Der Begriff der Sache fordert nun aber allerdings, daß nicht übersehen1 werde, woher das Leiden kommt, und es muß dem wahren, hier zunächst vor- liegenden Zusammenhang gemäß allerdings von einem Subjecte ausgehen, welches das vorher als erhaben vorgestellte noch an sittlicher Stärke überbietet. Nun offenbart das besiegte Subject in seiner Selbst-Ueberwindung eine vertiefte innere Unendlichkeit, und auch diese muß noch in höherem Grade dem besiegenden Subjecte zuerkannt werden. Hiedurch tritt auf's Neue die Quantitätsbestimmung2 ein und es entsteht eine unendliche Steigerung, worin je das höhere Subject sowohl an Tiefe als an Umfang der sittlichen Macht das niedrigere über- trifft. Da nun aber durch Selbstüberwindung die Eifersucht und Feindschaft getilgt wird, so schließen sich die Guten zu gegenseitiger Ergänzung zusammen. Das Gewicht der Menge wird in höherem Sinne als in §. 97, 2 und 105 wichtig und es entsteht das Bild des Guten als einer durch Vielheit der Sub- jecte unendlich verstärkten Macht.
1. In §. 112 wurde die Betrachtung auf den Vorgang im leiden- den Subjecte herübergezogen; jetzt aber auf dem Punkte, wo das Er- habene des Subjects sich auflösen muß, ist allerdings die objective Seite, die Betrachtung des Subjects nämlich, von welchem das Leiden kommt, nachzuholen. Der dort aufgestellte Satz, daß es nun zunächst gleichgültig werde, von woher das Leiden komme, bleibt, wie sich zeigen wird, dennoch in seiner Wahrheit, oder richtiger, es wird sich im Tragischen eine Stufenfolge ergeben, worin sowohl das scheinbar zufällige als auch das in einem höheren sittlichen Willen begründete Leiden in seine Geltung tritt. Der ganze Gang, den der Begriff genommen, fordert nun an der gegenwärtigen Stelle, daß der Gute durch einen Besseren besiegt werde, und zwar durch einen Besseren in dem doppelten Sinn der Tiefe, d. h. der Fähig- keit, im innern Kampfe, und Stärke, d. h. der Fähigkeit, im äußern Kampfe zu siegen. Dieses Verhältniß wird sich im Tragischen allerdings nicht als das wahre halten lassen; es wird hier in der sittlich reinsten Form zwar ein Kampf zwischen guten Subjecten eintreten, aber auf beiden Seiten werden diese Subjecte alsbald auch einseitig erscheinen; es wird zwar zu unterscheiden seyn, woher das Leiden kommt, aber alle nächsten Ursachen werden vorneher- ein als Ausfluß der absoluten Ursache erscheinen. Hier aber ist der Ausgang des Leidens von dem sittlich stärkeren Subject als einzelnem und nächster Ursache vorerst festzuhalten, freilich nur als verschwindender Uebergangs-
Vischer's Aesthetik. 1. Bd. 18
§. 115.
Der Begriff der Sache fordert nun aber allerdings, daß nicht überſehen1 werde, woher das Leiden kommt, und es muß dem wahren, hier zunächſt vor- liegenden Zuſammenhang gemäß allerdings von einem Subjecte ausgehen, welches das vorher als erhaben vorgeſtellte noch an ſittlicher Stärke überbietet. Nun offenbart das beſiegte Subject in ſeiner Selbſt-Ueberwindung eine vertiefte innere Unendlichkeit, und auch dieſe muß noch in höherem Grade dem beſiegenden Subjecte zuerkannt werden. Hiedurch tritt auf’s Neue die Quantitätsbeſtimmung2 ein und es entſteht eine unendliche Steigerung, worin je das höhere Subject ſowohl an Tiefe als an Umfang der ſittlichen Macht das niedrigere über- trifft. Da nun aber durch Selbſtüberwindung die Eiferſucht und Feindſchaft getilgt wird, ſo ſchließen ſich die Guten zu gegenſeitiger Ergänzung zuſammen. Das Gewicht der Menge wird in höherem Sinne als in §. 97, 2 und 105 wichtig und es entſteht das Bild des Guten als einer durch Vielheit der Sub- jecte unendlich verſtärkten Macht.
1. In §. 112 wurde die Betrachtung auf den Vorgang im leiden- den Subjecte herübergezogen; jetzt aber auf dem Punkte, wo das Er- habene des Subjects ſich auflöſen muß, iſt allerdings die objective Seite, die Betrachtung des Subjects nämlich, von welchem das Leiden kommt, nachzuholen. Der dort aufgeſtellte Satz, daß es nun zunächſt gleichgültig werde, von woher das Leiden komme, bleibt, wie ſich zeigen wird, dennoch in ſeiner Wahrheit, oder richtiger, es wird ſich im Tragiſchen eine Stufenfolge ergeben, worin ſowohl das ſcheinbar zufällige als auch das in einem höheren ſittlichen Willen begründete Leiden in ſeine Geltung tritt. Der ganze Gang, den der Begriff genommen, fordert nun an der gegenwärtigen Stelle, daß der Gute durch einen Beſſeren beſiegt werde, und zwar durch einen Beſſeren in dem doppelten Sinn der Tiefe, d. h. der Fähig- keit, im innern Kampfe, und Stärke, d. h. der Fähigkeit, im äußern Kampfe zu ſiegen. Dieſes Verhältniß wird ſich im Tragiſchen allerdings nicht als das wahre halten laſſen; es wird hier in der ſittlich reinſten Form zwar ein Kampf zwiſchen guten Subjecten eintreten, aber auf beiden Seiten werden dieſe Subjecte alsbald auch einſeitig erſcheinen; es wird zwar zu unterſcheiden ſeyn, woher das Leiden kommt, aber alle nächſten Urſachen werden vorneher- ein als Ausfluß der abſoluten Urſache erſcheinen. Hier aber iſt der Ausgang des Leidens von dem ſittlich ſtärkeren Subject als einzelnem und nächſter Urſache vorerſt feſtzuhalten, freilich nur als verſchwindender Uebergangs-
Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 18
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><pbfacs="#f0287"n="273"/><divn="6"><head>§. 115.</head><lb/><p><hirendition="#fr">Der Begriff der Sache fordert nun aber allerdings, daß nicht überſehen<noteplace="right">1</note><lb/>
werde, woher das Leiden kommt, und es muß dem wahren, hier zunächſt vor-<lb/>
liegenden Zuſammenhang gemäß allerdings von einem Subjecte ausgehen, welches<lb/>
das vorher als erhaben vorgeſtellte noch an ſittlicher Stärke überbietet. Nun<lb/>
offenbart das beſiegte Subject in ſeiner Selbſt-Ueberwindung eine vertiefte innere<lb/>
Unendlichkeit, und auch dieſe muß noch in höherem Grade dem beſiegenden<lb/>
Subjecte zuerkannt werden. Hiedurch tritt auf’s Neue die Quantitätsbeſtimmung<noteplace="right">2</note><lb/>
ein und es entſteht eine unendliche Steigerung, worin je das höhere Subject<lb/>ſowohl an Tiefe als an Umfang der ſittlichen Macht das niedrigere über-<lb/>
trifft. Da nun aber durch Selbſtüberwindung die Eiferſucht und Feindſchaft<lb/>
getilgt wird, ſo ſchließen ſich die Guten zu gegenſeitiger Ergänzung zuſammen.<lb/>
Das Gewicht der Menge wird in höherem Sinne als in §. 97, <hirendition="#sub">2</hi> und 105<lb/>
wichtig und es entſteht das Bild des Guten als einer durch Vielheit der Sub-<lb/>
jecte unendlich verſtärkten Macht.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">1. In §. 112 wurde die Betrachtung auf den Vorgang im leiden-<lb/>
den Subjecte herübergezogen; jetzt aber auf dem Punkte, wo das Er-<lb/>
habene des Subjects ſich auflöſen muß, iſt allerdings die objective Seite,<lb/>
die Betrachtung des Subjects nämlich, von welchem das Leiden kommt,<lb/>
nachzuholen. Der dort aufgeſtellte Satz, daß es nun zunächſt gleichgültig<lb/>
werde, von woher das Leiden komme, bleibt, wie ſich zeigen wird,<lb/>
dennoch in ſeiner Wahrheit, oder richtiger, es wird ſich im Tragiſchen<lb/>
eine Stufenfolge ergeben, worin ſowohl das ſcheinbar zufällige als auch<lb/>
das in einem höheren ſittlichen Willen begründete Leiden in ſeine Geltung<lb/>
tritt. Der ganze Gang, den der Begriff genommen, fordert nun an der<lb/>
gegenwärtigen Stelle, daß der Gute durch einen Beſſeren beſiegt werde, und<lb/>
zwar durch einen Beſſeren in dem doppelten Sinn der Tiefe, d. h. der Fähig-<lb/>
keit, im innern Kampfe, und Stärke, d. h. der Fähigkeit, im äußern Kampfe<lb/>
zu ſiegen. Dieſes Verhältniß wird ſich im Tragiſchen allerdings nicht als das<lb/>
wahre halten laſſen; es wird hier in der ſittlich reinſten Form zwar ein<lb/>
Kampf zwiſchen guten Subjecten eintreten, aber auf beiden Seiten werden<lb/>
dieſe Subjecte alsbald auch einſeitig erſcheinen; es wird zwar zu unterſcheiden<lb/>ſeyn, woher das Leiden kommt, aber alle nächſten Urſachen werden vorneher-<lb/>
ein als Ausfluß der abſoluten Urſache erſcheinen. Hier aber iſt der Ausgang<lb/>
des Leidens von dem ſittlich ſtärkeren Subject als einzelnem und nächſter<lb/>
Urſache vorerſt feſtzuhalten, freilich nur als verſchwindender Uebergangs-</hi><lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Viſcher’s</hi> Aeſthetik. 1. Bd. 18</fw><lb/></p></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[273/0287]
§. 115.
Der Begriff der Sache fordert nun aber allerdings, daß nicht überſehen
werde, woher das Leiden kommt, und es muß dem wahren, hier zunächſt vor-
liegenden Zuſammenhang gemäß allerdings von einem Subjecte ausgehen, welches
das vorher als erhaben vorgeſtellte noch an ſittlicher Stärke überbietet. Nun
offenbart das beſiegte Subject in ſeiner Selbſt-Ueberwindung eine vertiefte innere
Unendlichkeit, und auch dieſe muß noch in höherem Grade dem beſiegenden
Subjecte zuerkannt werden. Hiedurch tritt auf’s Neue die Quantitätsbeſtimmung
ein und es entſteht eine unendliche Steigerung, worin je das höhere Subject
ſowohl an Tiefe als an Umfang der ſittlichen Macht das niedrigere über-
trifft. Da nun aber durch Selbſtüberwindung die Eiferſucht und Feindſchaft
getilgt wird, ſo ſchließen ſich die Guten zu gegenſeitiger Ergänzung zuſammen.
Das Gewicht der Menge wird in höherem Sinne als in §. 97, 2 und 105
wichtig und es entſteht das Bild des Guten als einer durch Vielheit der Sub-
jecte unendlich verſtärkten Macht.
1. In §. 112 wurde die Betrachtung auf den Vorgang im leiden-
den Subjecte herübergezogen; jetzt aber auf dem Punkte, wo das Er-
habene des Subjects ſich auflöſen muß, iſt allerdings die objective Seite,
die Betrachtung des Subjects nämlich, von welchem das Leiden kommt,
nachzuholen. Der dort aufgeſtellte Satz, daß es nun zunächſt gleichgültig
werde, von woher das Leiden komme, bleibt, wie ſich zeigen wird,
dennoch in ſeiner Wahrheit, oder richtiger, es wird ſich im Tragiſchen
eine Stufenfolge ergeben, worin ſowohl das ſcheinbar zufällige als auch
das in einem höheren ſittlichen Willen begründete Leiden in ſeine Geltung
tritt. Der ganze Gang, den der Begriff genommen, fordert nun an der
gegenwärtigen Stelle, daß der Gute durch einen Beſſeren beſiegt werde, und
zwar durch einen Beſſeren in dem doppelten Sinn der Tiefe, d. h. der Fähig-
keit, im innern Kampfe, und Stärke, d. h. der Fähigkeit, im äußern Kampfe
zu ſiegen. Dieſes Verhältniß wird ſich im Tragiſchen allerdings nicht als das
wahre halten laſſen; es wird hier in der ſittlich reinſten Form zwar ein
Kampf zwiſchen guten Subjecten eintreten, aber auf beiden Seiten werden
dieſe Subjecte alsbald auch einſeitig erſcheinen; es wird zwar zu unterſcheiden
ſeyn, woher das Leiden kommt, aber alle nächſten Urſachen werden vorneher-
ein als Ausfluß der abſoluten Urſache erſcheinen. Hier aber iſt der Ausgang
des Leidens von dem ſittlich ſtärkeren Subject als einzelnem und nächſter
Urſache vorerſt feſtzuhalten, freilich nur als verſchwindender Uebergangs-
Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 18
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/287>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.