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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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§. 71.

Welche Organe der Sinnlichkeit hiebei betheiligt seyen, kann allerdings
nicht bestimmt werden, ohne daß gemäß der Bestimmung in §. 54 und 55 vor-
ausgesetzt wird, daß das Sinnliche in dem ganzen Acte nur ein Moment ist.
Ausgeschlossen nämlich sind diejenigen Sinne, welche durch unmittelbare Be-
rührung und Zersetzung den Gegenstand auf die blos sinnliche Lust und Unlust
beziehen: Tastsinn, Geruch und Geschmack. Dagegen dringen Gesicht und Gehör
als freie und ebensosehr geistige wie sinnliche Organe nicht auf die materielle
Zusammensetzung ein, sondern lassen den Gegenstand als Ganzes bestehen und
auf sich wirken; er wird als Object frei gegenübergestellt und dieser Gegensatz
frei aufgehoben. Daher sind nur diese Sinne zur Aufnahme des Schönen
berufen.

Der Tastsinn fordert unmittelbare Berührung, Hingleiten über die
Oberfläche mit den Fingerspitzen und so nimmt er Wärme und Kälte,
Glätte und Rauheit, Weichheit und Härte u. s. w. wahr. Ich kann so
allerdings über die ganze Gestalt hingleiten und mich ihrer Formen und
Wendungen versichern, allein ich bekomme nur eine nach der andern,
nicht das Ganze; die Wirkung bleibt also stoffartig, was gegen §. 54
und 55 ist. Das Zusammenfassen in Einem Act ist nur Sache des
Auges. Wenn der Blinde dennoch durch Tasten sich des Schönen als
reiner Form versichern könnte, so müßte, falls er blind geboren ist, ein
ahnendes inneres Sehen, falls nicht, eine Erinnerung des Sehens
angenommen werden. Weil aber das blose Tasten stoffartig aufnimmt,
so bezieht es den Gegenstand sogleich auf die Begierde. Allerdings ist
jedoch im Sehen der Tastsinn als ein vergeistigter mitgesetzt, denn wir
sehen nicht blos Licht und Farbe, sondern auch Form im engeren Sinn,
Art der Textur, selbst Ton der Wärme oder Kälte. Der Gesichtssinn
trägt den über sich selbst erhobenen Tastsinn in sich. Ungebildete be-
gnügen sich damit nicht, sondern setzen den Tastsinn in seiner ersten
Bedeutung aus dem Gesichtssinn heraus und befühlen Statuen und
Gemälde.

Der Geruch nimmt seine Stoffe auf, in die sich ein Körper ver-
flüchtigt; er ist also auf diesen als einen sich zersetzenden bezogen und so
ist auch er durchaus stoffartig, höchst apprehensiv, Neigung und Abneigung
rasch bewirkend, und besonders dient er dem Ernährungstriebe. Allerdings
hat er auch eine feinere Bedeutung; gewisse Wohlgerüche rufen Bilder

§. 71.

Welche Organe der Sinnlichkeit hiebei betheiligt ſeyen, kann allerdings
nicht beſtimmt werden, ohne daß gemäß der Beſtimmung in §. 54 und 55 vor-
ausgeſetzt wird, daß das Sinnliche in dem ganzen Acte nur ein Moment iſt.
Ausgeſchloſſen nämlich ſind diejenigen Sinne, welche durch unmittelbare Be-
rührung und Zerſetzung den Gegenſtand auf die blos ſinnliche Luſt und Unluſt
beziehen: Taſtſinn, Geruch und Geſchmack. Dagegen dringen Geſicht und Gehör
als freie und ebenſoſehr geiſtige wie ſinnliche Organe nicht auf die materielle
Zuſammenſetzung ein, ſondern laſſen den Gegenſtand als Ganzes beſtehen und
auf ſich wirken; er wird als Object frei gegenübergeſtellt und dieſer Gegenſatz
frei aufgehoben. Daher ſind nur dieſe Sinne zur Aufnahme des Schönen
berufen.

Der Taſtſinn fordert unmittelbare Berührung, Hingleiten über die
Oberfläche mit den Fingerſpitzen und ſo nimmt er Wärme und Kälte,
Glätte und Rauheit, Weichheit und Härte u. ſ. w. wahr. Ich kann ſo
allerdings über die ganze Geſtalt hingleiten und mich ihrer Formen und
Wendungen verſichern, allein ich bekomme nur eine nach der andern,
nicht das Ganze; die Wirkung bleibt alſo ſtoffartig, was gegen §. 54
und 55 iſt. Das Zuſammenfaſſen in Einem Act iſt nur Sache des
Auges. Wenn der Blinde dennoch durch Taſten ſich des Schönen als
reiner Form verſichern könnte, ſo müßte, falls er blind geboren iſt, ein
ahnendes inneres Sehen, falls nicht, eine Erinnerung des Sehens
angenommen werden. Weil aber das bloſe Taſten ſtoffartig aufnimmt,
ſo bezieht es den Gegenſtand ſogleich auf die Begierde. Allerdings iſt
jedoch im Sehen der Taſtſinn als ein vergeiſtigter mitgeſetzt, denn wir
ſehen nicht blos Licht und Farbe, ſondern auch Form im engeren Sinn,
Art der Textur, ſelbſt Ton der Wärme oder Kälte. Der Geſichtsſinn
trägt den über ſich ſelbſt erhobenen Taſtſinn in ſich. Ungebildete be-
gnügen ſich damit nicht, ſondern ſetzen den Taſtſinn in ſeiner erſten
Bedeutung aus dem Geſichtsſinn heraus und befühlen Statuen und
Gemälde.

Der Geruch nimmt ſeine Stoffe auf, in die ſich ein Körper ver-
flüchtigt; er iſt alſo auf dieſen als einen ſich zerſetzenden bezogen und ſo
iſt auch er durchaus ſtoffartig, höchſt apprehenſiv, Neigung und Abneigung
raſch bewirkend, und beſonders dient er dem Ernährungstriebe. Allerdings
hat er auch eine feinere Bedeutung; gewiſſe Wohlgerüche rufen Bilder

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[181/0195] §. 71. Welche Organe der Sinnlichkeit hiebei betheiligt ſeyen, kann allerdings nicht beſtimmt werden, ohne daß gemäß der Beſtimmung in §. 54 und 55 vor- ausgeſetzt wird, daß das Sinnliche in dem ganzen Acte nur ein Moment iſt. Ausgeſchloſſen nämlich ſind diejenigen Sinne, welche durch unmittelbare Be- rührung und Zerſetzung den Gegenſtand auf die blos ſinnliche Luſt und Unluſt beziehen: Taſtſinn, Geruch und Geſchmack. Dagegen dringen Geſicht und Gehör als freie und ebenſoſehr geiſtige wie ſinnliche Organe nicht auf die materielle Zuſammenſetzung ein, ſondern laſſen den Gegenſtand als Ganzes beſtehen und auf ſich wirken; er wird als Object frei gegenübergeſtellt und dieſer Gegenſatz frei aufgehoben. Daher ſind nur dieſe Sinne zur Aufnahme des Schönen berufen. Der Taſtſinn fordert unmittelbare Berührung, Hingleiten über die Oberfläche mit den Fingerſpitzen und ſo nimmt er Wärme und Kälte, Glätte und Rauheit, Weichheit und Härte u. ſ. w. wahr. Ich kann ſo allerdings über die ganze Geſtalt hingleiten und mich ihrer Formen und Wendungen verſichern, allein ich bekomme nur eine nach der andern, nicht das Ganze; die Wirkung bleibt alſo ſtoffartig, was gegen §. 54 und 55 iſt. Das Zuſammenfaſſen in Einem Act iſt nur Sache des Auges. Wenn der Blinde dennoch durch Taſten ſich des Schönen als reiner Form verſichern könnte, ſo müßte, falls er blind geboren iſt, ein ahnendes inneres Sehen, falls nicht, eine Erinnerung des Sehens angenommen werden. Weil aber das bloſe Taſten ſtoffartig aufnimmt, ſo bezieht es den Gegenſtand ſogleich auf die Begierde. Allerdings iſt jedoch im Sehen der Taſtſinn als ein vergeiſtigter mitgeſetzt, denn wir ſehen nicht blos Licht und Farbe, ſondern auch Form im engeren Sinn, Art der Textur, ſelbſt Ton der Wärme oder Kälte. Der Geſichtsſinn trägt den über ſich ſelbſt erhobenen Taſtſinn in ſich. Ungebildete be- gnügen ſich damit nicht, ſondern ſetzen den Taſtſinn in ſeiner erſten Bedeutung aus dem Geſichtsſinn heraus und befühlen Statuen und Gemälde. Der Geruch nimmt ſeine Stoffe auf, in die ſich ein Körper ver- flüchtigt; er iſt alſo auf dieſen als einen ſich zerſetzenden bezogen und ſo iſt auch er durchaus ſtoffartig, höchſt apprehenſiv, Neigung und Abneigung raſch bewirkend, und beſonders dient er dem Ernährungstriebe. Allerdings hat er auch eine feinere Bedeutung; gewiſſe Wohlgerüche rufen Bilder

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/195>, abgerufen am 27.11.2024.