Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

druck der Unendlichkeit noch nicht die Anschauung eines in die Kraft selbst
durch die Negation der Besinnung eintretenden Bruches in sich schloß, so hat
dagegen das Pathos als wirklich geistige Macht die Negation in sich, wodurch
es sich mit Bewußtseyn seinem Ausbruch entgegensetzen und über ihn stellen
kann. Hieraus geht nun die wirklich negative und ungleich stärkere Form des
sittlich Erhabenen hervor.

Um die starke Wirkung der ruhig drohenden Kraft sich zu vergegen-
wärtigen, denke man z. B. an Volker und Hagen in der 29ten Aventiure
des Nibelungenlieds. Die Stille vor einer Schlacht gehört hieher, sofern
nun der Krieg als Kampf um sittliche Güter betrachtet wird. Daß das
Pathos die Negation der Entgegensetzung in sich trägt, bedarf keines Be-
weises, denn es ist eine selbstbewußte Kraft. Es gibt auch höhere Er-
scheinungen drohender besonnener Kraft, als jene der Nibelungenhelden,
wozu die Beispiele sich leicht darbieten. Der ganzen, nun eintretenden
Sphäre des negativ Pathetischen kann man das bekannte Wort des Seneca
vorsetzen: Ecce spectaculum dignum, ad quod respiciat intentus operi
suo Deus: vir fortis cum mala fortuna compositus.

§. 112.

Diese negative Form setzt zunächst eine noch höhere Erscheinung des
sittlichen Willens voraus, wodurch die, wie es schien, größtmögliche sittliche
Stärke selbst besiegt wird. Allein die Betrachtung wendet sich jetzt nicht auf
das thätige Subject in diesem Verhältniß; denn das leidende Subject nimmt,
da es die Negativität der geistigen Unendlichkeit in sich trägt, durch einen Act
der sittlichen Erhebung die zerstörende Macht mitten im Leiden, das ihm durch
sie bereitet ist, in freier Anerkennung in sich herein, und nun mag das Leiden
kommen, woher es mag, von der blinden Kraft, von der Leidenschaft, vom
schwankenden, bösen, oder sittlich stärkeren Willen: das Subject erkennt es als
gut an. Aber eben diese Seite führt von der vorliegenden Sphäre ganz ab
und die letztere wird nur eingehalten, sofern die Anschauung bei dem leidenden
Subjecte verweilt, wie es durch die Kraft der sittlichen Freiheit sein Leiden
überwindet. Dieses Schauspiel des sittlichen Willens, der sich im Leiden be-
währt, ist das negativ Pathetische.

Es ist ein Mangel der bisherigen ästhetischen Untersuchungen, daß sie
die Nothwendigkeit der im §. enthaltenen Motivirung übersahen. Man

druck der Unendlichkeit noch nicht die Anſchauung eines in die Kraft ſelbſt
durch die Negation der Beſinnung eintretenden Bruches in ſich ſchloß, ſo hat
dagegen das Pathos als wirklich geiſtige Macht die Negation in ſich, wodurch
es ſich mit Bewußtſeyn ſeinem Ausbruch entgegenſetzen und über ihn ſtellen
kann. Hieraus geht nun die wirklich negative und ungleich ſtärkere Form des
ſittlich Erhabenen hervor.

Um die ſtarke Wirkung der ruhig drohenden Kraft ſich zu vergegen-
wärtigen, denke man z. B. an Volker und Hagen in der 29ten Aventiure
des Nibelungenlieds. Die Stille vor einer Schlacht gehört hieher, ſofern
nun der Krieg als Kampf um ſittliche Güter betrachtet wird. Daß das
Pathos die Negation der Entgegenſetzung in ſich trägt, bedarf keines Be-
weiſes, denn es iſt eine ſelbſtbewußte Kraft. Es gibt auch höhere Er-
ſcheinungen drohender beſonnener Kraft, als jene der Nibelungenhelden,
wozu die Beiſpiele ſich leicht darbieten. Der ganzen, nun eintretenden
Sphäre des negativ Pathetiſchen kann man das bekannte Wort des Seneca
vorſetzen: Ecce spectaculum dignum, ad quod respiciat intentus operi
suo Deus: vir fortis cum mala fortuna compositus.

§. 112.

Dieſe negative Form ſetzt zunächſt eine noch höhere Erſcheinung des
ſittlichen Willens voraus, wodurch die, wie es ſchien, größtmögliche ſittliche
Stärke ſelbſt beſiegt wird. Allein die Betrachtung wendet ſich jetzt nicht auf
das thätige Subject in dieſem Verhältniß; denn das leidende Subject nimmt,
da es die Negativität der geiſtigen Unendlichkeit in ſich trägt, durch einen Act
der ſittlichen Erhebung die zerſtörende Macht mitten im Leiden, das ihm durch
ſie bereitet iſt, in freier Anerkennung in ſich herein, und nun mag das Leiden
kommen, woher es mag, von der blinden Kraft, von der Leidenſchaft, vom
ſchwankenden, böſen, oder ſittlich ſtärkeren Willen: das Subject erkennt es als
gut an. Aber eben dieſe Seite führt von der vorliegenden Sphäre ganz ab
und die letztere wird nur eingehalten, ſofern die Anſchauung bei dem leidenden
Subjecte verweilt, wie es durch die Kraft der ſittlichen Freiheit ſein Leiden
überwindet. Dieſes Schauſpiel des ſittlichen Willens, der ſich im Leiden be-
währt, iſt das negativ Pathetiſche.

Es iſt ein Mangel der bisherigen äſthetiſchen Unterſuchungen, daß ſie
die Nothwendigkeit der im §. enthaltenen Motivirung überſahen. Man

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#fr"><pb facs="#f0282" n="268"/>
druck der Unendlichkeit noch nicht die An&#x017F;chauung eines in die Kraft &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
durch die Negation der Be&#x017F;innung eintretenden Bruches in &#x017F;ich &#x017F;chloß, &#x017F;o hat<lb/>
dagegen das Pathos als wirklich gei&#x017F;tige Macht die Negation in &#x017F;ich, wodurch<lb/>
es &#x017F;ich mit Bewußt&#x017F;eyn &#x017F;einem Ausbruch entgegen&#x017F;etzen und über ihn &#x017F;tellen<lb/>
kann. Hieraus geht nun die wirklich negative und ungleich &#x017F;tärkere Form des<lb/>
&#x017F;ittlich Erhabenen hervor.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">Um die &#x017F;tarke Wirkung der ruhig drohenden Kraft &#x017F;ich zu vergegen-<lb/>
wärtigen, denke man z. B. an <hi rendition="#g">Volker</hi> und <hi rendition="#g">Hagen</hi> in der 29ten Aventiure<lb/>
des Nibelungenlieds. Die Stille vor einer Schlacht gehört hieher, &#x017F;ofern<lb/>
nun der Krieg als Kampf um &#x017F;ittliche Güter betrachtet wird. Daß das<lb/>
Pathos die Negation der Entgegen&#x017F;etzung in &#x017F;ich trägt, bedarf keines Be-<lb/>
wei&#x017F;es, denn es i&#x017F;t eine &#x017F;elb&#x017F;tbewußte Kraft. Es gibt auch höhere Er-<lb/>
&#x017F;cheinungen drohender be&#x017F;onnener Kraft, als jene der Nibelungenhelden,<lb/>
wozu die Bei&#x017F;piele &#x017F;ich leicht darbieten. Der ganzen, nun eintretenden<lb/>
Sphäre des negativ Patheti&#x017F;chen kann man das bekannte Wort des <hi rendition="#g">Seneca</hi><lb/>
vor&#x017F;etzen: <hi rendition="#aq">Ecce spectaculum dignum, ad quod respiciat intentus operi<lb/>
suo Deus: vir fortis cum mala fortuna compositus.</hi></hi> </p>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head>§. 112.</head><lb/>
                  <p> <hi rendition="#fr">Die&#x017F;e negative Form &#x017F;etzt zunäch&#x017F;t eine noch höhere Er&#x017F;cheinung des<lb/>
&#x017F;ittlichen Willens voraus, wodurch die, wie es &#x017F;chien, größtmögliche &#x017F;ittliche<lb/>
Stärke &#x017F;elb&#x017F;t be&#x017F;iegt wird. Allein die Betrachtung wendet &#x017F;ich jetzt nicht auf<lb/>
das thätige Subject in die&#x017F;em Verhältniß; denn das leidende Subject nimmt,<lb/>
da es die Negativität der gei&#x017F;tigen Unendlichkeit in &#x017F;ich trägt, durch einen Act<lb/>
der &#x017F;ittlichen Erhebung die zer&#x017F;törende Macht mitten im Leiden, das ihm durch<lb/>
&#x017F;ie bereitet i&#x017F;t, in freier Anerkennung in &#x017F;ich herein, und nun mag das Leiden<lb/>
kommen, woher es mag, von der blinden Kraft, von der Leiden&#x017F;chaft, vom<lb/>
&#x017F;chwankenden, bö&#x017F;en, oder &#x017F;ittlich &#x017F;tärkeren Willen: das Subject erkennt es als<lb/>
gut an. Aber eben die&#x017F;e Seite führt von der vorliegenden Sphäre ganz ab<lb/>
und die letztere wird nur eingehalten, &#x017F;ofern die An&#x017F;chauung bei dem leidenden<lb/>
Subjecte verweilt, wie es durch die Kraft der &#x017F;ittlichen Freiheit &#x017F;ein Leiden<lb/>
überwindet. Die&#x017F;es Schau&#x017F;piel des &#x017F;ittlichen Willens, der &#x017F;ich im Leiden be-<lb/>
währt, i&#x017F;t das negativ Patheti&#x017F;che.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">Es i&#x017F;t ein Mangel der bisherigen ä&#x017F;theti&#x017F;chen Unter&#x017F;uchungen, daß &#x017F;ie<lb/>
die Nothwendigkeit der im §. enthaltenen Motivirung über&#x017F;ahen. <hi rendition="#g">Man</hi><lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[268/0282] druck der Unendlichkeit noch nicht die Anſchauung eines in die Kraft ſelbſt durch die Negation der Beſinnung eintretenden Bruches in ſich ſchloß, ſo hat dagegen das Pathos als wirklich geiſtige Macht die Negation in ſich, wodurch es ſich mit Bewußtſeyn ſeinem Ausbruch entgegenſetzen und über ihn ſtellen kann. Hieraus geht nun die wirklich negative und ungleich ſtärkere Form des ſittlich Erhabenen hervor. Um die ſtarke Wirkung der ruhig drohenden Kraft ſich zu vergegen- wärtigen, denke man z. B. an Volker und Hagen in der 29ten Aventiure des Nibelungenlieds. Die Stille vor einer Schlacht gehört hieher, ſofern nun der Krieg als Kampf um ſittliche Güter betrachtet wird. Daß das Pathos die Negation der Entgegenſetzung in ſich trägt, bedarf keines Be- weiſes, denn es iſt eine ſelbſtbewußte Kraft. Es gibt auch höhere Er- ſcheinungen drohender beſonnener Kraft, als jene der Nibelungenhelden, wozu die Beiſpiele ſich leicht darbieten. Der ganzen, nun eintretenden Sphäre des negativ Pathetiſchen kann man das bekannte Wort des Seneca vorſetzen: Ecce spectaculum dignum, ad quod respiciat intentus operi suo Deus: vir fortis cum mala fortuna compositus. §. 112. Dieſe negative Form ſetzt zunächſt eine noch höhere Erſcheinung des ſittlichen Willens voraus, wodurch die, wie es ſchien, größtmögliche ſittliche Stärke ſelbſt beſiegt wird. Allein die Betrachtung wendet ſich jetzt nicht auf das thätige Subject in dieſem Verhältniß; denn das leidende Subject nimmt, da es die Negativität der geiſtigen Unendlichkeit in ſich trägt, durch einen Act der ſittlichen Erhebung die zerſtörende Macht mitten im Leiden, das ihm durch ſie bereitet iſt, in freier Anerkennung in ſich herein, und nun mag das Leiden kommen, woher es mag, von der blinden Kraft, von der Leidenſchaft, vom ſchwankenden, böſen, oder ſittlich ſtärkeren Willen: das Subject erkennt es als gut an. Aber eben dieſe Seite führt von der vorliegenden Sphäre ganz ab und die letztere wird nur eingehalten, ſofern die Anſchauung bei dem leidenden Subjecte verweilt, wie es durch die Kraft der ſittlichen Freiheit ſein Leiden überwindet. Dieſes Schauſpiel des ſittlichen Willens, der ſich im Leiden be- währt, iſt das negativ Pathetiſche. Es iſt ein Mangel der bisherigen äſthetiſchen Unterſuchungen, daß ſie die Nothwendigkeit der im §. enthaltenen Motivirung überſahen. Man

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/282
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/282>, abgerufen am 24.11.2024.