hältniß treffen und verletzt immer ein sittliches Recht, aber nicht ein solches, welches im vorliegenden Falle mit dem andern, durch das Patbos des Helden vertretenen, an sich eine wesentliche sittliche Einheit bildet, wo denn die Schuld in der Trennung des Zusammengehörigen läge, sondern es ist zufällig, welches Verhältniß verletzt wird. Ajax z. B. verletzt durch sein Rasen die Helden-Ehre: er hätte in seiner Leidenschaftlichkeit auch eine andere Schuld begehen können; Sigfried verletzt die Pflicht der Verschwiegenheit, indem er Chriemhilden das Geheimniß von Brunhildens Brautnacht mittheilt: er hätte in seiner Harmlosigkeit auch ein Versehen anderer Art sich zu Schulden kommen lassen können. Die Schuld steht also mit dem Streben des Helden nicht in dem orga- nischen Verhältniß, wie sich dies in der dritten Form zeigen wird. Subjectiv aber soll wo möglich ein innerer Zusammenhang seyn. Die Schuld soll aus denselben Temperaments-Eigenschaften fließen, wie die Tugend. Der Reformator eines Staats, einer Kirche z. B. mag in seinem Eifer zu rasch verfahren u. dgl. Im Temperamente des Ajax ist jene Raserei ganz begründet. Oedipus erscheint zwar vorzüglich als weiser Heros, aber er hat doch auch die jähzornige Helden-Natur, und so bedenkt er nicht, daß der Zufall ihm auflauert, daß er durch den Orakelspruch gewitzigt seyn sollte, da er den Begegnenden, übrigens nach griechischen Begriffen an sich mit Recht, erschlägt. Einem Sigfried, gut und arglos, vertraulich wie er ist, liegt nichts näher, als jener Fehler des Verplauderns. Conradin fällt durch seine Unvorsichtigkeit nach dem Siege bei Scurcola: ein Fehler, der ganz seiner Jugend entspricht, deren Unternehmungsgeist eben ihn zugleich zum tragischen Helden erhebt. Othello rast um so fürchterlicher und ist um so leichter zu täuschen, je gewaltiger seine arglose Natur vorher die Leidenschaft in sich zusammenhielt. Hamlet, so weit er hieher gehört, muß unge- schickt zum Handeln seyn gerade durch den Tiefsinn seiner denkenden Natur. Egmont in der Darstellung des Dichters fällt durch denselben Leichtsinn, der ihn zu dem beliebten Helden eines lustigen Volkes macht.
2. Aristoteles weist bekanntlich (Poet. 13) die überaus Schlechten und ihren Sturz von der Tragödie völlig aus; denn dieser Sturz würde, wie er meint, weder Mitleid noch Furcht erregen, weil wir jenes nur dem unverdienten Unglück schenken, mit dieser nur Menschen unseres Gleichen begleiten. Unter dem unverdienten Unglück versteht er natürlich kein ganz unverdientes, sondern ein solches, das nur durch eine Schuld verdient ist, die zur Strafe in keinem Verhältnisse steht. Sein Grund ließe sich leicht
Vischer's Aesthetik. 1. Bd. 20
hältniß treffen und verletzt immer ein ſittliches Recht, aber nicht ein ſolches, welches im vorliegenden Falle mit dem andern, durch das Patbos des Helden vertretenen, an ſich eine weſentliche ſittliche Einheit bildet, wo denn die Schuld in der Trennung des Zuſammengehörigen läge, ſondern es iſt zufällig, welches Verhältniß verletzt wird. Ajax z. B. verletzt durch ſein Raſen die Helden-Ehre: er hätte in ſeiner Leidenſchaftlichkeit auch eine andere Schuld begehen können; Sigfried verletzt die Pflicht der Verſchwiegenheit, indem er Chriemhilden das Geheimniß von Brunhildens Brautnacht mittheilt: er hätte in ſeiner Harmloſigkeit auch ein Verſehen anderer Art ſich zu Schulden kommen laſſen können. Die Schuld ſteht alſo mit dem Streben des Helden nicht in dem orga- niſchen Verhältniß, wie ſich dies in der dritten Form zeigen wird. Subjectiv aber ſoll wo möglich ein innerer Zuſammenhang ſeyn. Die Schuld ſoll aus denſelben Temperaments-Eigenſchaften fließen, wie die Tugend. Der Reformator eines Staats, einer Kirche z. B. mag in ſeinem Eifer zu raſch verfahren u. dgl. Im Temperamente des Ajax iſt jene Raſerei ganz begründet. Oedipus erſcheint zwar vorzüglich als weiſer Heros, aber er hat doch auch die jähzornige Helden-Natur, und ſo bedenkt er nicht, daß der Zufall ihm auflauert, daß er durch den Orakelſpruch gewitzigt ſeyn ſollte, da er den Begegnenden, übrigens nach griechiſchen Begriffen an ſich mit Recht, erſchlägt. Einem Sigfried, gut und arglos, vertraulich wie er iſt, liegt nichts näher, als jener Fehler des Verplauderns. Conradin fällt durch ſeine Unvorſichtigkeit nach dem Siege bei Scurcola: ein Fehler, der ganz ſeiner Jugend entſpricht, deren Unternehmungsgeiſt eben ihn zugleich zum tragiſchen Helden erhebt. Othello rast um ſo fürchterlicher und iſt um ſo leichter zu täuſchen, je gewaltiger ſeine argloſe Natur vorher die Leidenſchaft in ſich zuſammenhielt. Hamlet, ſo weit er hieher gehört, muß unge- ſchickt zum Handeln ſeyn gerade durch den Tiefſinn ſeiner denkenden Natur. Egmont in der Darſtellung des Dichters fällt durch denſelben Leichtſinn, der ihn zu dem beliebten Helden eines luſtigen Volkes macht.
2. Ariſtoteles weist bekanntlich (Poet. 13) die überaus Schlechten und ihren Sturz von der Tragödie völlig aus; denn dieſer Sturz würde, wie er meint, weder Mitleid noch Furcht erregen, weil wir jenes nur dem unverdienten Unglück ſchenken, mit dieſer nur Menſchen unſeres Gleichen begleiten. Unter dem unverdienten Unglück verſteht er natürlich kein ganz unverdientes, ſondern ein ſolches, das nur durch eine Schuld verdient iſt, die zur Strafe in keinem Verhältniſſe ſteht. Sein Grund ließe ſich leicht
Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 20
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0319"n="305"/>
hältniß treffen und verletzt immer ein ſittliches Recht, aber nicht ein<lb/>ſolches, welches im vorliegenden Falle mit dem andern, durch das Patbos<lb/>
des Helden vertretenen, an ſich eine weſentliche ſittliche Einheit bildet, wo<lb/>
denn die Schuld in der Trennung des Zuſammengehörigen läge, ſondern<lb/>
es iſt zufällig, welches Verhältniß verletzt wird. Ajax z. B. verletzt<lb/>
durch ſein Raſen die Helden-Ehre: er hätte in ſeiner Leidenſchaftlichkeit<lb/>
auch eine andere Schuld begehen können; Sigfried verletzt die Pflicht<lb/>
der Verſchwiegenheit, indem er Chriemhilden das Geheimniß von<lb/>
Brunhildens Brautnacht mittheilt: er hätte in ſeiner Harmloſigkeit<lb/>
auch ein Verſehen anderer Art ſich zu Schulden kommen laſſen können.<lb/>
Die Schuld ſteht alſo mit dem Streben des Helden nicht in dem orga-<lb/>
niſchen Verhältniß, wie ſich dies in der dritten Form zeigen wird.<lb/>
Subjectiv aber ſoll wo möglich ein innerer Zuſammenhang ſeyn. Die<lb/>
Schuld ſoll aus denſelben Temperaments-Eigenſchaften fließen, wie die<lb/>
Tugend. Der Reformator eines Staats, einer Kirche z. B. mag in<lb/>ſeinem Eifer zu raſch verfahren u. dgl. Im Temperamente des Ajax<lb/>
iſt jene Raſerei ganz begründet. Oedipus erſcheint zwar vorzüglich<lb/>
als weiſer Heros, aber er hat doch auch die jähzornige Helden-Natur,<lb/>
und ſo bedenkt er nicht, daß der Zufall ihm auflauert, daß er durch<lb/>
den Orakelſpruch gewitzigt ſeyn ſollte, da er den Begegnenden, übrigens<lb/>
nach griechiſchen Begriffen an ſich mit Recht, erſchlägt. Einem Sigfried,<lb/>
gut und arglos, vertraulich wie er iſt, liegt nichts näher, als jener<lb/>
Fehler des Verplauderns. Conradin fällt durch ſeine Unvorſichtigkeit<lb/>
nach dem Siege bei Scurcola: ein Fehler, der ganz ſeiner Jugend<lb/>
entſpricht, deren Unternehmungsgeiſt eben ihn zugleich zum tragiſchen<lb/>
Helden erhebt. Othello rast um ſo fürchterlicher und iſt um ſo leichter<lb/>
zu täuſchen, je gewaltiger ſeine argloſe Natur vorher die Leidenſchaft<lb/>
in ſich zuſammenhielt. Hamlet, ſo weit er hieher gehört, muß unge-<lb/>ſchickt zum Handeln ſeyn gerade durch den Tiefſinn ſeiner denkenden Natur.<lb/>
Egmont in der Darſtellung des Dichters fällt durch denſelben Leichtſinn,<lb/>
der ihn zu dem beliebten Helden eines luſtigen Volkes macht.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">2. <hirendition="#g">Ariſtoteles</hi> weist bekanntlich (Poet. 13) die überaus Schlechten<lb/>
und ihren Sturz von der Tragödie völlig aus; denn dieſer Sturz würde,<lb/>
wie er meint, weder Mitleid noch Furcht erregen, weil wir jenes nur dem<lb/>
unverdienten Unglück ſchenken, mit dieſer nur Menſchen unſeres Gleichen<lb/>
begleiten. Unter dem unverdienten Unglück verſteht er natürlich kein ganz<lb/>
unverdientes, ſondern ein ſolches, das nur durch eine Schuld verdient iſt,<lb/>
die zur Strafe in keinem Verhältniſſe ſteht. Sein Grund ließe ſich leicht</hi><lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Viſcher’s</hi> Aeſthetik. 1. Bd. 20</fw><lb/></p></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[305/0319]
hältniß treffen und verletzt immer ein ſittliches Recht, aber nicht ein
ſolches, welches im vorliegenden Falle mit dem andern, durch das Patbos
des Helden vertretenen, an ſich eine weſentliche ſittliche Einheit bildet, wo
denn die Schuld in der Trennung des Zuſammengehörigen läge, ſondern
es iſt zufällig, welches Verhältniß verletzt wird. Ajax z. B. verletzt
durch ſein Raſen die Helden-Ehre: er hätte in ſeiner Leidenſchaftlichkeit
auch eine andere Schuld begehen können; Sigfried verletzt die Pflicht
der Verſchwiegenheit, indem er Chriemhilden das Geheimniß von
Brunhildens Brautnacht mittheilt: er hätte in ſeiner Harmloſigkeit
auch ein Verſehen anderer Art ſich zu Schulden kommen laſſen können.
Die Schuld ſteht alſo mit dem Streben des Helden nicht in dem orga-
niſchen Verhältniß, wie ſich dies in der dritten Form zeigen wird.
Subjectiv aber ſoll wo möglich ein innerer Zuſammenhang ſeyn. Die
Schuld ſoll aus denſelben Temperaments-Eigenſchaften fließen, wie die
Tugend. Der Reformator eines Staats, einer Kirche z. B. mag in
ſeinem Eifer zu raſch verfahren u. dgl. Im Temperamente des Ajax
iſt jene Raſerei ganz begründet. Oedipus erſcheint zwar vorzüglich
als weiſer Heros, aber er hat doch auch die jähzornige Helden-Natur,
und ſo bedenkt er nicht, daß der Zufall ihm auflauert, daß er durch
den Orakelſpruch gewitzigt ſeyn ſollte, da er den Begegnenden, übrigens
nach griechiſchen Begriffen an ſich mit Recht, erſchlägt. Einem Sigfried,
gut und arglos, vertraulich wie er iſt, liegt nichts näher, als jener
Fehler des Verplauderns. Conradin fällt durch ſeine Unvorſichtigkeit
nach dem Siege bei Scurcola: ein Fehler, der ganz ſeiner Jugend
entſpricht, deren Unternehmungsgeiſt eben ihn zugleich zum tragiſchen
Helden erhebt. Othello rast um ſo fürchterlicher und iſt um ſo leichter
zu täuſchen, je gewaltiger ſeine argloſe Natur vorher die Leidenſchaft
in ſich zuſammenhielt. Hamlet, ſo weit er hieher gehört, muß unge-
ſchickt zum Handeln ſeyn gerade durch den Tiefſinn ſeiner denkenden Natur.
Egmont in der Darſtellung des Dichters fällt durch denſelben Leichtſinn,
der ihn zu dem beliebten Helden eines luſtigen Volkes macht.
2. Ariſtoteles weist bekanntlich (Poet. 13) die überaus Schlechten
und ihren Sturz von der Tragödie völlig aus; denn dieſer Sturz würde,
wie er meint, weder Mitleid noch Furcht erregen, weil wir jenes nur dem
unverdienten Unglück ſchenken, mit dieſer nur Menſchen unſeres Gleichen
begleiten. Unter dem unverdienten Unglück verſteht er natürlich kein ganz
unverdientes, ſondern ein ſolches, das nur durch eine Schuld verdient iſt,
die zur Strafe in keinem Verhältniſſe ſteht. Sein Grund ließe ſich leicht
Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 20
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/319>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.