Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Individuum fällt nicht neben und außer den Begriff seiner Gattung,
sondern dieser ist in ihm gegenwärtig eben als sich durchführender Zweck.
Das Individuum ist Verwirklichung der Gattung im Naturstoffe, dieser
erscheint nun nicht mehr als ein Fremdes gegen die geistige Allgemein-
heit der Gattung oder Idee, denn die Natur ist gebundener Geist und
der Geist zu sich gekommene, eine zweite Natur schaffende Natur. Die
Gattung selbst aber ist eine Idee, die ihren bestimmten Ort hat in
dem Kreise der Ideen, so daß mit ihr die absolute Idee selbst zum
Ausdrucke kommt. Von da aus nun fehlt blos noch der Schritt zum
Schönen, daß in diesem das Individuum nicht nur als Ausdruck, sondern
als mangellos reiner Ausdruck der Idee gefaßt werde; und so hat
Schelling wirklich das Schöne bestimmt. Der Terminus Vollkommen-
heit tritt wieder auf, allein jetzt ohne die Zweideutigkeit, die er in der
Wolffischen Schule hatte. Die Schönheit heißt im Bruno der äußere
Ausdruck der organischen Vollkommenheit. Vollkommenheit ist aber hier
nicht eine relative, eine Angemessenheit zu einem Zwecke außerhalb, sondern
Vollkommenheit an sich, größte Unabhängigkeit von Bedingungen. In
der Rede über das Verh. d. bild. Künste z. Natur ist der durchaus
herrschende Gedanke die Lebendigkeit der Natur. Keine Kunst und keine Kunst-
philosophie ist möglich, wo die Natur als ein Todtes vorschwebt. Das
thätig wirksame Band des Begriffs und der Form wird gesucht, die
Kraft, durch welche die Seele sammt dem Leib zumal und wie
mit Einem Hauche geschaffen wird
. Dieses Band liegt nicht erst
in der Kunst, sondern schon in der Natur; zu dem thätigen Prinzip in
der Natur muß die Kunst zurückgehen, wenn sie lernen will, wie die
Formen vom Begriff aus
erzeugt werden, auf die positive Kraft,
welche als schaffender Begriff den Theilen der Materie eine solche Lage
und Stellung gegeneinander gibt, durch welche er selbst als ihre wesent-
liche Einheit sichtbar werden kann. Dies thätige Prinzip kann nur Geist
seyn, denn alle Einheit ist geistiger Abkunft; die Natur ist werkthätige
Wissenschaft, eine Wissenschaft, worin der Begriff nicht von der That,
noch der Entwurf von der Ausführung verschieden ist. Jedem Ding
steht ein ewiger Begriff vor, der in dem unendlichen Verstande entworfen
ist, die Natur als schaffende Wissenschaft verkörpert ihn. Zu diesem
Kerne der Natur, zu diesem im Innern der Dinge wirksamen, durch
Form und Gestalt redenden Naturgeist muß der Künstler durchdringen,
und indem er ausscheidet, was ihn nicht darstellt, stellt er nur das
Nichtseyende als nichtseyend dar und bringt das in der Natur in der

Individuum fällt nicht neben und außer den Begriff ſeiner Gattung,
ſondern dieſer iſt in ihm gegenwärtig eben als ſich durchführender Zweck.
Das Individuum iſt Verwirklichung der Gattung im Naturſtoffe, dieſer
erſcheint nun nicht mehr als ein Fremdes gegen die geiſtige Allgemein-
heit der Gattung oder Idee, denn die Natur iſt gebundener Geiſt und
der Geiſt zu ſich gekommene, eine zweite Natur ſchaffende Natur. Die
Gattung ſelbſt aber iſt eine Idee, die ihren beſtimmten Ort hat in
dem Kreiſe der Ideen, ſo daß mit ihr die abſolute Idee ſelbſt zum
Ausdrucke kommt. Von da aus nun fehlt blos noch der Schritt zum
Schönen, daß in dieſem das Individuum nicht nur als Ausdruck, ſondern
als mangellos reiner Ausdruck der Idee gefaßt werde; und ſo hat
Schelling wirklich das Schöne beſtimmt. Der Terminus Vollkommen-
heit tritt wieder auf, allein jetzt ohne die Zweideutigkeit, die er in der
Wolffiſchen Schule hatte. Die Schönheit heißt im Bruno der äußere
Ausdruck der organiſchen Vollkommenheit. Vollkommenheit iſt aber hier
nicht eine relative, eine Angemeſſenheit zu einem Zwecke außerhalb, ſondern
Vollkommenheit an ſich, größte Unabhängigkeit von Bedingungen. In
der Rede über das Verh. d. bild. Künſte z. Natur iſt der durchaus
herrſchende Gedanke die Lebendigkeit der Natur. Keine Kunſt und keine Kunſt-
philoſophie iſt möglich, wo die Natur als ein Todtes vorſchwebt. Das
thätig wirkſame Band des Begriffs und der Form wird geſucht, die
Kraft, durch welche die Seele ſammt dem Leib zumal und wie
mit Einem Hauche geſchaffen wird
. Dieſes Band liegt nicht erſt
in der Kunſt, ſondern ſchon in der Natur; zu dem thätigen Prinzip in
der Natur muß die Kunſt zurückgehen, wenn ſie lernen will, wie die
Formen vom Begriff aus
erzeugt werden, auf die poſitive Kraft,
welche als ſchaffender Begriff den Theilen der Materie eine ſolche Lage
und Stellung gegeneinander gibt, durch welche er ſelbſt als ihre weſent-
liche Einheit ſichtbar werden kann. Dies thätige Prinzip kann nur Geiſt
ſeyn, denn alle Einheit iſt geiſtiger Abkunft; die Natur iſt werkthätige
Wiſſenſchaft, eine Wiſſenſchaft, worin der Begriff nicht von der That,
noch der Entwurf von der Ausführung verſchieden iſt. Jedem Ding
ſteht ein ewiger Begriff vor, der in dem unendlichen Verſtande entworfen
iſt, die Natur als ſchaffende Wiſſenſchaft verkörpert ihn. Zu dieſem
Kerne der Natur, zu dieſem im Innern der Dinge wirkſamen, durch
Form und Geſtalt redenden Naturgeiſt muß der Künſtler durchdringen,
und indem er ausſcheidet, was ihn nicht darſtellt, ſtellt er nur das
Nichtſeyende als nichtſeyend dar und bringt das in der Natur in der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p>
                <pb facs="#f0144" n="130"/> <hi rendition="#et">Individuum fällt nicht neben und außer den Begriff &#x017F;einer Gattung,<lb/>
&#x017F;ondern die&#x017F;er i&#x017F;t in ihm gegenwärtig eben als &#x017F;ich durchführender Zweck.<lb/>
Das Individuum i&#x017F;t Verwirklichung der Gattung im Natur&#x017F;toffe, die&#x017F;er<lb/>
er&#x017F;cheint nun nicht mehr als ein Fremdes gegen die gei&#x017F;tige Allgemein-<lb/>
heit der Gattung oder Idee, denn die Natur i&#x017F;t gebundener Gei&#x017F;t und<lb/>
der Gei&#x017F;t zu &#x017F;ich gekommene, eine zweite Natur &#x017F;chaffende Natur. Die<lb/>
Gattung &#x017F;elb&#x017F;t aber i&#x017F;t eine Idee, die ihren be&#x017F;timmten Ort hat in<lb/>
dem Krei&#x017F;e der Ideen, &#x017F;o daß mit ihr die ab&#x017F;olute Idee &#x017F;elb&#x017F;t zum<lb/>
Ausdrucke kommt. Von da aus nun fehlt blos noch der Schritt zum<lb/>
Schönen, daß in die&#x017F;em das Individuum nicht nur als Ausdruck, &#x017F;ondern<lb/>
als mangellos <hi rendition="#g">reiner</hi> Ausdruck der Idee gefaßt werde; und &#x017F;o hat<lb/><hi rendition="#g">Schelling</hi> wirklich das Schöne be&#x017F;timmt. Der Terminus Vollkommen-<lb/>
heit tritt wieder auf, allein jetzt ohne die Zweideutigkeit, die er in der<lb/><hi rendition="#g">Wolffi&#x017F;</hi>chen Schule hatte. Die Schönheit heißt im Bruno der äußere<lb/>
Ausdruck der organi&#x017F;chen Vollkommenheit. Vollkommenheit i&#x017F;t aber hier<lb/>
nicht eine relative, eine Angeme&#x017F;&#x017F;enheit zu einem Zwecke außerhalb, &#x017F;ondern<lb/>
Vollkommenheit an &#x017F;ich, größte Unabhängigkeit von Bedingungen. In<lb/>
der Rede über das Verh. d. bild. Kün&#x017F;te z. Natur i&#x017F;t der durchaus<lb/>
herr&#x017F;chende Gedanke die Lebendigkeit der Natur. Keine Kun&#x017F;t und keine Kun&#x017F;t-<lb/>
philo&#x017F;ophie i&#x017F;t möglich, wo die Natur als ein Todtes vor&#x017F;chwebt. Das<lb/>
thätig wirk&#x017F;ame Band des Begriffs und der Form wird ge&#x017F;ucht, die<lb/>
Kraft, durch welche <hi rendition="#g">die Seele &#x017F;ammt dem Leib zumal und wie<lb/>
mit Einem Hauche ge&#x017F;chaffen wird</hi>. Die&#x017F;es Band liegt nicht er&#x017F;t<lb/>
in der Kun&#x017F;t, &#x017F;ondern &#x017F;chon in der Natur; zu dem thätigen Prinzip in<lb/>
der Natur muß die Kun&#x017F;t zurückgehen, wenn &#x017F;ie lernen will, wie <hi rendition="#g">die<lb/>
Formen vom Begriff aus</hi> erzeugt werden, auf die po&#x017F;itive Kraft,<lb/>
welche als &#x017F;chaffender Begriff den Theilen der Materie eine &#x017F;olche Lage<lb/>
und Stellung gegeneinander gibt, durch welche er &#x017F;elb&#x017F;t als ihre we&#x017F;ent-<lb/>
liche Einheit &#x017F;ichtbar werden kann. Dies thätige Prinzip kann nur Gei&#x017F;t<lb/>
&#x017F;eyn, denn alle Einheit i&#x017F;t gei&#x017F;tiger Abkunft; die Natur i&#x017F;t werkthätige<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, eine Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, worin der Begriff nicht von der That,<lb/>
noch der Entwurf von der Ausführung ver&#x017F;chieden i&#x017F;t. Jedem Ding<lb/>
&#x017F;teht ein ewiger Begriff vor, der in dem unendlichen Ver&#x017F;tande entworfen<lb/>
i&#x017F;t, die Natur als &#x017F;chaffende Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft verkörpert ihn. Zu die&#x017F;em<lb/>
Kerne der Natur, zu die&#x017F;em im Innern der Dinge wirk&#x017F;amen, durch<lb/>
Form und Ge&#x017F;talt redenden Naturgei&#x017F;t muß der Kün&#x017F;tler durchdringen,<lb/>
und indem er aus&#x017F;cheidet, was ihn nicht dar&#x017F;tellt, &#x017F;tellt er nur das<lb/>
Nicht&#x017F;eyende als nicht&#x017F;eyend dar und bringt das in der Natur in der<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[130/0144] Individuum fällt nicht neben und außer den Begriff ſeiner Gattung, ſondern dieſer iſt in ihm gegenwärtig eben als ſich durchführender Zweck. Das Individuum iſt Verwirklichung der Gattung im Naturſtoffe, dieſer erſcheint nun nicht mehr als ein Fremdes gegen die geiſtige Allgemein- heit der Gattung oder Idee, denn die Natur iſt gebundener Geiſt und der Geiſt zu ſich gekommene, eine zweite Natur ſchaffende Natur. Die Gattung ſelbſt aber iſt eine Idee, die ihren beſtimmten Ort hat in dem Kreiſe der Ideen, ſo daß mit ihr die abſolute Idee ſelbſt zum Ausdrucke kommt. Von da aus nun fehlt blos noch der Schritt zum Schönen, daß in dieſem das Individuum nicht nur als Ausdruck, ſondern als mangellos reiner Ausdruck der Idee gefaßt werde; und ſo hat Schelling wirklich das Schöne beſtimmt. Der Terminus Vollkommen- heit tritt wieder auf, allein jetzt ohne die Zweideutigkeit, die er in der Wolffiſchen Schule hatte. Die Schönheit heißt im Bruno der äußere Ausdruck der organiſchen Vollkommenheit. Vollkommenheit iſt aber hier nicht eine relative, eine Angemeſſenheit zu einem Zwecke außerhalb, ſondern Vollkommenheit an ſich, größte Unabhängigkeit von Bedingungen. In der Rede über das Verh. d. bild. Künſte z. Natur iſt der durchaus herrſchende Gedanke die Lebendigkeit der Natur. Keine Kunſt und keine Kunſt- philoſophie iſt möglich, wo die Natur als ein Todtes vorſchwebt. Das thätig wirkſame Band des Begriffs und der Form wird geſucht, die Kraft, durch welche die Seele ſammt dem Leib zumal und wie mit Einem Hauche geſchaffen wird. Dieſes Band liegt nicht erſt in der Kunſt, ſondern ſchon in der Natur; zu dem thätigen Prinzip in der Natur muß die Kunſt zurückgehen, wenn ſie lernen will, wie die Formen vom Begriff aus erzeugt werden, auf die poſitive Kraft, welche als ſchaffender Begriff den Theilen der Materie eine ſolche Lage und Stellung gegeneinander gibt, durch welche er ſelbſt als ihre weſent- liche Einheit ſichtbar werden kann. Dies thätige Prinzip kann nur Geiſt ſeyn, denn alle Einheit iſt geiſtiger Abkunft; die Natur iſt werkthätige Wiſſenſchaft, eine Wiſſenſchaft, worin der Begriff nicht von der That, noch der Entwurf von der Ausführung verſchieden iſt. Jedem Ding ſteht ein ewiger Begriff vor, der in dem unendlichen Verſtande entworfen iſt, die Natur als ſchaffende Wiſſenſchaft verkörpert ihn. Zu dieſem Kerne der Natur, zu dieſem im Innern der Dinge wirkſamen, durch Form und Geſtalt redenden Naturgeiſt muß der Künſtler durchdringen, und indem er ausſcheidet, was ihn nicht darſtellt, ſtellt er nur das Nichtſeyende als nichtſeyend dar und bringt das in der Natur in der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/144
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/144>, abgerufen am 23.11.2024.