lebt. Kurz, das Gegentheil der Zeitavortons; in Religiosität, Denken, Gesinnung, und Ausdruck von allem diesen! Darum, theure Gräfin, schicke ich es Ihnen! Mir stärken diese Sprüche den ganzen Geist und Kopf, wie Bergmorgenluft die zu we- nig beachtete Natur des Körpers. Möge es Sie eben so er- freuen, und Sie mich es wissen lassen! Ich dachte diesen Som- mer gewiß nach dem Rhein zurückzugehen. Mein Bestes, meine Vernunft, muß einwilligen, hier zu bleiben. "Nur Geister können gezwungen werden," sagt Novalis. Machen Sie von diesen wenigen Worten Ihr Facit! Fast fürcht' ich mich, noch etwas Höheres zu werden im Verlauf der Zeiten. Welcher Zwang mag da erst eintreten! Doch bin ich seit heute getroster: weil ich ein paar Zimmer im George'schen Gar- ten, der an der Spree liegt, als Absteigequartier habe. Und Luft, Grünes, Wasser, Leben, -- welches auf dem Schiffbauer- damm ist, -- mich gleich heilend berührt, und mir wirklich so nöthig als Athemluft ist. --
Sonntag, Berlin, den 10. December 1820.
Julchen S. sagt: "Man kommt so stückweise um sich." Ich sage: "Man trägt sein Leben zu Grabe." Vielleicht lebt es Keiner. --
Es giebt eine oberflächliche, und eine tiefe Jugend!
Wir verlieren alles, was wir lieben: am Ende das was wir kennen, das Leben.
lebt. Kurz, das Gegentheil der Zeitavortons; in Religioſität, Denken, Geſinnung, und Ausdruck von allem dieſen! Darum, theure Gräfin, ſchicke ich es Ihnen! Mir ſtärken dieſe Sprüche den ganzen Geiſt und Kopf, wie Bergmorgenluft die zu we- nig beachtete Natur des Körpers. Möge es Sie eben ſo er- freuen, und Sie mich es wiſſen laſſen! Ich dachte dieſen Som- mer gewiß nach dem Rhein zurückzugehen. Mein Beſtes, meine Vernunft, muß einwilligen, hier zu bleiben. „Nur Geiſter können gezwungen werden,“ ſagt Novalis. Machen Sie von dieſen wenigen Worten Ihr Facit! Faſt fürcht’ ich mich, noch etwas Höheres zu werden im Verlauf der Zeiten. Welcher Zwang mag da erſt eintreten! Doch bin ich ſeit heute getroſter: weil ich ein paar Zimmer im George’ſchen Gar- ten, der an der Spree liegt, als Abſteigequartier habe. Und Luft, Grünes, Waſſer, Leben, — welches auf dem Schiffbauer- damm iſt, — mich gleich heilend berührt, und mir wirklich ſo nöthig als Athemluft iſt. —
Sonntag, Berlin, den 10. December 1820.
Julchen S. ſagt: „Man kommt ſo ſtückweiſe um ſich.“ Ich ſage: „Man trägt ſein Leben zu Grabe.“ Vielleicht lebt es Keiner. —
Es giebt eine oberflächliche, und eine tiefe Jugend!
Wir verlieren alles, was wir lieben: am Ende das was wir kennen, das Leben.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0037"n="29"/>
lebt. Kurz, das Gegentheil der Zeitavortons; in Religioſität,<lb/>
Denken, Geſinnung, und Ausdruck von allem dieſen! Darum,<lb/>
theure Gräfin, ſchicke ich es Ihnen! Mir ſtärken dieſe Sprüche<lb/>
den ganzen Geiſt und Kopf, wie Bergmorgenluft die zu we-<lb/>
nig beachtete Natur des Körpers. Möge es Sie eben ſo er-<lb/>
freuen, und Sie mich es wiſſen laſſen! Ich dachte dieſen Som-<lb/>
mer gewiß nach dem Rhein zurückzugehen. Mein <hirendition="#g">Beſtes</hi>,<lb/>
meine <hirendition="#g">Vernunft</hi>, muß einwilligen, hier zu bleiben. „Nur<lb/>
Geiſter können gezwungen werden,“ſagt Novalis. Machen<lb/>
Sie von dieſen wenigen Worten Ihr Facit! <hirendition="#g">Faſt</hi> fürcht’ ich<lb/>
mich, noch etwas Höheres zu werden im Verlauf der Zeiten.<lb/>
Welcher Zwang mag da erſt eintreten! Doch bin ich ſeit<lb/>
heute getroſter: weil ich ein paar Zimmer im George’ſchen Gar-<lb/>
ten, der an der Spree liegt, als Abſteigequartier habe. Und<lb/>
Luft, Grünes, Waſſer, Leben, — welches auf dem Schiffbauer-<lb/>
damm iſt, — mich gleich heilend berührt, und mir <hirendition="#g">wirklich</hi><lb/>ſo nöthig als Athemluft iſt. —</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Sonntag, Berlin, den 10. December 1820.</hi></dateline><lb/><p>Julchen S. ſagt: „Man kommt ſo ſtückweiſe um ſich.“<lb/>
Ich ſage: „Man trägt ſein Leben zu Grabe.“ Vielleicht lebt<lb/>
es Keiner. —</p><lb/><p>Es giebt eine oberflächliche, und eine tiefe Jugend!</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><p>Wir verlieren alles, was wir lieben: am Ende das was<lb/>
wir kennen, das Leben.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div></div></div></body></text></TEI>
[29/0037]
lebt. Kurz, das Gegentheil der Zeitavortons; in Religioſität,
Denken, Geſinnung, und Ausdruck von allem dieſen! Darum,
theure Gräfin, ſchicke ich es Ihnen! Mir ſtärken dieſe Sprüche
den ganzen Geiſt und Kopf, wie Bergmorgenluft die zu we-
nig beachtete Natur des Körpers. Möge es Sie eben ſo er-
freuen, und Sie mich es wiſſen laſſen! Ich dachte dieſen Som-
mer gewiß nach dem Rhein zurückzugehen. Mein Beſtes,
meine Vernunft, muß einwilligen, hier zu bleiben. „Nur
Geiſter können gezwungen werden,“ ſagt Novalis. Machen
Sie von dieſen wenigen Worten Ihr Facit! Faſt fürcht’ ich
mich, noch etwas Höheres zu werden im Verlauf der Zeiten.
Welcher Zwang mag da erſt eintreten! Doch bin ich ſeit
heute getroſter: weil ich ein paar Zimmer im George’ſchen Gar-
ten, der an der Spree liegt, als Abſteigequartier habe. Und
Luft, Grünes, Waſſer, Leben, — welches auf dem Schiffbauer-
damm iſt, — mich gleich heilend berührt, und mir wirklich
ſo nöthig als Athemluft iſt. —
Sonntag, Berlin, den 10. December 1820.
Julchen S. ſagt: „Man kommt ſo ſtückweiſe um ſich.“
Ich ſage: „Man trägt ſein Leben zu Grabe.“ Vielleicht lebt
es Keiner. —
Es giebt eine oberflächliche, und eine tiefe Jugend!
Wir verlieren alles, was wir lieben: am Ende das was
wir kennen, das Leben.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/37>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.