Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

mit dem Pietäts-Interesse der Familie, auf der er ruht u. s. w. Der
Unterschied dieser sittlichen Mächte heißt Gegensatz, wenn zwei oder
mehrere derselben, zwischen denen an sich Uebergangsformen stehen, un-
mittelbar aneinandergerückt sich verhalten wie ein logischer Gegensatz;
z. B. Familie und Staat: dort das Einzelne und die Empfindung, hier
das Allgemeine und der gedachte Zweck. Dieser Gegensatz deutet aller-
dings schon den Uebergang zu einem Conflict an; allein Gegensatz ist
doch noch ein ruhiges Verhältniß, das sich auch der reinen Betrachtung
darstellt, so lange nicht die Beschränkung bestimmter Verhältnisse und
einzelner Subjectivität den Keim des Widerspruchs im Gegensatze aufreizt.

§. 121.

1

Die doppelte Form der Objectivität oder Nothwendigkeit (§. 119) soll
sich zu Einem Ganzen vereinigen, und diese Vereinigung muß davon ausgehen,
daß beide Formen einander voraussetzen, indem gerade die Wechselwirkung zwi-
schen der bindenden Gewalt der einen und der frei übergreifenden der andern
das sittliche Leben erzeugt; dies kann sich aber nur in einer Bewegung, einem
2Prozesse darstellen, welcher nun aufzuzeigen ist. Durch die Auflösung der Noth-
wendigkeit, die auf dem unmittelbaren Lebensgrunde beruht, und der sittlichen
mit ihren besondern Sphären in eine Einheit fügt sich nun aber das Ganze
einer Nothwendigkeit zusammen, welches eine unendliche Verkettung darstellt
nicht mehr in dem massenhaften Sinne, wie in §. 118, sondern in dem Sinne
einer von einem absoluten Gesetze beherrschten Ordnung. Diese Ordnung ver-
wirklicht sich aber allerdings in dem Complexe ihrer Masse auf unübersehliche
Weise, und ist daher zwar als Prinzip klar, aber in der Vollführung der un-
endlichen Bewegung, in der sie das Naturgesetz mit dem sittlichen verflicht und
an der Reihe des Zufalls hinlaufend, über unendliche Räume und Zeiten fort-
greifend Alles an Alles bindet, dem beschränkten Ausblicke des Einzelnen,
obwohl sie sich in einer begrenzten Erscheinung ästhetisch darstellt, wobei jene
Aufhebung des störenden Zufalls im allgemeinen Sinne (§. 53) bereits voraus-
gesetzt ist, nothwendig verborgen, also dunkel.

1. Die Gebundenheit der Naturbasis und die sittliche Nothwendig-
keit geht zu einer großen Einheit zusammen, deren allgemeiner Grund
zunächst wohl zu erkennen ist. Erstens nämlich ist ja der Geist über-
haupt wesentlich Negation der Natur, also nicht ohne sie, sondern an

mit dem Pietäts-Intereſſe der Familie, auf der er ruht u. ſ. w. Der
Unterſchied dieſer ſittlichen Mächte heißt Gegenſatz, wenn zwei oder
mehrere derſelben, zwiſchen denen an ſich Uebergangsformen ſtehen, un-
mittelbar aneinandergerückt ſich verhalten wie ein logiſcher Gegenſatz;
z. B. Familie und Staat: dort das Einzelne und die Empfindung, hier
das Allgemeine und der gedachte Zweck. Dieſer Gegenſatz deutet aller-
dings ſchon den Uebergang zu einem Conflict an; allein Gegenſatz iſt
doch noch ein ruhiges Verhältniß, das ſich auch der reinen Betrachtung
darſtellt, ſo lange nicht die Beſchränkung beſtimmter Verhältniſſe und
einzelner Subjectivität den Keim des Widerſpruchs im Gegenſatze aufreizt.

§. 121.

1

Die doppelte Form der Objectivität oder Nothwendigkeit (§. 119) ſoll
ſich zu Einem Ganzen vereinigen, und dieſe Vereinigung muß davon ausgehen,
daß beide Formen einander vorausſetzen, indem gerade die Wechſelwirkung zwi-
ſchen der bindenden Gewalt der einen und der frei übergreifenden der andern
das ſittliche Leben erzeugt; dies kann ſich aber nur in einer Bewegung, einem
2Prozeſſe darſtellen, welcher nun aufzuzeigen iſt. Durch die Auflöſung der Noth-
wendigkeit, die auf dem unmittelbaren Lebensgrunde beruht, und der ſittlichen
mit ihren beſondern Sphären in eine Einheit fügt ſich nun aber das Ganze
einer Nothwendigkeit zuſammen, welches eine unendliche Verkettung darſtellt
nicht mehr in dem maſſenhaften Sinne, wie in §. 118, ſondern in dem Sinne
einer von einem abſoluten Geſetze beherrſchten Ordnung. Dieſe Ordnung ver-
wirklicht ſich aber allerdings in dem Complexe ihrer Maſſe auf unüberſehliche
Weiſe, und iſt daher zwar als Prinzip klar, aber in der Vollführung der un-
endlichen Bewegung, in der ſie das Naturgeſetz mit dem ſittlichen verflicht und
an der Reihe des Zufalls hinlaufend, über unendliche Räume und Zeiten fort-
greifend Alles an Alles bindet, dem beſchränkten Ausblicke des Einzelnen,
obwohl ſie ſich in einer begrenzten Erſcheinung äſthetiſch darſtellt, wobei jene
Aufhebung des ſtörenden Zufalls im allgemeinen Sinne (§. 53) bereits voraus-
geſetzt iſt, nothwendig verborgen, alſo dunkel.

1. Die Gebundenheit der Naturbaſis und die ſittliche Nothwendig-
keit geht zu einer großen Einheit zuſammen, deren allgemeiner Grund
zunächſt wohl zu erkennen iſt. Erſtens nämlich iſt ja der Geiſt über-
haupt weſentlich Negation der Natur, alſo nicht ohne ſie, ſondern an

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0296" n="282"/>
mit dem Pietäts-Intere&#x017F;&#x017F;e der Familie, auf der er ruht u. &#x017F;. w. Der<lb/>
Unter&#x017F;chied die&#x017F;er &#x017F;ittlichen Mächte heißt Gegen&#x017F;atz, wenn zwei oder<lb/>
mehrere der&#x017F;elben, zwi&#x017F;chen denen an &#x017F;ich Uebergangsformen &#x017F;tehen, un-<lb/>
mittelbar aneinandergerückt &#x017F;ich verhalten wie ein logi&#x017F;cher Gegen&#x017F;atz;<lb/>
z. B. Familie und Staat: dort das Einzelne und die Empfindung, hier<lb/>
das Allgemeine und der gedachte Zweck. Die&#x017F;er Gegen&#x017F;atz deutet aller-<lb/>
dings &#x017F;chon den Uebergang zu einem Conflict an; allein Gegen&#x017F;atz i&#x017F;t<lb/>
doch noch ein ruhiges Verhältniß, das &#x017F;ich auch der reinen Betrachtung<lb/>
dar&#x017F;tellt, &#x017F;o lange nicht die Be&#x017F;chränkung be&#x017F;timmter Verhältni&#x017F;&#x017F;e und<lb/>
einzelner Subjectivität den Keim des Wider&#x017F;pruchs im Gegen&#x017F;atze aufreizt.</hi> </p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 121.</head><lb/>
                <note place="left"> <hi rendition="#fr">1</hi> </note>
                <p> <hi rendition="#fr">Die doppelte Form der Objectivität oder Nothwendigkeit (§. 119) &#x017F;oll<lb/>
&#x017F;ich zu Einem Ganzen vereinigen, und die&#x017F;e Vereinigung muß davon ausgehen,<lb/>
daß beide Formen einander voraus&#x017F;etzen, indem gerade die Wech&#x017F;elwirkung zwi-<lb/>
&#x017F;chen der bindenden Gewalt der einen und der frei übergreifenden der andern<lb/>
das &#x017F;ittliche Leben erzeugt; dies kann &#x017F;ich aber nur in einer Bewegung, einem<lb/><note place="left">2</note>Proze&#x017F;&#x017F;e dar&#x017F;tellen, welcher nun aufzuzeigen i&#x017F;t. Durch die Auflö&#x017F;ung der Noth-<lb/>
wendigkeit, die auf dem unmittelbaren Lebensgrunde beruht, und der &#x017F;ittlichen<lb/>
mit ihren be&#x017F;ondern Sphären in eine Einheit fügt &#x017F;ich nun aber das Ganze<lb/>
einer Nothwendigkeit zu&#x017F;ammen, welches eine unendliche Verkettung dar&#x017F;tellt<lb/>
nicht mehr in dem ma&#x017F;&#x017F;enhaften Sinne, wie in §. 118, &#x017F;ondern in dem Sinne<lb/>
einer von einem ab&#x017F;oluten Ge&#x017F;etze beherr&#x017F;chten Ordnung. Die&#x017F;e Ordnung ver-<lb/>
wirklicht &#x017F;ich aber allerdings in dem Complexe ihrer Ma&#x017F;&#x017F;e auf unüber&#x017F;ehliche<lb/>
Wei&#x017F;e, und i&#x017F;t daher zwar als Prinzip klar, aber in der Vollführung der un-<lb/>
endlichen Bewegung, in der &#x017F;ie das Naturge&#x017F;etz mit dem &#x017F;ittlichen verflicht und<lb/>
an der Reihe des Zufalls hinlaufend, über unendliche Räume und Zeiten fort-<lb/>
greifend Alles an Alles bindet, dem be&#x017F;chränkten Ausblicke des Einzelnen,<lb/>
obwohl &#x017F;ie &#x017F;ich in einer begrenzten Er&#x017F;cheinung ä&#x017F;theti&#x017F;ch dar&#x017F;tellt, wobei jene<lb/>
Aufhebung des &#x017F;törenden Zufalls im allgemeinen Sinne (§. 53) bereits voraus-<lb/>
ge&#x017F;etzt i&#x017F;t, nothwendig verborgen, al&#x017F;o <hi rendition="#g">dunkel</hi>.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">1. Die Gebundenheit der Naturba&#x017F;is und die &#x017F;ittliche Nothwendig-<lb/>
keit geht zu einer großen Einheit zu&#x017F;ammen, deren allgemeiner Grund<lb/>
zunäch&#x017F;t wohl zu erkennen i&#x017F;t. Er&#x017F;tens nämlich i&#x017F;t ja der Gei&#x017F;t über-<lb/>
haupt we&#x017F;entlich Negation der Natur, al&#x017F;o nicht ohne &#x017F;ie, &#x017F;ondern an<lb/></hi> </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[282/0296] mit dem Pietäts-Intereſſe der Familie, auf der er ruht u. ſ. w. Der Unterſchied dieſer ſittlichen Mächte heißt Gegenſatz, wenn zwei oder mehrere derſelben, zwiſchen denen an ſich Uebergangsformen ſtehen, un- mittelbar aneinandergerückt ſich verhalten wie ein logiſcher Gegenſatz; z. B. Familie und Staat: dort das Einzelne und die Empfindung, hier das Allgemeine und der gedachte Zweck. Dieſer Gegenſatz deutet aller- dings ſchon den Uebergang zu einem Conflict an; allein Gegenſatz iſt doch noch ein ruhiges Verhältniß, das ſich auch der reinen Betrachtung darſtellt, ſo lange nicht die Beſchränkung beſtimmter Verhältniſſe und einzelner Subjectivität den Keim des Widerſpruchs im Gegenſatze aufreizt. §. 121. Die doppelte Form der Objectivität oder Nothwendigkeit (§. 119) ſoll ſich zu Einem Ganzen vereinigen, und dieſe Vereinigung muß davon ausgehen, daß beide Formen einander vorausſetzen, indem gerade die Wechſelwirkung zwi- ſchen der bindenden Gewalt der einen und der frei übergreifenden der andern das ſittliche Leben erzeugt; dies kann ſich aber nur in einer Bewegung, einem Prozeſſe darſtellen, welcher nun aufzuzeigen iſt. Durch die Auflöſung der Noth- wendigkeit, die auf dem unmittelbaren Lebensgrunde beruht, und der ſittlichen mit ihren beſondern Sphären in eine Einheit fügt ſich nun aber das Ganze einer Nothwendigkeit zuſammen, welches eine unendliche Verkettung darſtellt nicht mehr in dem maſſenhaften Sinne, wie in §. 118, ſondern in dem Sinne einer von einem abſoluten Geſetze beherrſchten Ordnung. Dieſe Ordnung ver- wirklicht ſich aber allerdings in dem Complexe ihrer Maſſe auf unüberſehliche Weiſe, und iſt daher zwar als Prinzip klar, aber in der Vollführung der un- endlichen Bewegung, in der ſie das Naturgeſetz mit dem ſittlichen verflicht und an der Reihe des Zufalls hinlaufend, über unendliche Räume und Zeiten fort- greifend Alles an Alles bindet, dem beſchränkten Ausblicke des Einzelnen, obwohl ſie ſich in einer begrenzten Erſcheinung äſthetiſch darſtellt, wobei jene Aufhebung des ſtörenden Zufalls im allgemeinen Sinne (§. 53) bereits voraus- geſetzt iſt, nothwendig verborgen, alſo dunkel. 1. Die Gebundenheit der Naturbaſis und die ſittliche Nothwendig- keit geht zu einer großen Einheit zuſammen, deren allgemeiner Grund zunächſt wohl zu erkennen iſt. Erſtens nämlich iſt ja der Geiſt über- haupt weſentlich Negation der Natur, alſo nicht ohne ſie, ſondern an

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/296
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/296>, abgerufen am 23.11.2024.