Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Was das Geschichtliche betrifft, so ist an seinem Orte die Forderung auf-
zustellen, daß der Künstler zeitgemäße Ideen behandle. Eine Idee kann
ihres Orts hoch stehen, aber eine Zeit nicht interessiren, wie z. B. Liebe
und Freundschaft jetzt das von höheren Fragen in Anspruch genommene
Gefühl der Zeit wenig beschäftigen. Dagegen können zeitgemäße Ideen
sittlicher Art darum zu mißrathen seyn, weil sie abgesehen von der Kunst
noch keine concrete Gestalt haben und daher zu den abstracten Begriffen
fallen, wie die politischen Ideen der Gegenwart. Aus diesem Allem wird
man hinreichend ersehen, daß es allerdings höchst nothwendig ist, der
Frage über die Kunst die Frage über den Inhalt (die sog. Stoffe) zu
Grund zu legen, wie wenig man immer verkennen mag, daß das Schöne
ein reines Formwesen ist. Zweitens bedeutet Stoff: die Idee, wie sie
irgend einmal, abgesehen von der Kunst, Form angenommen hat; der
Künstler findet diesen so weit schon geformten Stoff in der Erfahrung
vor und wählt ihn zur Umbildung in die reine Form: eine Begebenheit,
Sage u. s. w. In diesem Sinne wird der Begriff des Stoffs auftreten
im ersten Abschnitte des zweiten Theils unseres Systems. Drittens:
Stoff heißt das Materielle, was auszuscheiden ist, der rohe Stoff (§. 54).
Nach diesem als Solchem darf im Schönen natürlich gar nicht weiter
gefragt werden. Was nun die Form betrifft, so wird sich erst in der
Lehre von der Kunst zeigen, daß sie selbst eine äußere und eine innere
Seite hat; höchstens jene kann noch durch Schönheit täuschen, wenn
der Inhalt schlecht (unsittlich) ist, niemals diese: was Strauß gegen
Menzel treffend nachgewiesen hat (Streitschr. H. 1, S. 127).

3. Dies also ist die einzige Art, wie das Schöne als allgemeiner
Begriff zu bestimmen ist. Es mag hier eine Stelle aus Hegels Aesth.
Platz finden, welche zwar das Schöne schon als Ideal bestimmt, während
wir noch voraussetzen, daß der Schein, als finde es sich auch außer der
Ideal-schaffenden Thätigkeit vor, Grund haben könne: "Das Ideal setzt
seinen Fuß in die Sinnlichkeit und deren Naturgestalt hinein, doch zieht
ihn wie das Bereich des Aeußern zugleich zu sich zurück" (Th. 1, S. 201).

§. 56.

Wenn demnach das Wesen des Schönen reine Form und diese nichts
Anderes ist, als die allgemeine Harmonie der Idee mit der Wirklichkeit, aber
nicht in ihrer Allgemeinheit, sondern zur vollendeten Erscheinung heraustretend
im Einzelnen, so erhellt nunmehr der wesentliche Unterschied in der Einheit

Was das Geſchichtliche betrifft, ſo iſt an ſeinem Orte die Forderung auf-
zuſtellen, daß der Künſtler zeitgemäße Ideen behandle. Eine Idee kann
ihres Orts hoch ſtehen, aber eine Zeit nicht intereſſiren, wie z. B. Liebe
und Freundſchaft jetzt das von höheren Fragen in Anſpruch genommene
Gefühl der Zeit wenig beſchäftigen. Dagegen können zeitgemäße Ideen
ſittlicher Art darum zu mißrathen ſeyn, weil ſie abgeſehen von der Kunſt
noch keine concrete Geſtalt haben und daher zu den abſtracten Begriffen
fallen, wie die politiſchen Ideen der Gegenwart. Aus dieſem Allem wird
man hinreichend erſehen, daß es allerdings höchſt nothwendig iſt, der
Frage über die Kunſt die Frage über den Inhalt (die ſog. Stoffe) zu
Grund zu legen, wie wenig man immer verkennen mag, daß das Schöne
ein reines Formweſen iſt. Zweitens bedeutet Stoff: die Idee, wie ſie
irgend einmal, abgeſehen von der Kunſt, Form angenommen hat; der
Künſtler findet dieſen ſo weit ſchon geformten Stoff in der Erfahrung
vor und wählt ihn zur Umbildung in die reine Form: eine Begebenheit,
Sage u. ſ. w. In dieſem Sinne wird der Begriff des Stoffs auftreten
im erſten Abſchnitte des zweiten Theils unſeres Syſtems. Drittens:
Stoff heißt das Materielle, was auszuſcheiden iſt, der rohe Stoff (§. 54).
Nach dieſem als Solchem darf im Schönen natürlich gar nicht weiter
gefragt werden. Was nun die Form betrifft, ſo wird ſich erſt in der
Lehre von der Kunſt zeigen, daß ſie ſelbſt eine äußere und eine innere
Seite hat; höchſtens jene kann noch durch Schönheit täuſchen, wenn
der Inhalt ſchlecht (unſittlich) iſt, niemals dieſe: was Strauß gegen
Menzel treffend nachgewieſen hat (Streitſchr. H. 1, S. 127).

3. Dies alſo iſt die einzige Art, wie das Schöne als allgemeiner
Begriff zu beſtimmen iſt. Es mag hier eine Stelle aus Hegels Aeſth.
Platz finden, welche zwar das Schöne ſchon als Ideal beſtimmt, während
wir noch vorausſetzen, daß der Schein, als finde es ſich auch außer der
Ideal-ſchaffenden Thätigkeit vor, Grund haben könne: „Das Ideal ſetzt
ſeinen Fuß in die Sinnlichkeit und deren Naturgeſtalt hinein, doch zieht
ihn wie das Bereich des Aeußern zugleich zu ſich zurück“ (Th. 1, S. 201).

§. 56.

Wenn demnach das Weſen des Schönen reine Form und dieſe nichts
Anderes iſt, als die allgemeine Harmonie der Idee mit der Wirklichkeit, aber
nicht in ihrer Allgemeinheit, ſondern zur vollendeten Erſcheinung heraustretend
im Einzelnen, ſo erhellt nunmehr der weſentliche Unterſchied in der Einheit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0165" n="151"/>
Was das Ge&#x017F;chichtliche betrifft, &#x017F;o i&#x017F;t an &#x017F;einem Orte die Forderung auf-<lb/>
zu&#x017F;tellen, daß der Kün&#x017F;tler zeitgemäße Ideen behandle. Eine Idee kann<lb/>
ihres Orts hoch &#x017F;tehen, aber eine Zeit nicht intere&#x017F;&#x017F;iren, wie z. B. Liebe<lb/>
und Freund&#x017F;chaft jetzt das von höheren Fragen in An&#x017F;pruch genommene<lb/>
Gefühl der Zeit wenig be&#x017F;chäftigen. Dagegen können zeitgemäße Ideen<lb/>
&#x017F;ittlicher Art darum zu mißrathen &#x017F;eyn, weil &#x017F;ie abge&#x017F;ehen von der Kun&#x017F;t<lb/>
noch keine concrete Ge&#x017F;talt haben und <hi rendition="#g">daher</hi> zu den ab&#x017F;tracten Begriffen<lb/>
fallen, wie die politi&#x017F;chen Ideen der Gegenwart. Aus die&#x017F;em Allem wird<lb/>
man hinreichend er&#x017F;ehen, daß es allerdings höch&#x017F;t nothwendig i&#x017F;t, der<lb/>
Frage über die Kun&#x017F;t die Frage über den Inhalt (die &#x017F;og. Stoffe) zu<lb/>
Grund zu legen, wie wenig man immer verkennen mag, daß das Schöne<lb/>
ein reines Formwe&#x017F;en i&#x017F;t. <hi rendition="#g">Zweitens</hi> bedeutet Stoff: die Idee, wie &#x017F;ie<lb/>
irgend einmal, abge&#x017F;ehen von der Kun&#x017F;t, Form angenommen hat; der<lb/>
Kün&#x017F;tler findet die&#x017F;en &#x017F;o weit &#x017F;chon geformten Stoff in der Erfahrung<lb/>
vor und wählt ihn zur Umbildung in die <hi rendition="#g">reine Form</hi>: eine Begebenheit,<lb/>
Sage u. &#x017F;. w. In die&#x017F;em Sinne wird der Begriff des Stoffs auftreten<lb/>
im er&#x017F;ten Ab&#x017F;chnitte des zweiten Theils un&#x017F;eres Sy&#x017F;tems. <hi rendition="#g">Drittens</hi>:<lb/>
Stoff heißt das Materielle, was auszu&#x017F;cheiden i&#x017F;t, der rohe Stoff (§. 54).<lb/>
Nach die&#x017F;em als Solchem darf im Schönen natürlich gar nicht weiter<lb/>
gefragt werden. Was nun die Form betrifft, &#x017F;o wird &#x017F;ich er&#x017F;t in der<lb/>
Lehre von der Kun&#x017F;t zeigen, daß &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t eine äußere und eine innere<lb/>
Seite hat; höch&#x017F;tens jene kann noch durch Schönheit täu&#x017F;chen, wenn<lb/>
der Inhalt &#x017F;chlecht (un&#x017F;ittlich) i&#x017F;t, niemals die&#x017F;e: was <hi rendition="#g">Strauß</hi> gegen<lb/><hi rendition="#g">Menzel</hi> treffend nachgewie&#x017F;en hat (Streit&#x017F;chr. H. 1, S. 127).</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">3. Dies al&#x017F;o i&#x017F;t die einzige Art, wie das Schöne als allgemeiner<lb/>
Begriff zu be&#x017F;timmen i&#x017F;t. Es mag hier eine Stelle aus <hi rendition="#g">Hegels</hi> Ae&#x017F;th.<lb/>
Platz finden, welche zwar das Schöne &#x017F;chon als Ideal be&#x017F;timmt, während<lb/>
wir noch voraus&#x017F;etzen, daß der Schein, als finde es &#x017F;ich auch außer der<lb/>
Ideal-&#x017F;chaffenden Thätigkeit vor, Grund haben könne: &#x201E;Das Ideal &#x017F;etzt<lb/>
&#x017F;einen Fuß in die Sinnlichkeit und deren Naturge&#x017F;talt hinein, doch zieht<lb/>
ihn wie das Bereich des Aeußern zugleich zu &#x017F;ich zurück&#x201C; (Th. 1, S. 201).</hi> </p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 56.</head><lb/>
              <p> <hi rendition="#fr">Wenn demnach das We&#x017F;en des Schönen reine Form und die&#x017F;e nichts<lb/>
Anderes i&#x017F;t, als die allgemeine Harmonie der Idee mit der Wirklichkeit, aber<lb/>
nicht in ihrer Allgemeinheit, &#x017F;ondern zur vollendeten Er&#x017F;cheinung heraustretend<lb/>
im Einzelnen, &#x017F;o erhellt nunmehr der we&#x017F;entliche Unter&#x017F;chied in der Einheit<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[151/0165] Was das Geſchichtliche betrifft, ſo iſt an ſeinem Orte die Forderung auf- zuſtellen, daß der Künſtler zeitgemäße Ideen behandle. Eine Idee kann ihres Orts hoch ſtehen, aber eine Zeit nicht intereſſiren, wie z. B. Liebe und Freundſchaft jetzt das von höheren Fragen in Anſpruch genommene Gefühl der Zeit wenig beſchäftigen. Dagegen können zeitgemäße Ideen ſittlicher Art darum zu mißrathen ſeyn, weil ſie abgeſehen von der Kunſt noch keine concrete Geſtalt haben und daher zu den abſtracten Begriffen fallen, wie die politiſchen Ideen der Gegenwart. Aus dieſem Allem wird man hinreichend erſehen, daß es allerdings höchſt nothwendig iſt, der Frage über die Kunſt die Frage über den Inhalt (die ſog. Stoffe) zu Grund zu legen, wie wenig man immer verkennen mag, daß das Schöne ein reines Formweſen iſt. Zweitens bedeutet Stoff: die Idee, wie ſie irgend einmal, abgeſehen von der Kunſt, Form angenommen hat; der Künſtler findet dieſen ſo weit ſchon geformten Stoff in der Erfahrung vor und wählt ihn zur Umbildung in die reine Form: eine Begebenheit, Sage u. ſ. w. In dieſem Sinne wird der Begriff des Stoffs auftreten im erſten Abſchnitte des zweiten Theils unſeres Syſtems. Drittens: Stoff heißt das Materielle, was auszuſcheiden iſt, der rohe Stoff (§. 54). Nach dieſem als Solchem darf im Schönen natürlich gar nicht weiter gefragt werden. Was nun die Form betrifft, ſo wird ſich erſt in der Lehre von der Kunſt zeigen, daß ſie ſelbſt eine äußere und eine innere Seite hat; höchſtens jene kann noch durch Schönheit täuſchen, wenn der Inhalt ſchlecht (unſittlich) iſt, niemals dieſe: was Strauß gegen Menzel treffend nachgewieſen hat (Streitſchr. H. 1, S. 127). 3. Dies alſo iſt die einzige Art, wie das Schöne als allgemeiner Begriff zu beſtimmen iſt. Es mag hier eine Stelle aus Hegels Aeſth. Platz finden, welche zwar das Schöne ſchon als Ideal beſtimmt, während wir noch vorausſetzen, daß der Schein, als finde es ſich auch außer der Ideal-ſchaffenden Thätigkeit vor, Grund haben könne: „Das Ideal ſetzt ſeinen Fuß in die Sinnlichkeit und deren Naturgeſtalt hinein, doch zieht ihn wie das Bereich des Aeußern zugleich zu ſich zurück“ (Th. 1, S. 201). §. 56. Wenn demnach das Weſen des Schönen reine Form und dieſe nichts Anderes iſt, als die allgemeine Harmonie der Idee mit der Wirklichkeit, aber nicht in ihrer Allgemeinheit, ſondern zur vollendeten Erſcheinung heraustretend im Einzelnen, ſo erhellt nunmehr der weſentliche Unterſchied in der Einheit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/165
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/165>, abgerufen am 27.11.2024.