von gleicher Schönheit sehr weit in ihren Verhältnissen von einander abgehen, als auch bei gleichen Verhältnissen sehr ungleich an Schönheit seyn. Eine nach den Verhältnissen streng gebildete Figur kann häßlich, eine von ihnen merklich abweichende kann schön und reizvoll seyn. Die männliche und die weibliche Gestalt weichen in den Proportionen weit von einander ab und doch sind beide der Schönheit fähig. Nicht die Größe und ihre Verhältnisse, sondern die Beschaffenheit (Qualität) ist die wirkende Ursache der Schönheit. Das wahre Gegentheil der Schönheit ist nicht Disproportion oder Ungestaltheit, sondern Häßlichkeit. Jene ist nicht der Schönheit, sondern der Voll- ständigkeit und der Richtigkeit der Form entgegengesetzt; ist sie hinweg- geräumt, so ist darum noch nicht Schönheit da. Schönheit ist eine positive Kraft, Verhältnißmäßigkeit der Theile nur ihre negative Bedingung. Ein Buckligter ist ungestalt, aber darum ein nicht Buckligter noch nicht schön. Bloses Maß läßt gleichgültig, beschäftigt nur den Verstand; die dunkle Empfindung des Schönen mißt gar nicht, hat nichts mit Rechnungs- kunst und Geometrie zu thun. -- Das Letzte ist nicht ganz richtig, ein Messen ist allerdings in dieser Empfindung, nur bewußtlos, und so, daß das Messen spielend ebensosehr aufgegeben wird. Die Proportion ist überhaupt zwar nicht die Schönheit; aber nicht ein Fremdes neben ihr, sondern ein Moment in ihr. -- Unter der Kategorie der Schick- lichkeit, d. h. in seinem Sprachgebrauch der Zweckmäßigkeit, entwickelt er nun (Abschn. 6. 7.) Gedanken, welche ganz schon auf Kant hinweisen: man braucht, um einen Gegenstand schön zu finden, den Zweck desselben vorher nicht zu kennen und der erkannte Zweck befriedigt blos den Ver- stand, die Imagination denkt nicht an die Zweckmäßigkeit des inneren Baus; diesen zerlegt die Anatomie, die dem ästhetischen Interesse gerade entgegen ist. Burke steht durch diese Entdeckung weit über seinen Lands- leuten, welche geradezu von der Schönheit einzelner Theile in ihrer inneren Zusammensetzung reden, wie denn z. B. selbst Hogarth die Wellenlinie ganz anatomisch bis in die Fasern und Knochen verfolgt, und Home (Elements of criticism. 1762 -- ein im ästhetischen Theile begriffloses Buch, das wir ebendarum nicht besonders aufführen) das Schöne so sehr mit dem Zweckmäßigen verwechselt, daß er eine Maschine zum Schönen zählt und ausdrücklich die Schönheit eines Ganzen als Zusammensetzung von Theilen ansieht, die jeder für sich schön sind. Wäre Burke auf dieser Spur weiter gegangen, so hätte er wichtigere Entdeckungen machen müssen und gewiß über die Vollkommenheit Tieferes gesagt, als er unter dieser
von gleicher Schönheit ſehr weit in ihren Verhältniſſen von einander abgehen, als auch bei gleichen Verhältniſſen ſehr ungleich an Schönheit ſeyn. Eine nach den Verhältniſſen ſtreng gebildete Figur kann häßlich, eine von ihnen merklich abweichende kann ſchön und reizvoll ſeyn. Die männliche und die weibliche Geſtalt weichen in den Proportionen weit von einander ab und doch ſind beide der Schönheit fähig. Nicht die Größe und ihre Verhältniſſe, ſondern die Beſchaffenheit (Qualität) iſt die wirkende Urſache der Schönheit. Das wahre Gegentheil der Schönheit iſt nicht Disproportion oder Ungeſtaltheit, ſondern Häßlichkeit. Jene iſt nicht der Schönheit, ſondern der Voll- ſtändigkeit und der Richtigkeit der Form entgegengeſetzt; iſt ſie hinweg- geräumt, ſo iſt darum noch nicht Schönheit da. Schönheit iſt eine poſitive Kraft, Verhältnißmäßigkeit der Theile nur ihre negative Bedingung. Ein Buckligter iſt ungeſtalt, aber darum ein nicht Buckligter noch nicht ſchön. Bloſes Maß läßt gleichgültig, beſchäftigt nur den Verſtand; die dunkle Empfindung des Schönen mißt gar nicht, hat nichts mit Rechnungs- kunſt und Geometrie zu thun. — Das Letzte iſt nicht ganz richtig, ein Meſſen iſt allerdings in dieſer Empfindung, nur bewußtlos, und ſo, daß das Meſſen ſpielend ebenſoſehr aufgegeben wird. Die Proportion iſt überhaupt zwar nicht die Schönheit; aber nicht ein Fremdes neben ihr, ſondern ein Moment in ihr. — Unter der Kategorie der Schick- lichkeit, d. h. in ſeinem Sprachgebrauch der Zweckmäßigkeit, entwickelt er nun (Abſchn. 6. 7.) Gedanken, welche ganz ſchon auf Kant hinweiſen: man braucht, um einen Gegenſtand ſchön zu finden, den Zweck desſelben vorher nicht zu kennen und der erkannte Zweck befriedigt blos den Ver- ſtand, die Imagination denkt nicht an die Zweckmäßigkeit des inneren Baus; dieſen zerlegt die Anatomie, die dem äſthetiſchen Intereſſe gerade entgegen iſt. Burke ſteht durch dieſe Entdeckung weit über ſeinen Lands- leuten, welche geradezu von der Schönheit einzelner Theile in ihrer inneren Zuſammenſetzung reden, wie denn z. B. ſelbſt Hogarth die Wellenlinie ganz anatomiſch bis in die Faſern und Knochen verfolgt, und Home (Elements of criticism. 1762 — ein im äſthetiſchen Theile begriffloſes Buch, das wir ebendarum nicht beſonders aufführen) das Schöne ſo ſehr mit dem Zweckmäßigen verwechſelt, daß er eine Maſchine zum Schönen zählt und ausdrücklich die Schönheit eines Ganzen als Zuſammenſetzung von Theilen anſieht, die jeder für ſich ſchön ſind. Wäre Burke auf dieſer Spur weiter gegangen, ſo hätte er wichtigere Entdeckungen machen müſſen und gewiß über die Vollkommenheit Tieferes geſagt, als er unter dieſer
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[106/0120]
von gleicher Schönheit ſehr weit in ihren Verhältniſſen von einander
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eine von ihnen merklich abweichende kann ſchön und reizvoll ſeyn. Die
männliche und die weibliche Geſtalt weichen in den Proportionen weit
von einander ab und doch ſind beide der Schönheit fähig. Nicht die
Größe und ihre Verhältniſſe, ſondern die Beſchaffenheit
(Qualität) iſt die wirkende Urſache der Schönheit. Das wahre
Gegentheil der Schönheit iſt nicht Disproportion oder Ungeſtaltheit,
ſondern Häßlichkeit. Jene iſt nicht der Schönheit, ſondern der Voll-
ſtändigkeit und der Richtigkeit der Form entgegengeſetzt; iſt ſie hinweg-
geräumt, ſo iſt darum noch nicht Schönheit da. Schönheit iſt eine poſitive
Kraft, Verhältnißmäßigkeit der Theile nur ihre negative Bedingung. Ein
Buckligter iſt ungeſtalt, aber darum ein nicht Buckligter noch nicht ſchön.
Bloſes Maß läßt gleichgültig, beſchäftigt nur den Verſtand; die dunkle
Empfindung des Schönen mißt gar nicht, hat nichts mit Rechnungs-
kunſt und Geometrie zu thun. — Das Letzte iſt nicht ganz richtig,
ein Meſſen iſt allerdings in dieſer Empfindung, nur bewußtlos, und ſo,
daß das Meſſen ſpielend ebenſoſehr aufgegeben wird. Die Proportion
iſt überhaupt zwar nicht die Schönheit; aber nicht ein Fremdes neben
ihr, ſondern ein Moment in ihr. — Unter der Kategorie der Schick-
lichkeit, d. h. in ſeinem Sprachgebrauch der Zweckmäßigkeit, entwickelt
er nun (Abſchn. 6. 7.) Gedanken, welche ganz ſchon auf Kant hinweiſen:
man braucht, um einen Gegenſtand ſchön zu finden, den Zweck desſelben
vorher nicht zu kennen und der erkannte Zweck befriedigt blos den Ver-
ſtand, die Imagination denkt nicht an die Zweckmäßigkeit des inneren
Baus; dieſen zerlegt die Anatomie, die dem äſthetiſchen Intereſſe gerade
entgegen iſt. Burke ſteht durch dieſe Entdeckung weit über ſeinen Lands-
leuten, welche geradezu von der Schönheit einzelner Theile in ihrer inneren
Zuſammenſetzung reden, wie denn z. B. ſelbſt Hogarth die Wellenlinie
ganz anatomiſch bis in die Faſern und Knochen verfolgt, und Home
(Elements of criticism. 1762 — ein im äſthetiſchen Theile begriffloſes
Buch, das wir ebendarum nicht beſonders aufführen) das Schöne ſo ſehr
mit dem Zweckmäßigen verwechſelt, daß er eine Maſchine zum Schönen
zählt und ausdrücklich die Schönheit eines Ganzen als Zuſammenſetzung
von Theilen anſieht, die jeder für ſich ſchön ſind. Wäre Burke auf dieſer
Spur weiter gegangen, ſo hätte er wichtigere Entdeckungen machen müſſen
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/120>, abgerufen am 23.11.2024.
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