Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite
An den Fürsten von Pückler-Muskau.

Sie sind jetzt, lieber Fürst, mein wahrer Trost (ein Freund,
Gleichgesinnter, wie dies Goethe in der Elegie Hermann und
Dorothea bezeichnet) in der gebildet-unverständigen Welt,
der das gesunde, unschuldige Verständniß ganz abhänden ge-
kommen ist! Erscheint ein großes neues, auf neue Beziehun-
gen sich richtendes Kunstwerk, von welchem ich den Gram
haben muß zu sehn, zu hören, daß es auf das Publikum
wie Regen auf Marmor herabfällt, der den nährenden Tropfen
widersteht, anstatt sich neues Leben aus ihnen zu saugen; und
welches Publikum zu beurtheilen vorgiebt, was es erst zu be-
greifen erlernen müßte; wenn ich diese Menschen fein und
dummdreist schnattern höre, und verzweifelt in Schweigen ver-
fallen muß: so kommt ein Brief aus Görlitz, der mich tröstet,
erheitert: der Victor Hugo'n und mich rechtfertigt; mich aus
der Einsiedelei errettet. So kam heute Ihr Billet an V., und
Trost sprach es in meine Seele. Für welchen ich Ihnen hier
danke. Danken möcht' ich Ihnen für das, wofür Sie zu
danken haben: für Unschuld. Es ist Verderbtheit, und nicht
Mangel an Verstand, wenn der Mensch keine neue, ihm un-
bequeme Gedanken in sich aufnehmen will: Stupidität, wenn
sie vor ihn treten, und er nicht merkt, daß es neue sind,
höchste Infamie, erkennt er sie, und läugnet sie doch. Erfreu-
lich, der ganzen Seele wohlthuend sind Sie; der, mit wahrer
Kinderart, Neues merkt, aufnimmt, anerkennt: -- wo ich noch

An den Fürſten von Pückler-Muskau.

Sie ſind jetzt, lieber Fürſt, mein wahrer Troſt (ein Freund,
Gleichgeſinnter, wie dies Goethe in der Elegie Hermann und
Dorothea bezeichnet) in der gebildet-unverſtändigen Welt,
der das geſunde, unſchuldige Verſtändniß ganz abhänden ge-
kommen iſt! Erſcheint ein großes neues, auf neue Beziehun-
gen ſich richtendes Kunſtwerk, von welchem ich den Gram
haben muß zu ſehn, zu hören, daß es auf das Publikum
wie Regen auf Marmor herabfällt, der den nährenden Tropfen
widerſteht, anſtatt ſich neues Leben aus ihnen zu ſaugen; und
welches Publikum zu beurtheilen vorgiebt, was es erſt zu be-
greifen erlernen müßte; wenn ich dieſe Menſchen fein und
dummdreiſt ſchnattern höre, und verzweifelt in Schweigen ver-
fallen muß: ſo kommt ein Brief aus Görlitz, der mich tröſtet,
erheitert: der Victor Hugo’n und mich rechtfertigt; mich aus
der Einſiedelei errettet. So kam heute Ihr Billet an V., und
Troſt ſprach es in meine Seele. Für welchen ich Ihnen hier
danke. Danken möcht’ ich Ihnen für das, wofür Sie zu
danken haben: für Unſchuld. Es iſt Verderbtheit, und nicht
Mangel an Verſtand, wenn der Menſch keine neue, ihm un-
bequeme Gedanken in ſich aufnehmen will: Stupidität, wenn
ſie vor ihn treten, und er nicht merkt, daß es neue ſind,
höchſte Infamie, erkennt er ſie, und läugnet ſie doch. Erfreu-
lich, der ganzen Seele wohlthuend ſind Sie; der, mit wahrer
Kinderart, Neues merkt, aufnimmt, anerkennt: — wo ich noch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0562" n="554"/>
        <div n="2">
          <head>An den Für&#x017F;ten von Pückler-Muskau.</head><lb/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Montag, den 6. Februar 1832.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Sie &#x017F;ind jetzt, lieber Für&#x017F;t, mein wahrer Tro&#x017F;t (ein Freund,<lb/>
Gleichge&#x017F;innter, wie dies Goethe in der Elegie Hermann und<lb/>
Dorothea bezeichnet) in der gebildet-unver&#x017F;tändigen Welt,<lb/>
der das ge&#x017F;unde, un&#x017F;chuldige Ver&#x017F;tändniß ganz abhänden ge-<lb/>
kommen i&#x017F;t! Er&#x017F;cheint ein großes neues, auf neue Beziehun-<lb/>
gen &#x017F;ich richtendes Kun&#x017F;twerk, von welchem ich den Gram<lb/>
haben muß zu &#x017F;ehn, zu <hi rendition="#g">hören</hi>, daß es auf das Publikum<lb/>
wie Regen auf Marmor herabfällt, der den nährenden Tropfen<lb/>
wider&#x017F;teht, an&#x017F;tatt &#x017F;ich neues Leben aus ihnen zu &#x017F;augen; und<lb/>
welches Publikum zu beurtheilen vorgiebt, was es er&#x017F;t zu be-<lb/>
greifen erlernen müßte; wenn ich die&#x017F;e Men&#x017F;chen fein und<lb/>
dummdrei&#x017F;t &#x017F;chnattern höre, und verzweifelt in Schweigen ver-<lb/>
fallen muß: &#x017F;o kommt ein Brief aus Görlitz, der mich trö&#x017F;tet,<lb/>
erheitert: der Victor Hugo&#x2019;n und mich rechtfertigt; mich aus<lb/>
der Ein&#x017F;iedelei errettet. So kam heute Ihr Billet an V., und<lb/>
Tro&#x017F;t &#x017F;prach es in meine Seele. Für welchen ich Ihnen hier<lb/>
danke. Danken möcht&#x2019; ich Ihnen für das, wofür <hi rendition="#g">Sie</hi> zu<lb/>
danken haben: für Un&#x017F;chuld. Es i&#x017F;t Verderbtheit, und nicht<lb/>
Mangel an Ver&#x017F;tand, wenn der Men&#x017F;ch keine neue, ihm un-<lb/>
bequeme Gedanken in &#x017F;ich aufnehmen will: Stupidität, wenn<lb/>
&#x017F;ie vor ihn treten, und er nicht merkt, daß es neue &#x017F;ind,<lb/>
höch&#x017F;te Infamie, erkennt er &#x017F;ie, und läugnet &#x017F;ie doch. Erfreu-<lb/>
lich, der ganzen Seele wohlthuend &#x017F;ind Sie; der, mit wahrer<lb/>
Kinderart, Neues merkt, aufnimmt, anerkennt: &#x2014; wo ich noch<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[554/0562] An den Fürſten von Pückler-Muskau. Montag, den 6. Februar 1832. Sie ſind jetzt, lieber Fürſt, mein wahrer Troſt (ein Freund, Gleichgeſinnter, wie dies Goethe in der Elegie Hermann und Dorothea bezeichnet) in der gebildet-unverſtändigen Welt, der das geſunde, unſchuldige Verſtändniß ganz abhänden ge- kommen iſt! Erſcheint ein großes neues, auf neue Beziehun- gen ſich richtendes Kunſtwerk, von welchem ich den Gram haben muß zu ſehn, zu hören, daß es auf das Publikum wie Regen auf Marmor herabfällt, der den nährenden Tropfen widerſteht, anſtatt ſich neues Leben aus ihnen zu ſaugen; und welches Publikum zu beurtheilen vorgiebt, was es erſt zu be- greifen erlernen müßte; wenn ich dieſe Menſchen fein und dummdreiſt ſchnattern höre, und verzweifelt in Schweigen ver- fallen muß: ſo kommt ein Brief aus Görlitz, der mich tröſtet, erheitert: der Victor Hugo’n und mich rechtfertigt; mich aus der Einſiedelei errettet. So kam heute Ihr Billet an V., und Troſt ſprach es in meine Seele. Für welchen ich Ihnen hier danke. Danken möcht’ ich Ihnen für das, wofür Sie zu danken haben: für Unſchuld. Es iſt Verderbtheit, und nicht Mangel an Verſtand, wenn der Menſch keine neue, ihm un- bequeme Gedanken in ſich aufnehmen will: Stupidität, wenn ſie vor ihn treten, und er nicht merkt, daß es neue ſind, höchſte Infamie, erkennt er ſie, und läugnet ſie doch. Erfreu- lich, der ganzen Seele wohlthuend ſind Sie; der, mit wahrer Kinderart, Neues merkt, aufnimmt, anerkennt: — wo ich noch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/562
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 554. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/562>, abgerufen am 26.11.2024.