F;teh&#x017F;t du? Die alten hatten das Weib: die Mutter, die Toch-<lb/>
ter, die Schwe&#x017F;ter. Wir haben die&#x017F;e Urge&#x017F;talten <hi rendition="#g">im Lichte</hi><lb/>
der Frauen (Frauenlicht; &#x017F;ollte es eigentlich heißen): <hi rendition="#g">wir ha-<lb/>
ben Frauen</hi>; und die hat Goethe beim Schopf gehalten,<lb/>
und ihnen tief durch die Augen in&#x2019;s Herz ge&#x017F;chaut, jedes klein&#x017F;te<lb/>
Winkelchen im &#x201E;Labyrinth der Bru&#x017F;t.&#x201C; Erkundige dich doch,<lb/>
ob Gans wirklich dort war, als der König von Baiern ein-<lb/>
trat. Tau&#x017F;end Segen auf dich! Ich kü&#x017F;&#x017F;e dich. Morgen<lb/>
mehr. &#x2014;</p><lb/>
            <p>&#x2014; X. Be&#x017F;uche &#x017F;ind nicht &#x017F;o &#x017F;ympatheti&#x017F;ch, als ich &#x017F;ie<lb/>
wohl durch fal&#x017F;chen Ausdruck habe er&#x017F;cheinen la&#x017F;&#x017F;en. Er kam,<lb/>
wenn er etwas wollte und brauchte: immer als ob er <hi rendition="#g">gar</hi><lb/>
keine Zeit habe: und immer bei Mad. * &#x017F;ein müßte. Ganz<lb/><hi rendition="#g">richtig</hi>. In dem Maße, wie er mich eigentlich nicht vertra-<lb/>
gen kann, in dem&#x017F;elben i&#x017F;t, und muß &#x017F;ie ihm die Nahrung<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[303/0311] meinem Geiſt, meinem Verſtändniß, dann wird mir das im Einzelnen, wozu ich das ganze Leben brauchte, zu ſchwer; dann ſehe ich, daß er ein Gott iſt: von Gaben, Größe, Be- herrſchung, Harmonie, Fülle, Weisheit, und ewigem Wachs- thum. Du ſiehſt, daß das noch das Ende meines letzten Ge- ſprächs bei Bartholdy’s iſt, wo er die Shakeſpear’ſchen Frauen höher als die Goethe’ſchen ſtellen wollte. Er ſprach übrigens wie von einem Einzigen von ihm. Aber weil ſie ſein Menſchliches, Menſchlichſtes, dies ſein Größtes nicht faſſen; machen ſie lieber ein monstre der Vortrefflichkeit aus ihm: und er hat grad’ die wahre Menſchengröße. Grad’ das Zeichen für mich, daß Goethe ſo groß als irgend ein alter Dichter, aber der neue, moderne par excellence iſt. Ver- ſtehſt du? Die alten hatten das Weib: die Mutter, die Toch- ter, die Schweſter. Wir haben dieſe Urgeſtalten im Lichte der Frauen (Frauenlicht; ſollte es eigentlich heißen): wir ha- ben Frauen; und die hat Goethe beim Schopf gehalten, und ihnen tief durch die Augen in’s Herz geſchaut, jedes kleinſte Winkelchen im „Labyrinth der Bruſt.“ Erkundige dich doch, ob Gans wirklich dort war, als der König von Baiern ein- trat. Tauſend Segen auf dich! Ich küſſe dich. Morgen mehr. — — X. Beſuche ſind nicht ſo ſympathetiſch, als ich ſie wohl durch falſchen Ausdruck habe erſcheinen laſſen. Er kam, wenn er etwas wollte und brauchte: immer als ob er gar keine Zeit habe: und immer bei Mad. * ſein müßte. Ganz richtig. In dem Maße, wie er mich eigentlich nicht vertra- gen kann, in demſelben iſt, und muß ſie ihm die Nahrung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/311
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/311>, abgerufen am 22.11.2024.