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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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bindlichkeit übernommen habe, der freien Wissenschaft auch den klein-
sten Theil der Aufrichtigkeit, die ihre Lebensluft ist, zu entwenden.
Wäre auch nicht in meiner eigenen Angelegenheit öffentlich und
mit Nachdruck ausgesprochen worden, daß jede philosophische An-
sicht auf der Hochschule das Recht freier Aeußerung genießen soll:
mir soll man nie nachsagen können, daß ich diesem unveräußerlichen
Rechte auch nur das Geringste vergebe. Wollen die Gegner dieses
Rechts gemäß einer bekannten Wendung, die sie ihrem Angriffe zu
geben belieben, die Reinheit der sittlichen Weltanschauung, welche
aus meiner wissenschaftlichen Grundansicht fließt, verkennen, meine
Sätze aus ihrem Zusammenhang reißen und verdrehen, will z. B.
die Augsb. Allg. Zeitung wieder Artikel aufnehmen, wie den gegen
Reiff, worin die vernünftig sittliche Anerkennung der Naturschranken
des Individuums, die das Nothwendige in ein Gewolltes und Freies
verwandelt, als Naturdienst denunzirt war: dagegen kann ich mein
Buch nicht durch die Vorrede schützen und ich mag auch die reine
Kühle der strengen Wissenschaft nicht durch Erörterung solcher Dinge
beflecken. Ich folge der Wahrheit; sie wird sich Bahn brechen.

Ich werde wohl auch den Vorwurf zu hören bekommen, daß
mein Werk eine Zusammenfügung fremder Gedanken sey; denn ich
stelle mich ganz auf die Schultern meiner Vorgänger und gewinne
meine Ergebnisse dadurch, daß ich jene bald miteinander streiten
lasse, bald selbst widerlege, ergänze, die Folge aus den Vordersätzen
ziehe, die sie mir hinterlassen haben. Wer aber den Gang des
Gedankens versteht oder verstehen will, der weiß, daß es leichter
ist, die Reihe von Gründen und Gegengründen, aus denen sich
die Wahrheit aufbaut, aus eigenen Mitteln unvollständig zu geben,
als sich zu erinnern, daß irgendwie Alles, was zu ihr führt, schon
von Andern gedacht ist, und Jeden an seinem Orte das sagen zu
lassen, was er wirklich beigetragen hat, die Wissenschaft bis dahin vor-
wärts zu bringen, wo sie der letzte Bearbeiter faßt und weiter bildet.

Die Natur ihres Gegenstands bringt es mit sich, daß der Aesthetik
Viele sich zuwenden, welche zwar allgemeinen Bescheid über das
Wesen des Schönen und die verschiedenen Zweige seines lebendigen

bindlichkeit übernommen habe, der freien Wiſſenſchaft auch den klein-
ſten Theil der Aufrichtigkeit, die ihre Lebensluft iſt, zu entwenden.
Wäre auch nicht in meiner eigenen Angelegenheit öffentlich und
mit Nachdruck ausgeſprochen worden, daß jede philoſophiſche An-
ſicht auf der Hochſchule das Recht freier Aeußerung genießen ſoll:
mir ſoll man nie nachſagen können, daß ich dieſem unveräußerlichen
Rechte auch nur das Geringſte vergebe. Wollen die Gegner dieſes
Rechts gemäß einer bekannten Wendung, die ſie ihrem Angriffe zu
geben belieben, die Reinheit der ſittlichen Weltanſchauung, welche
aus meiner wiſſenſchaftlichen Grundanſicht fließt, verkennen, meine
Sätze aus ihrem Zuſammenhang reißen und verdrehen, will z. B.
die Augsb. Allg. Zeitung wieder Artikel aufnehmen, wie den gegen
Reiff, worin die vernünftig ſittliche Anerkennung der Naturſchranken
des Individuums, die das Nothwendige in ein Gewolltes und Freies
verwandelt, als Naturdienſt denunzirt war: dagegen kann ich mein
Buch nicht durch die Vorrede ſchützen und ich mag auch die reine
Kühle der ſtrengen Wiſſenſchaft nicht durch Erörterung ſolcher Dinge
beflecken. Ich folge der Wahrheit; ſie wird ſich Bahn brechen.

Ich werde wohl auch den Vorwurf zu hören bekommen, daß
mein Werk eine Zuſammenfügung fremder Gedanken ſey; denn ich
ſtelle mich ganz auf die Schultern meiner Vorgänger und gewinne
meine Ergebniſſe dadurch, daß ich jene bald miteinander ſtreiten
laſſe, bald ſelbſt widerlege, ergänze, die Folge aus den Vorderſätzen
ziehe, die ſie mir hinterlaſſen haben. Wer aber den Gang des
Gedankens verſteht oder verſtehen will, der weiß, daß es leichter
iſt, die Reihe von Gründen und Gegengründen, aus denen ſich
die Wahrheit aufbaut, aus eigenen Mitteln unvollſtändig zu geben,
als ſich zu erinnern, daß irgendwie Alles, was zu ihr führt, ſchon
von Andern gedacht iſt, und Jeden an ſeinem Orte das ſagen zu
laſſen, was er wirklich beigetragen hat, die Wiſſenſchaft bis dahin vor-
wärts zu bringen, wo ſie der letzte Bearbeiter faßt und weiter bildet.

Die Natur ihres Gegenſtands bringt es mit ſich, daß der Aeſthetik
Viele ſich zuwenden, welche zwar allgemeinen Beſcheid über das
Weſen des Schönen und die verſchiedenen Zweige ſeines lebendigen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. IV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/10>, abgerufen am 03.12.2024.