Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

des Bösen und durch die Kraft der Vielheit erstarkt; Richmond selbst
hat persönlich ungleich weniger Bedeutung als Richard. Richard
wird durch die positive Fülle seiner Kräfte, welche doch rein negativ
wirkt, dämonisch in dem Sinne, wie Göthe den Ausdruck gebraucht
(Eckermann II, 298). Durch dieses Wort läßt sich hier die Unend-
lichkeit im Erhabenen bezeichnen. Die böse Kraft nämlich wächst für
den Anblick über das Maß der individuellen Kraft, an das sie doch
gebunden ist, in's Unbegrenzte hinaus, was bei Richard insbesondere
dadurch bewirkt wird, daß der wunderbare Geist des Dichters ihn ganz
zu dem Gefäße einer lang angesammelten, weit über den Einzelnen hin-
ausreichenden, geschichtlichen Nothwendigkeit macht. Er hört fast auf,
ein Mensch zu seyn, er ist ein Geist. Wenn aber dem sittlich Wollenden
die Bewunderung in die unbegrenzte Höhe folgt, um sich hier mit der
Menschheit in ihm wiederzufinden, so steht der Böse in dieser Ferne
einsam. "Ich bin ich selbst allein". Durch diese Einsamkeit ist das Böse
nur um so erhabener, denn es gehört eine unendliche Stärke des Willens
dazu, sie auszuhalten. Der Böse hat nicht nur die Guten, sondern
auch die Bösen gegen sich. Es gibt wohl auch einen Bund der Bösen,
aber ohne Zusammenhalt, er hebt sich von selbst auf. Wo man bei
unverkennbar bösem Wirken geschlossene Verbindung findet, wie bei den
Gesellschaften, die sich als Stützen verfallender Religionsformen bilden,
Jesuiten und Pietisten, da ist die Grundlage nicht Böses, das als
solches gewollt wird, sondern Selbsttäuschung des Fanatismus, der den
hartnäckigsten Bund mit sich bringt, und von dieser Grundlage erst geht
das verführte Herz zum eigentlich Bösen fort. Der große Bösewicht
aber unterliegt der Täuschung, einen Bund der Bösen errichten zu wollen,
gar nicht. Trotz dieser gespenstischen Einsamkeit muß jedoch das Böse
ganz real erscheinen, sinnlicher Muth und Gewalt darf nicht fehlen und
Shakespeare hat seinem Richard diese grobe Unterlage zu geben nicht
versäumt. Die ganze Feinheit der List und einer falschen Metaphysik,
die Umkehrung der Wahrheit zu beschönigen, muß sich auf dieser Basis
entwickeln. Das Böse ist nicht Sinnlichkeit, sondern sublimirte, zur
Maxime erhobene Sinnlichkeit; daher muß die Kraft der Sinnlichkeit da-
seyn, aber ebensosehr immer in diese Abstraction verflüchtigt werden.
Der Böse hat die Willenskraft, den einzelnen sinnlichen Zwecken entsagen
zu können, wie die höchste Tugend, während doch der letzte Zweck das
empirische Ich ist, das absolut herrschen will. Herrschen ist dieses
sinnlich Unsinnliche, was der Böse will. -- Weitere Bestimmtheit

des Böſen und durch die Kraft der Vielheit erſtarkt; Richmond ſelbſt
hat perſönlich ungleich weniger Bedeutung als Richard. Richard
wird durch die poſitive Fülle ſeiner Kräfte, welche doch rein negativ
wirkt, dämoniſch in dem Sinne, wie Göthe den Ausdruck gebraucht
(Eckermann II, 298). Durch dieſes Wort läßt ſich hier die Unend-
lichkeit im Erhabenen bezeichnen. Die böſe Kraft nämlich wächst für
den Anblick über das Maß der individuellen Kraft, an das ſie doch
gebunden iſt, in’s Unbegrenzte hinaus, was bei Richard insbeſondere
dadurch bewirkt wird, daß der wunderbare Geiſt des Dichters ihn ganz
zu dem Gefäße einer lang angeſammelten, weit über den Einzelnen hin-
ausreichenden, geſchichtlichen Nothwendigkeit macht. Er hört faſt auf,
ein Menſch zu ſeyn, er iſt ein Geiſt. Wenn aber dem ſittlich Wollenden
die Bewunderung in die unbegrenzte Höhe folgt, um ſich hier mit der
Menſchheit in ihm wiederzufinden, ſo ſteht der Böſe in dieſer Ferne
einſam. „Ich bin ich ſelbſt allein“. Durch dieſe Einſamkeit iſt das Böſe
nur um ſo erhabener, denn es gehört eine unendliche Stärke des Willens
dazu, ſie auszuhalten. Der Böſe hat nicht nur die Guten, ſondern
auch die Böſen gegen ſich. Es gibt wohl auch einen Bund der Böſen,
aber ohne Zuſammenhalt, er hebt ſich von ſelbſt auf. Wo man bei
unverkennbar böſem Wirken geſchloſſene Verbindung findet, wie bei den
Geſellſchaften, die ſich als Stützen verfallender Religionsformen bilden,
Jeſuiten und Pietiſten, da iſt die Grundlage nicht Böſes, das als
ſolches gewollt wird, ſondern Selbſttäuſchung des Fanatismus, der den
hartnäckigſten Bund mit ſich bringt, und von dieſer Grundlage erſt geht
das verführte Herz zum eigentlich Böſen fort. Der große Böſewicht
aber unterliegt der Täuſchung, einen Bund der Böſen errichten zu wollen,
gar nicht. Trotz dieſer geſpenſtiſchen Einſamkeit muß jedoch das Böſe
ganz real erſcheinen, ſinnlicher Muth und Gewalt darf nicht fehlen und
Shakespeare hat ſeinem Richard dieſe grobe Unterlage zu geben nicht
verſäumt. Die ganze Feinheit der Liſt und einer falſchen Metaphyſik,
die Umkehrung der Wahrheit zu beſchönigen, muß ſich auf dieſer Baſis
entwickeln. Das Böſe iſt nicht Sinnlichkeit, ſondern ſublimirte, zur
Maxime erhobene Sinnlichkeit; daher muß die Kraft der Sinnlichkeit da-
ſeyn, aber ebenſoſehr immer in dieſe Abſtraction verflüchtigt werden.
Der Böſe hat die Willenskraft, den einzelnen ſinnlichen Zwecken entſagen
zu können, wie die höchſte Tugend, während doch der letzte Zweck das
empiriſche Ich iſt, das abſolut herrſchen will. Herrſchen iſt dieſes
ſinnlich Unſinnliche, was der Böſe will. — Weitere Beſtimmtheit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0275" n="261"/>
des Bö&#x017F;en und durch die Kraft der Vielheit er&#x017F;tarkt; <hi rendition="#g">Richmond</hi> &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
hat per&#x017F;önlich ungleich weniger Bedeutung als <hi rendition="#g">Richard. Richard</hi><lb/>
wird durch die po&#x017F;itive Fülle &#x017F;einer Kräfte, welche doch rein negativ<lb/>
wirkt, dämoni&#x017F;ch in dem Sinne, wie <hi rendition="#g">Göthe</hi> den Ausdruck gebraucht<lb/>
(<hi rendition="#g">Eckermann</hi> <hi rendition="#aq">II,</hi> 298). Durch die&#x017F;es Wort läßt &#x017F;ich hier die Unend-<lb/>
lichkeit im Erhabenen bezeichnen. Die bö&#x017F;e Kraft nämlich wächst für<lb/>
den Anblick über das Maß der individuellen Kraft, an das &#x017F;ie doch<lb/>
gebunden i&#x017F;t, in&#x2019;s Unbegrenzte hinaus, was bei <hi rendition="#g">Richard</hi> insbe&#x017F;ondere<lb/>
dadurch bewirkt wird, daß der wunderbare Gei&#x017F;t des Dichters ihn ganz<lb/>
zu dem Gefäße einer lang ange&#x017F;ammelten, weit über den Einzelnen hin-<lb/>
ausreichenden, ge&#x017F;chichtlichen Nothwendigkeit macht. Er hört fa&#x017F;t auf,<lb/>
ein Men&#x017F;ch zu &#x017F;eyn, er i&#x017F;t ein Gei&#x017F;t. Wenn aber dem &#x017F;ittlich Wollenden<lb/>
die Bewunderung in die unbegrenzte Höhe folgt, um &#x017F;ich hier mit der<lb/>
Men&#x017F;chheit in ihm wiederzufinden, &#x017F;o &#x017F;teht der Bö&#x017F;e in die&#x017F;er Ferne<lb/>
ein&#x017F;am. &#x201E;Ich bin ich &#x017F;elb&#x017F;t allein&#x201C;. Durch die&#x017F;e Ein&#x017F;amkeit i&#x017F;t das Bö&#x017F;e<lb/>
nur um &#x017F;o erhabener, denn es gehört eine unendliche Stärke des Willens<lb/>
dazu, &#x017F;ie auszuhalten. Der Bö&#x017F;e hat nicht nur die Guten, &#x017F;ondern<lb/>
auch die Bö&#x017F;en gegen &#x017F;ich. Es gibt wohl auch einen Bund der Bö&#x017F;en,<lb/>
aber ohne Zu&#x017F;ammenhalt, er hebt &#x017F;ich von &#x017F;elb&#x017F;t auf. Wo man bei<lb/>
unverkennbar bö&#x017F;em Wirken ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ene Verbindung findet, wie bei den<lb/>
Ge&#x017F;ell&#x017F;chaften, die &#x017F;ich als Stützen verfallender Religionsformen bilden,<lb/>
Je&#x017F;uiten und Pieti&#x017F;ten, da i&#x017F;t die Grundlage nicht Bö&#x017F;es, das als<lb/>
&#x017F;olches gewollt wird, &#x017F;ondern Selb&#x017F;ttäu&#x017F;chung des Fanatismus, der den<lb/>
hartnäckig&#x017F;ten Bund mit &#x017F;ich bringt, und von die&#x017F;er Grundlage er&#x017F;t geht<lb/>
das verführte Herz zum eigentlich Bö&#x017F;en fort. Der große Bö&#x017F;ewicht<lb/>
aber unterliegt der Täu&#x017F;chung, einen Bund der Bö&#x017F;en errichten zu wollen,<lb/>
gar nicht. Trotz die&#x017F;er ge&#x017F;pen&#x017F;ti&#x017F;chen Ein&#x017F;amkeit muß jedoch das Bö&#x017F;e<lb/>
ganz real er&#x017F;cheinen, &#x017F;innlicher Muth und Gewalt darf nicht fehlen und<lb/><hi rendition="#g">Shakespeare</hi> hat &#x017F;einem <hi rendition="#g">Richard</hi> die&#x017F;e grobe Unterlage zu geben nicht<lb/>
ver&#x017F;äumt. Die ganze Feinheit der Li&#x017F;t und einer fal&#x017F;chen Metaphy&#x017F;ik,<lb/>
die Umkehrung der Wahrheit zu be&#x017F;chönigen, muß &#x017F;ich auf die&#x017F;er Ba&#x017F;is<lb/>
entwickeln. Das Bö&#x017F;e i&#x017F;t nicht Sinnlichkeit, &#x017F;ondern &#x017F;ublimirte, zur<lb/>
Maxime erhobene Sinnlichkeit; daher muß die Kraft der Sinnlichkeit da-<lb/>
&#x017F;eyn, aber eben&#x017F;o&#x017F;ehr immer in die&#x017F;e Ab&#x017F;traction verflüchtigt werden.<lb/>
Der Bö&#x017F;e hat die Willenskraft, den einzelnen &#x017F;innlichen Zwecken ent&#x017F;agen<lb/>
zu können, wie die höch&#x017F;te Tugend, während doch der letzte Zweck das<lb/>
empiri&#x017F;che Ich i&#x017F;t, das ab&#x017F;olut herr&#x017F;chen will. Herr&#x017F;chen i&#x017F;t die&#x017F;es<lb/>
&#x017F;innlich Un&#x017F;innliche, was der Bö&#x017F;e will. &#x2014; Weitere Be&#x017F;timmtheit<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[261/0275] des Böſen und durch die Kraft der Vielheit erſtarkt; Richmond ſelbſt hat perſönlich ungleich weniger Bedeutung als Richard. Richard wird durch die poſitive Fülle ſeiner Kräfte, welche doch rein negativ wirkt, dämoniſch in dem Sinne, wie Göthe den Ausdruck gebraucht (Eckermann II, 298). Durch dieſes Wort läßt ſich hier die Unend- lichkeit im Erhabenen bezeichnen. Die böſe Kraft nämlich wächst für den Anblick über das Maß der individuellen Kraft, an das ſie doch gebunden iſt, in’s Unbegrenzte hinaus, was bei Richard insbeſondere dadurch bewirkt wird, daß der wunderbare Geiſt des Dichters ihn ganz zu dem Gefäße einer lang angeſammelten, weit über den Einzelnen hin- ausreichenden, geſchichtlichen Nothwendigkeit macht. Er hört faſt auf, ein Menſch zu ſeyn, er iſt ein Geiſt. Wenn aber dem ſittlich Wollenden die Bewunderung in die unbegrenzte Höhe folgt, um ſich hier mit der Menſchheit in ihm wiederzufinden, ſo ſteht der Böſe in dieſer Ferne einſam. „Ich bin ich ſelbſt allein“. Durch dieſe Einſamkeit iſt das Böſe nur um ſo erhabener, denn es gehört eine unendliche Stärke des Willens dazu, ſie auszuhalten. Der Böſe hat nicht nur die Guten, ſondern auch die Böſen gegen ſich. Es gibt wohl auch einen Bund der Böſen, aber ohne Zuſammenhalt, er hebt ſich von ſelbſt auf. Wo man bei unverkennbar böſem Wirken geſchloſſene Verbindung findet, wie bei den Geſellſchaften, die ſich als Stützen verfallender Religionsformen bilden, Jeſuiten und Pietiſten, da iſt die Grundlage nicht Böſes, das als ſolches gewollt wird, ſondern Selbſttäuſchung des Fanatismus, der den hartnäckigſten Bund mit ſich bringt, und von dieſer Grundlage erſt geht das verführte Herz zum eigentlich Böſen fort. Der große Böſewicht aber unterliegt der Täuſchung, einen Bund der Böſen errichten zu wollen, gar nicht. Trotz dieſer geſpenſtiſchen Einſamkeit muß jedoch das Böſe ganz real erſcheinen, ſinnlicher Muth und Gewalt darf nicht fehlen und Shakespeare hat ſeinem Richard dieſe grobe Unterlage zu geben nicht verſäumt. Die ganze Feinheit der Liſt und einer falſchen Metaphyſik, die Umkehrung der Wahrheit zu beſchönigen, muß ſich auf dieſer Baſis entwickeln. Das Böſe iſt nicht Sinnlichkeit, ſondern ſublimirte, zur Maxime erhobene Sinnlichkeit; daher muß die Kraft der Sinnlichkeit da- ſeyn, aber ebenſoſehr immer in dieſe Abſtraction verflüchtigt werden. Der Böſe hat die Willenskraft, den einzelnen ſinnlichen Zwecken entſagen zu können, wie die höchſte Tugend, während doch der letzte Zweck das empiriſche Ich iſt, das abſolut herrſchen will. Herrſchen iſt dieſes ſinnlich Unſinnliche, was der Böſe will. — Weitere Beſtimmtheit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/275
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/275>, abgerufen am 25.11.2024.