Was sich im Raum ausschließt, hat als Begrenztes seine Grenze auch in1 sich selbst und ist daher dem Wechsel des Werdens und Vergehens unterworfen; die Zeit ist der Inbegriff dieses endlosen Verlaufs. In positiver Form tritt das Erhabene der Zeit auf, wenn eine Erscheinung die umgebenden Dinge so lange überdauert, daß der Zuschauer in ihr das Gefühl ihrer Endlichkeit mit dem Gefühle der unendlichen Zeit zusammenfaßt. Die Qualität des Gegenstands gibt diesem Gefühle verschiedene Bestimmtheit, die Grundlage aber bleibt das Zeitgefühl. Wird jedoch die Vorstellung in Beziehung auf ein einzelnes2 Lebendiges in dem Sinne wirklich vollzogen, daß es als unendlich gedacht wird, so sinkt das Erhabene entweder in das Ermüdende herunter oder es wird in das Schauderhafte gesteigert.
1. Es ist zum positiv Erhabenen der Zeit natürlich ein Gegenstand vorausgesetzt, welcher Spuren so langer Dauer an sich trägt, daß man die Zeittheile derselben und zugleich die Summe dessen, was an ihm vorüberging, zusammenzufassen ermüdet. Nunmehr scheint es, als habe der Gegenstand, obwohl geworden und vergänglich, die unendliche Zeit an sich zu bannen gewußt; Anfang und Ende verschwinden im Dunkel. Dabei ist es freilich nicht gleichgültig, was es für ein Gegenstand ist: ein uralter Baum, Thurm, Thier, Mensch. Es wird zwar auch dem Unbeseelten untergeschoben, als habe es dem Vielen, was an ihm vorüber- ging, zugesehen, aber anders ist natürlich das Gefühl, wo der Gegen- stand der Empfindung und des Denkens, daher des Erlebens wirklich fähig ist. Das Bestimmende bleibt jedoch immer jenes spezifische Gefühl der Zeit, das sich dem Gemüthe ankündigt, wie ein inneres Hören eines un- unterbrochenen summenden Rauschens. Es ist natürlich auch im Erhabenen des Raums nicht gleichgültig, was es für ein Gegenstand ist, das den Raum erfüllt, dort aber wurde dies nur unter der Anm. berührt, hier dagegen in den §. aufgenommen, weil es hier wichtiger wird, denn die Zeit ist schon eine Kategorie, in welcher das Leben als ein Vernehmen seiner selbst und der Welt sich bewegt, daher auch dem unbeseelten Gegen-
β. Das Erhabene der Zeit.
§. 93.
Was ſich im Raum ausſchließt, hat als Begrenztes ſeine Grenze auch in1 ſich ſelbſt und iſt daher dem Wechſel des Werdens und Vergehens unterworfen; die Zeit iſt der Inbegriff dieſes endloſen Verlaufs. In poſitiver Form tritt das Erhabene der Zeit auf, wenn eine Erſcheinung die umgebenden Dinge ſo lange überdauert, daß der Zuſchauer in ihr das Gefühl ihrer Endlichkeit mit dem Gefühle der unendlichen Zeit zuſammenfaßt. Die Qualität des Gegenſtands gibt dieſem Gefühle verſchiedene Beſtimmtheit, die Grundlage aber bleibt das Zeitgefühl. Wird jedoch die Vorſtellung in Beziehung auf ein einzelnes2 Lebendiges in dem Sinne wirklich vollzogen, daß es als unendlich gedacht wird, ſo ſinkt das Erhabene entweder in das Ermüdende herunter oder es wird in das Schauderhafte geſteigert.
1. Es iſt zum poſitiv Erhabenen der Zeit natürlich ein Gegenſtand vorausgeſetzt, welcher Spuren ſo langer Dauer an ſich trägt, daß man die Zeittheile derſelben und zugleich die Summe deſſen, was an ihm vorüberging, zuſammenzufaſſen ermüdet. Nunmehr ſcheint es, als habe der Gegenſtand, obwohl geworden und vergänglich, die unendliche Zeit an ſich zu bannen gewußt; Anfang und Ende verſchwinden im Dunkel. Dabei iſt es freilich nicht gleichgültig, was es für ein Gegenſtand iſt: ein uralter Baum, Thurm, Thier, Menſch. Es wird zwar auch dem Unbeſeelten untergeſchoben, als habe es dem Vielen, was an ihm vorüber- ging, zugeſehen, aber anders iſt natürlich das Gefühl, wo der Gegen- ſtand der Empfindung und des Denkens, daher des Erlebens wirklich fähig iſt. Das Beſtimmende bleibt jedoch immer jenes ſpezifiſche Gefühl der Zeit, das ſich dem Gemüthe ankündigt, wie ein inneres Hören eines un- unterbrochenen ſummenden Rauſchens. Es iſt natürlich auch im Erhabenen des Raums nicht gleichgültig, was es für ein Gegenſtand iſt, das den Raum erfüllt, dort aber wurde dies nur unter der Anm. berührt, hier dagegen in den §. aufgenommen, weil es hier wichtiger wird, denn die Zeit iſt ſchon eine Kategorie, in welcher das Leben als ein Vernehmen ſeiner ſelbſt und der Welt ſich bewegt, daher auch dem unbeſeelten Gegen-
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β.
Das Erhabene der Zeit.
§. 93.
Was ſich im Raum ausſchließt, hat als Begrenztes ſeine Grenze auch in
ſich ſelbſt und iſt daher dem Wechſel des Werdens und Vergehens unterworfen;
die Zeit iſt der Inbegriff dieſes endloſen Verlaufs. In poſitiver Form tritt das
Erhabene der Zeit auf, wenn eine Erſcheinung die umgebenden Dinge ſo lange
überdauert, daß der Zuſchauer in ihr das Gefühl ihrer Endlichkeit mit dem
Gefühle der unendlichen Zeit zuſammenfaßt. Die Qualität des Gegenſtands
gibt dieſem Gefühle verſchiedene Beſtimmtheit, die Grundlage aber bleibt das
Zeitgefühl. Wird jedoch die Vorſtellung in Beziehung auf ein einzelnes
Lebendiges in dem Sinne wirklich vollzogen, daß es als unendlich gedacht wird,
ſo ſinkt das Erhabene entweder in das Ermüdende herunter oder es wird in
das Schauderhafte geſteigert.
1. Es iſt zum poſitiv Erhabenen der Zeit natürlich ein Gegenſtand
vorausgeſetzt, welcher Spuren ſo langer Dauer an ſich trägt, daß man
die Zeittheile derſelben und zugleich die Summe deſſen, was an ihm
vorüberging, zuſammenzufaſſen ermüdet. Nunmehr ſcheint es, als habe
der Gegenſtand, obwohl geworden und vergänglich, die unendliche Zeit
an ſich zu bannen gewußt; Anfang und Ende verſchwinden im Dunkel.
Dabei iſt es freilich nicht gleichgültig, was es für ein Gegenſtand iſt:
ein uralter Baum, Thurm, Thier, Menſch. Es wird zwar auch dem
Unbeſeelten untergeſchoben, als habe es dem Vielen, was an ihm vorüber-
ging, zugeſehen, aber anders iſt natürlich das Gefühl, wo der Gegen-
ſtand der Empfindung und des Denkens, daher des Erlebens wirklich fähig
iſt. Das Beſtimmende bleibt jedoch immer jenes ſpezifiſche Gefühl der
Zeit, das ſich dem Gemüthe ankündigt, wie ein inneres Hören eines un-
unterbrochenen ſummenden Rauſchens. Es iſt natürlich auch im Erhabenen
des Raums nicht gleichgültig, was es für ein Gegenſtand iſt, das den
Raum erfüllt, dort aber wurde dies nur unter der Anm. berührt, hier
dagegen in den §. aufgenommen, weil es hier wichtiger wird, denn die
Zeit iſt ſchon eine Kategorie, in welcher das Leben als ein Vernehmen
ſeiner ſelbſt und der Welt ſich bewegt, daher auch dem unbeſeelten Gegen-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/253>, abgerufen am 27.11.2024.
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