2. Es könnte eingewandt werden, die Freiheit in der subjectiven Erscheinung, d. h. die Persönlichkeit sey schön, nicht erhaben (§. 19). Allein was ohne eintretende Vergleichung schön hieße, wird erhaben, wenn diese und der ihr zu Grund liegende Gegensatz zwischen den Ver- glichenen eintritt. Allerdings jedoch wird die Sphäre des Erhabenen immer solche Erscheinungen fordern, worin die Anmuth selbst, welche die sittliche Größe als reifste Frucht sich aneignet, im Zusammenhange der umgebenden Bedingungen als der Preis eines Kampfes, als Er- werbung der Freiheit erscheint. Die zwanglose Leichtigkeit der kampf- losen Anmuth fällt daneben in ihre beschränkte Sphäre vergl. §. 73.
a. Das Erhabene der Leidenschaft.
§. 105.
Diese Form des Erhabenen tritt, da das Subject erst werden soll, was es an sich ist, zunächst selbst wieder in der Form unmittelbarer Bestimmtheit oder als Kraft auf. Es ist nicht mehr blose Kraft, sondern aus der Inner- lichkeit des Subjects bewegte Kraft oder Kraft mit Bewußtseyn, jedoch so, daß von dem Gehalte dieses Bewußtseyns abgesehen wird und blos die Gewalt der Bewegung, worin das Unmittelbare und das mit Bewußtseyn Gewollte in- einander verschwindet, den ästhetischen Eindruck bestimmt: die Bewegung der Leidenschaft. Sie gleicht dem Erhabenen der Kraft auch darin, daß sie wesent- lich furchtbar ist und daß die Quantität im Sinne der Vielheit von Subjecten, das Gewicht der Masse in ihr von großer Bedeutung ist.
Das Erhabene des Subjects verliert die früher betrachteten Formen nicht, sondern nimmt sie in sich auf und wälzt sie als einen Strom, den es nun von geistigem Mittelpunkte in Bewegung setzt, mit sich fort. Zuerst erscheint es selbst wieder in unmittelbarer Form als Naturkraft, als Leidenschaft. Diese ist vom Pathos wohl zu unterscheiden, das erst im Verlaufe auftreten wird. Pathos ist Leidenschaft für einen sittlichen Zweck, in der Leidenschaft kann der Zweck sittlich oder unsittlich seyn, es kommt zwar in Betracht, daß es ein geistig Innerliches ist, was Nerven, Blut und alle Organe in feurige Bewegung setzt, aber jenes verschwindet unterschiedslos als blinde Kraft in diesem Tumulte; z. B.
Vischer's Aesthetik. 1. Bd. 17
2. Es könnte eingewandt werden, die Freiheit in der ſubjectiven Erſcheinung, d. h. die Perſönlichkeit ſey ſchön, nicht erhaben (§. 19). Allein was ohne eintretende Vergleichung ſchön hieße, wird erhaben, wenn dieſe und der ihr zu Grund liegende Gegenſatz zwiſchen den Ver- glichenen eintritt. Allerdings jedoch wird die Sphäre des Erhabenen immer ſolche Erſcheinungen fordern, worin die Anmuth ſelbſt, welche die ſittliche Größe als reifſte Frucht ſich aneignet, im Zuſammenhange der umgebenden Bedingungen als der Preis eines Kampfes, als Er- werbung der Freiheit erſcheint. Die zwangloſe Leichtigkeit der kampf- loſen Anmuth fällt daneben in ihre beſchränkte Sphäre vergl. §. 73.
α. Das Erhabene der Leidenſchaft.
§. 105.
Dieſe Form des Erhabenen tritt, da das Subject erſt werden ſoll, was es an ſich iſt, zunächſt ſelbſt wieder in der Form unmittelbarer Beſtimmtheit oder als Kraft auf. Es iſt nicht mehr bloſe Kraft, ſondern aus der Inner- lichkeit des Subjects bewegte Kraft oder Kraft mit Bewußtſeyn, jedoch ſo, daß von dem Gehalte dieſes Bewußtſeyns abgeſehen wird und blos die Gewalt der Bewegung, worin das Unmittelbare und das mit Bewußtſeyn Gewollte in- einander verſchwindet, den äſthetiſchen Eindruck beſtimmt: die Bewegung der Leidenſchaft. Sie gleicht dem Erhabenen der Kraft auch darin, daß ſie weſent- lich furchtbar iſt und daß die Quantität im Sinne der Vielheit von Subjecten, das Gewicht der Maſſe in ihr von großer Bedeutung iſt.
Das Erhabene des Subjects verliert die früher betrachteten Formen nicht, ſondern nimmt ſie in ſich auf und wälzt ſie als einen Strom, den es nun von geiſtigem Mittelpunkte in Bewegung ſetzt, mit ſich fort. Zuerſt erſcheint es ſelbſt wieder in unmittelbarer Form als Naturkraft, als Leidenſchaft. Dieſe iſt vom Pathos wohl zu unterſcheiden, das erſt im Verlaufe auftreten wird. Pathos iſt Leidenſchaft für einen ſittlichen Zweck, in der Leidenſchaft kann der Zweck ſittlich oder unſittlich ſeyn, es kommt zwar in Betracht, daß es ein geiſtig Innerliches iſt, was Nerven, Blut und alle Organe in feurige Bewegung ſetzt, aber jenes verſchwindet unterſchiedslos als blinde Kraft in dieſem Tumulte; z. B.
Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 17
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2. Es könnte eingewandt werden, die Freiheit in der ſubjectiven
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Allein was ohne eintretende Vergleichung ſchön hieße, wird erhaben,
wenn dieſe und der ihr zu Grund liegende Gegenſatz zwiſchen den Ver-
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immer ſolche Erſcheinungen fordern, worin die Anmuth ſelbſt, welche
die ſittliche Größe als reifſte Frucht ſich aneignet, im Zuſammenhange
der umgebenden Bedingungen als der Preis eines Kampfes, als Er-
werbung der Freiheit erſcheint. Die zwangloſe Leichtigkeit der kampf-
loſen Anmuth fällt daneben in ihre beſchränkte Sphäre vergl. §. 73.
α.
Das Erhabene der Leidenſchaft.
§. 105.
Dieſe Form des Erhabenen tritt, da das Subject erſt werden ſoll, was
es an ſich iſt, zunächſt ſelbſt wieder in der Form unmittelbarer Beſtimmtheit
oder als Kraft auf. Es iſt nicht mehr bloſe Kraft, ſondern aus der Inner-
lichkeit des Subjects bewegte Kraft oder Kraft mit Bewußtſeyn, jedoch ſo,
daß von dem Gehalte dieſes Bewußtſeyns abgeſehen wird und blos die Gewalt
der Bewegung, worin das Unmittelbare und das mit Bewußtſeyn Gewollte in-
einander verſchwindet, den äſthetiſchen Eindruck beſtimmt: die Bewegung der
Leidenſchaft. Sie gleicht dem Erhabenen der Kraft auch darin, daß ſie weſent-
lich furchtbar iſt und daß die Quantität im Sinne der Vielheit von Subjecten,
das Gewicht der Maſſe in ihr von großer Bedeutung iſt.
Das Erhabene des Subjects verliert die früher betrachteten Formen
nicht, ſondern nimmt ſie in ſich auf und wälzt ſie als einen Strom,
den es nun von geiſtigem Mittelpunkte in Bewegung ſetzt, mit ſich fort.
Zuerſt erſcheint es ſelbſt wieder in unmittelbarer Form als Naturkraft,
als Leidenſchaft. Dieſe iſt vom Pathos wohl zu unterſcheiden, das erſt
im Verlaufe auftreten wird. Pathos iſt Leidenſchaft für einen ſittlichen
Zweck, in der Leidenſchaft kann der Zweck ſittlich oder unſittlich ſeyn,
es kommt zwar in Betracht, daß es ein geiſtig Innerliches iſt, was
Nerven, Blut und alle Organe in feurige Bewegung ſetzt, aber jenes
verſchwindet unterſchiedslos als blinde Kraft in dieſem Tumulte; z. B.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/271>, abgerufen am 25.11.2024.
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