menten eine gewisse Unabhängigkeit der einzelnen Glieder besteht, und dass diese Unabhängigkeit sich äussert, indem unter gewissen äusseren oder inneren Einwirkungen das Ele- ment nur innerhalb seiner Grenzen gewisse Veränderungen er- fährt, ohne dass die nächsten Elemente dabei betheiligt zu sein brauchen.
Das Angeführte wird zunächst genügen, um Ihnen zu zei- gen, in welcher Weise ich es für nothwendig erachte, die pa- thologischen Erfahrungen auf bekannte histologische Elemente zurückzuführen, warum es mir nicht genügt z. B. von einer Thätigkeit der Gefässe zu sprechen oder von einer Thätig- keit der Nerven, sondern warum ich es für nothwendig er- achte, neben Gefässen und Nerven die grosse Zahl von kleinen Theilen ins Auge zu fassen, welche eigentlich die Hauptmasse der Körpersubstanz ausmachen. Es genügt nicht, dass man, wie es seit langer Zeit geschieht, die Muskeln als thätige Elemente daraus ablöst; innerhalb des grossen Restes, der ge- wöhnlich als eine träge Masse betrachtet wird, findet sich noch eine ungeheure Zahl wirksamer Theile.
In der Entwicklung, welche die Medicin bis in die letzte Zeit genommen hat, finden wir den Streit zwischen den humo- ralen und solidaren Schulen der alten Zeit immer noch erhal- ten. Die humoralen Schulen haben im Allgemeinen das meiste Glück gehabt, weil sie die bequemste Erklärung und in der That die plausibelste Deutung der Krankheitsvorgänge gebracht haben. Man kann sagen, dass fast alle glücklichen Praktiker und bedeutenden Kliniker mehr oder weniger humo- ralpathologische Tendenzen gehabt haben; ja diese sind so populär geworden, dass es jedem Einzelnen äusserst schwer wird, sich aus ihnen zu befreien. Die solidarpathologischen Ansichten sind mehr eine Liebhaberei speculativer Forscher gewesen und nicht sowohl aus dem unmittelbaren pathologi- schen Bedürfnisse, als vielmehr aus physiologischen und philo- sophischen, selbst aus religiösen Speculationen hervorgegangen. Sie haben den Thatsachen Gewalt anthun müssen, sowohl in der Anatomie als in der Physiologie, und haben daher nie- mals eine ausgedehnte Verbreitung gefunden. Meiner Auffas- sung nach ist der Standpunkt beider Lehren ein unvollständi-
Die Cellularpathologie.
menten eine gewisse Unabhängigkeit der einzelnen Glieder besteht, und dass diese Unabhängigkeit sich äussert, indem unter gewissen äusseren oder inneren Einwirkungen das Ele- ment nur innerhalb seiner Grenzen gewisse Veränderungen er- fährt, ohne dass die nächsten Elemente dabei betheiligt zu sein brauchen.
Das Angeführte wird zunächst genügen, um Ihnen zu zei- gen, in welcher Weise ich es für nothwendig erachte, die pa- thologischen Erfahrungen auf bekannte histologische Elemente zurückzuführen, warum es mir nicht genügt z. B. von einer Thätigkeit der Gefässe zu sprechen oder von einer Thätig- keit der Nerven, sondern warum ich es für nothwendig er- achte, neben Gefässen und Nerven die grosse Zahl von kleinen Theilen ins Auge zu fassen, welche eigentlich die Hauptmasse der Körpersubstanz ausmachen. Es genügt nicht, dass man, wie es seit langer Zeit geschieht, die Muskeln als thätige Elemente daraus ablöst; innerhalb des grossen Restes, der ge- wöhnlich als eine träge Masse betrachtet wird, findet sich noch eine ungeheure Zahl wirksamer Theile.
In der Entwicklung, welche die Medicin bis in die letzte Zeit genommen hat, finden wir den Streit zwischen den humo- ralen und solidaren Schulen der alten Zeit immer noch erhal- ten. Die humoralen Schulen haben im Allgemeinen das meiste Glück gehabt, weil sie die bequemste Erklärung und in der That die plausibelste Deutung der Krankheitsvorgänge gebracht haben. Man kann sagen, dass fast alle glücklichen Praktiker und bedeutenden Kliniker mehr oder weniger humo- ralpathologische Tendenzen gehabt haben; ja diese sind so populär geworden, dass es jedem Einzelnen äusserst schwer wird, sich aus ihnen zu befreien. Die solidarpathologischen Ansichten sind mehr eine Liebhaberei speculativer Forscher gewesen und nicht sowohl aus dem unmittelbaren pathologi- schen Bedürfnisse, als vielmehr aus physiologischen und philo- sophischen, selbst aus religiösen Speculationen hervorgegangen. Sie haben den Thatsachen Gewalt anthun müssen, sowohl in der Anatomie als in der Physiologie, und haben daher nie- mals eine ausgedehnte Verbreitung gefunden. Meiner Auffas- sung nach ist der Standpunkt beider Lehren ein unvollständi-
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[15/0037]
Die Cellularpathologie.
menten eine gewisse Unabhängigkeit der einzelnen Glieder
besteht, und dass diese Unabhängigkeit sich äussert, indem
unter gewissen äusseren oder inneren Einwirkungen das Ele-
ment nur innerhalb seiner Grenzen gewisse Veränderungen er-
fährt, ohne dass die nächsten Elemente dabei betheiligt zu sein
brauchen.
Das Angeführte wird zunächst genügen, um Ihnen zu zei-
gen, in welcher Weise ich es für nothwendig erachte, die pa-
thologischen Erfahrungen auf bekannte histologische Elemente
zurückzuführen, warum es mir nicht genügt z. B. von einer
Thätigkeit der Gefässe zu sprechen oder von einer Thätig-
keit der Nerven, sondern warum ich es für nothwendig er-
achte, neben Gefässen und Nerven die grosse Zahl von kleinen
Theilen ins Auge zu fassen, welche eigentlich die Hauptmasse
der Körpersubstanz ausmachen. Es genügt nicht, dass man,
wie es seit langer Zeit geschieht, die Muskeln als thätige
Elemente daraus ablöst; innerhalb des grossen Restes, der ge-
wöhnlich als eine träge Masse betrachtet wird, findet sich
noch eine ungeheure Zahl wirksamer Theile.
In der Entwicklung, welche die Medicin bis in die letzte
Zeit genommen hat, finden wir den Streit zwischen den humo-
ralen und solidaren Schulen der alten Zeit immer noch erhal-
ten. Die humoralen Schulen haben im Allgemeinen das
meiste Glück gehabt, weil sie die bequemste Erklärung und
in der That die plausibelste Deutung der Krankheitsvorgänge
gebracht haben. Man kann sagen, dass fast alle glücklichen
Praktiker und bedeutenden Kliniker mehr oder weniger humo-
ralpathologische Tendenzen gehabt haben; ja diese sind so
populär geworden, dass es jedem Einzelnen äusserst schwer
wird, sich aus ihnen zu befreien. Die solidarpathologischen
Ansichten sind mehr eine Liebhaberei speculativer Forscher
gewesen und nicht sowohl aus dem unmittelbaren pathologi-
schen Bedürfnisse, als vielmehr aus physiologischen und philo-
sophischen, selbst aus religiösen Speculationen hervorgegangen.
Sie haben den Thatsachen Gewalt anthun müssen, sowohl in
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mals eine ausgedehnte Verbreitung gefunden. Meiner Auffas-
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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/37>, abgerufen am 23.11.2024.
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