Glück die Anstalten hergehen, ein gedrohtes Unglück zu vermeiden und gerade diese Anstalten das Gegentheil ihres Zwecks bewirken. Dieser Fall ist weniger rein bei Oedipus, weil hier das gedrohte Uebel ohne allen Zusammenhang mit einer früheren eigenen Schuld irrationell ge- weissagt ist, wovon bei der Darstellung des classischen Ideals die Rede seyn muß. Hingegen Ludwig XVI stürzt gerade durch die Ahnung und versuchte Abwehr eines Unglücks, die jedoch selbst geahnte Schuld ist, in's Unglück. Ihn verfolgt von Anfang der Revolution die Besorgniß, er möchte wie Carl I von England durch die Anklage, daß er das Blut seines Volks vergossen, untergehen. Nun ist aber diese Ahnung selbst eine Schuld: sie ist schon Gefühl seiner Schwäche; er weiß, daß er nicht den Muth hat, das Blut einiger Elenden zur rechten Zeit zu vergießen, er vergießt dadurch wirklich das Blut unzählicher Getreuer. Er ahnt, daß das Gefürchtete durch seine Passivität zur Unzeit geschehen wird. Er ahnt richtig und mit der Ahnung, welche das Gefürchtete stets zu vermeiden sucht, wächst seine Schuld. Endlich ohne seinen Be- fehl fließt Volksblut bei der Erstürmung der Tuilerien, während er eine halbe Stunde vorher durch den Entschluß, es zu vergießen, sich gerettet hätte, und das lang Befürchtete steht vor ihm.
§. 125.
Das Leiden kann, obwohl innerlich unendlich, äußerlich ein Ende nehmen und dem Subject Raum lassen, sein Werk zu vollenden. Allein schon in diesem Falle tritt der Inhalt von §. 112 wieder in Geltung. In §. 112 wurde, noch innerhalb der Sphäre des subjectiv Erhabenen, die Ausdauer im Leiden aus der Anerkennung der Quelle des Leidens als einer guten erklärt. Nun aber ist diese Quelle nicht nur als gut überhaupt, sondern als das absolut Gute des im großen Ganzen sich durchführenden Zwecks objectiv begriffen. Indem nun das Subject sein Leiden in diesem Zusammenhange und ebendaher als Folge seiner Schuld erkennt, so reinigt es sich und sein Werk und führt dieses nun nicht mehr nach seinem eigenen Sinne, sondern im Sinne des absoluten Ganzen, als Werkzeug desselben, durch.
Wir werden alsbald auf diese Form zurückkommen, wo das unbe- stimmte "kann" einem schärferen Begriffe weichen wird. Als Beispiel mag man sich große Acte der Völkerbefreiung und die Helden an der Spitze derselben vorstellen, wie die Perserkriege und die deutschen Be-
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Glück die Anſtalten hergehen, ein gedrohtes Unglück zu vermeiden und gerade dieſe Anſtalten das Gegentheil ihres Zwecks bewirken. Dieſer Fall iſt weniger rein bei Oedipus, weil hier das gedrohte Uebel ohne allen Zuſammenhang mit einer früheren eigenen Schuld irrationell ge- weiſſagt iſt, wovon bei der Darſtellung des claſſiſchen Ideals die Rede ſeyn muß. Hingegen Ludwig XVI ſtürzt gerade durch die Ahnung und verſuchte Abwehr eines Unglücks, die jedoch ſelbſt geahnte Schuld iſt, in’s Unglück. Ihn verfolgt von Anfang der Revolution die Beſorgniß, er möchte wie Carl I von England durch die Anklage, daß er das Blut ſeines Volks vergoſſen, untergehen. Nun iſt aber dieſe Ahnung ſelbſt eine Schuld: ſie iſt ſchon Gefühl ſeiner Schwäche; er weiß, daß er nicht den Muth hat, das Blut einiger Elenden zur rechten Zeit zu vergießen, er vergießt dadurch wirklich das Blut unzählicher Getreuer. Er ahnt, daß das Gefürchtete durch ſeine Paſſivität zur Unzeit geſchehen wird. Er ahnt richtig und mit der Ahnung, welche das Gefürchtete ſtets zu vermeiden ſucht, wächst ſeine Schuld. Endlich ohne ſeinen Be- fehl fließt Volksblut bei der Erſtürmung der Tuilerien, während er eine halbe Stunde vorher durch den Entſchluß, es zu vergießen, ſich gerettet hätte, und das lang Befürchtete ſteht vor ihm.
§. 125.
Das Leiden kann, obwohl innerlich unendlich, äußerlich ein Ende nehmen und dem Subject Raum laſſen, ſein Werk zu vollenden. Allein ſchon in dieſem Falle tritt der Inhalt von §. 112 wieder in Geltung. In §. 112 wurde, noch innerhalb der Sphäre des ſubjectiv Erhabenen, die Ausdauer im Leiden aus der Anerkennung der Quelle des Leidens als einer guten erklärt. Nun aber iſt dieſe Quelle nicht nur als gut überhaupt, ſondern als das abſolut Gute des im großen Ganzen ſich durchführenden Zwecks objectiv begriffen. Indem nun das Subject ſein Leiden in dieſem Zuſammenhange und ebendaher als Folge ſeiner Schuld erkennt, ſo reinigt es ſich und ſein Werk und führt dieſes nun nicht mehr nach ſeinem eigenen Sinne, ſondern im Sinne des abſoluten Ganzen, als Werkzeug deſſelben, durch.
Wir werden alsbald auf dieſe Form zurückkommen, wo das unbe- ſtimmte „kann“ einem ſchärferen Begriffe weichen wird. Als Beiſpiel mag man ſich große Acte der Völkerbefreiung und die Helden an der Spitze derſelben vorſtellen, wie die Perſerkriege und die deutſchen Be-
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Glück die Anſtalten hergehen, ein gedrohtes Unglück zu vermeiden und
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allen Zuſammenhang mit einer früheren eigenen Schuld irrationell ge-
weiſſagt iſt, wovon bei der Darſtellung des claſſiſchen Ideals die Rede
ſeyn muß. Hingegen Ludwig XVI ſtürzt gerade durch die Ahnung und
verſuchte Abwehr eines Unglücks, die jedoch ſelbſt geahnte Schuld iſt,
in’s Unglück. Ihn verfolgt von Anfang der Revolution die Beſorgniß,
er möchte wie Carl I von England durch die Anklage, daß er das Blut
ſeines Volks vergoſſen, untergehen. Nun iſt aber dieſe Ahnung ſelbſt
eine Schuld: ſie iſt ſchon Gefühl ſeiner Schwäche; er weiß, daß er
nicht den Muth hat, das Blut einiger Elenden zur rechten Zeit zu
vergießen, er vergießt dadurch wirklich das Blut unzählicher Getreuer.
Er ahnt, daß das Gefürchtete durch ſeine Paſſivität zur Unzeit geſchehen
wird. Er ahnt richtig und mit der Ahnung, welche das Gefürchtete
ſtets zu vermeiden ſucht, wächst ſeine Schuld. Endlich ohne ſeinen Be-
fehl fließt Volksblut bei der Erſtürmung der Tuilerien, während er eine
halbe Stunde vorher durch den Entſchluß, es zu vergießen, ſich gerettet
hätte, und das lang Befürchtete ſteht vor ihm.
§. 125.
Das Leiden kann, obwohl innerlich unendlich, äußerlich ein Ende nehmen
und dem Subject Raum laſſen, ſein Werk zu vollenden. Allein ſchon in dieſem
Falle tritt der Inhalt von §. 112 wieder in Geltung. In §. 112 wurde,
noch innerhalb der Sphäre des ſubjectiv Erhabenen, die Ausdauer im Leiden
aus der Anerkennung der Quelle des Leidens als einer guten erklärt. Nun
aber iſt dieſe Quelle nicht nur als gut überhaupt, ſondern als das abſolut Gute
des im großen Ganzen ſich durchführenden Zwecks objectiv begriffen. Indem
nun das Subject ſein Leiden in dieſem Zuſammenhange und ebendaher als Folge
ſeiner Schuld erkennt, ſo reinigt es ſich und ſein Werk und führt dieſes nun
nicht mehr nach ſeinem eigenen Sinne, ſondern im Sinne des abſoluten Ganzen,
als Werkzeug deſſelben, durch.
Wir werden alsbald auf dieſe Form zurückkommen, wo das unbe-
ſtimmte „kann“ einem ſchärferen Begriffe weichen wird. Als Beiſpiel
mag man ſich große Acte der Völkerbefreiung und die Helden an der
Spitze derſelben vorſtellen, wie die Perſerkriege und die deutſchen Be-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/305>, abgerufen am 22.11.2024.
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