Dieser und die ff. §§. sollen kein Commentar der Stelle des Aristo- teles seyn, Poet. 6: esin ou'~n tragodia mimesis praxeos spoudaias kai teleias, megethos ekhou'ses u. s. w., di eleou kai phobou perainousa ten ton toiou'ton pathematon katharsin. Die Stelle und was in der Rhetorik, Politik und Poetik mit ihr zusammenhängt, ist ebenso anregend als un- genügend, und wenn der Philolog billig dem Reize der Ergänzung folgt, so hat der Aesthetiker sich zu erinnern, daß die Zeit der Autoritäten vorüber ist. Das Treffende der Stelle ist, daß richtiger und einfacher die negativen Grundgefühle des Tragischen nicht ausgesprochen werden können, das Mangelhafte (ob Lücke, ob Unterlassung ist hier nicht zu untersuchen), daß die positiven oder Lust-Gefühle, zu denen jene beiden in ihrer Reinigung sich umbilden, nicht genannt sind; denn mag auch die ganze Reinigung nur homöopathisch seyn und gerade in der Steigerung zu einer Krise bestehen, gereinigt müssen jene Gefühle doch andere Namen führen, als ungeläutert. Allein es handelt sich hier noch von etwas Anderem, warum die Stelle für eine Wissenschaft der Aesthetik nicht Autorität seyn kann. Aristoteles spricht, ganz in antiker Weise, von Furcht und Mitleid, wie sie außerhalb des Gebiets ästhetischer Wirkung als natürliche Affecte und zwar mit der Leidenschaftlichkeit des Südens auftreten, während die jetzige Aesthetik diese Affecte, selbst wie sie als noch unvollkommene erste Wirkung des Tragischen auftreten, als eine geläuterte contemplative Unlust aufführt: d. h. als eine Unlust, welche zwar nur möglich ist, sofern der Zuschauer sich in die Bedrohten und Leidenden hineinversetzt, aber wobei doch von rein stoffartiger Furcht und Mitleid nicht mehr die Rede ist. Stoffartig also, wie sie sind, sollen diese Affecte durch die Tragödie geläutert werden. Bei dieser Läuterung nun berücksichtigt offenbar Aristoteles zunächst den idealen Gehalt der Tragödie nicht, sondern nur folgende Punkte: erstens die mimesis. Aus dieser entsteht (a. a. O. 14) e apo eleou kai phobou edone. (Vergl. Ed. Müller Gesch. d. Theorie d. Kunst bei d. Alten Th. 2, S. 62. 66. 67). Die Affecte werden dadurch gereinigt, daß sie durch eine Handlung erregt werden, die nicht wirklich, nur dargestellt ist. Dies ist es also, diese Entfernung des Stoffartigen, was die jetzige Aesthetik schon voraussetzt. Zweitens: das Hineinversetzen in die bedrohten und leidenden Subjecte, welches daraus folgt; ich fürchte und leide zwar mit ihnen, aber doch wesentlich nur in ihnen, so daß in der Theilnahme das Stoffartige des Affects aus mir gezogen wird, sich von mir ablöst. Hier nun ist das Wichtigste dies, was schon §. 142, 1 angeführt ist: daß Aristoteles Furcht und Mitleiden als Momente Eines Affects scharf-
Dieſer und die ff. §§. ſollen kein Commentar der Stelle des Ariſto- teles ſeyn, Poet. 6: ἔςιν ȣ῏ν τραγωδία μίμησις πράξεως σπȣδαίας καὶ τελείας, μέγεϑος ἐχȣ´σης u. ſ. w., δι̕ ἐλέȣ καὶ φόβȣ περαίνȣσα τὴν τῶν τοιȣ´των παϑημάτων κάϑαρσιν. Die Stelle und was in der Rhetorik, Politik und Poetik mit ihr zuſammenhängt, iſt ebenſo anregend als un- genügend, und wenn der Philolog billig dem Reize der Ergänzung folgt, ſo hat der Aeſthetiker ſich zu erinnern, daß die Zeit der Autoritäten vorüber iſt. Das Treffende der Stelle iſt, daß richtiger und einfacher die negativen Grundgefühle des Tragiſchen nicht ausgeſprochen werden können, das Mangelhafte (ob Lücke, ob Unterlaſſung iſt hier nicht zu unterſuchen), daß die poſitiven oder Luſt-Gefühle, zu denen jene beiden in ihrer Reinigung ſich umbilden, nicht genannt ſind; denn mag auch die ganze Reinigung nur homöopathiſch ſeyn und gerade in der Steigerung zu einer Kriſe beſtehen, gereinigt müſſen jene Gefühle doch andere Namen führen, als ungeläutert. Allein es handelt ſich hier noch von etwas Anderem, warum die Stelle für eine Wiſſenſchaft der Aeſthetik nicht Autorität ſeyn kann. Ariſtoteles ſpricht, ganz in antiker Weiſe, von Furcht und Mitleid, wie ſie außerhalb des Gebiets äſthetiſcher Wirkung als natürliche Affecte und zwar mit der Leidenſchaftlichkeit des Südens auftreten, während die jetzige Aeſthetik dieſe Affecte, ſelbſt wie ſie als noch unvollkommene erſte Wirkung des Tragiſchen auftreten, als eine geläuterte contemplative Unluſt aufführt: d. h. als eine Unluſt, welche zwar nur möglich iſt, ſofern der Zuſchauer ſich in die Bedrohten und Leidenden hineinverſetzt, aber wobei doch von rein ſtoffartiger Furcht und Mitleid nicht mehr die Rede iſt. Stoffartig alſo, wie ſie ſind, ſollen dieſe Affecte durch die Tragödie geläutert werden. Bei dieſer Läuterung nun berückſichtigt offenbar Ariſtoteles zunächſt den idealen Gehalt der Tragödie nicht, ſondern nur folgende Punkte: erſtens die μίμησις. Aus dieſer entſteht (a. a. O. 14) ἡ ἀπὸ ἐλέȣ καὶ φόβȣ ἡδονὴ. (Vergl. Ed. Müller Geſch. d. Theorie d. Kunſt bei d. Alten Th. 2, S. 62. 66. 67). Die Affecte werden dadurch gereinigt, daß ſie durch eine Handlung erregt werden, die nicht wirklich, nur dargeſtellt iſt. Dies iſt es alſo, dieſe Entfernung des Stoffartigen, was die jetzige Aeſthetik ſchon vorausſetzt. Zweitens: das Hineinverſetzen in die bedrohten und leidenden Subjecte, welches daraus folgt; ich fürchte und leide zwar mit ihnen, aber doch weſentlich nur in ihnen, ſo daß in der Theilnahme das Stoffartige des Affects aus mir gezogen wird, ſich von mir ablöst. Hier nun iſt das Wichtigſte dies, was ſchon §. 142, 1 angeführt iſt: daß Ariſtoteles Furcht und Mitleiden als Momente Eines Affects ſcharf-
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Dieſer und die ff. §§. ſollen kein Commentar der Stelle des Ariſto-
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τελείας, μέγεϑος ἐχȣ´σης u. ſ. w., δι̕ ἐλέȣ καὶ φόβȣ περαίνȣσα τὴν τῶν
τοιȣ´των παϑημάτων κάϑαρσιν. Die Stelle und was in der Rhetorik,
Politik und Poetik mit ihr zuſammenhängt, iſt ebenſo anregend als un-
genügend, und wenn der Philolog billig dem Reize der Ergänzung folgt, ſo
hat der Aeſthetiker ſich zu erinnern, daß die Zeit der Autoritäten vorüber iſt.
Das Treffende der Stelle iſt, daß richtiger und einfacher die negativen
Grundgefühle des Tragiſchen nicht ausgeſprochen werden können, das
Mangelhafte (ob Lücke, ob Unterlaſſung iſt hier nicht zu unterſuchen),
daß die poſitiven oder Luſt-Gefühle, zu denen jene beiden in ihrer Reinigung
ſich umbilden, nicht genannt ſind; denn mag auch die ganze Reinigung
nur homöopathiſch ſeyn und gerade in der Steigerung zu einer Kriſe
beſtehen, gereinigt müſſen jene Gefühle doch andere Namen führen, als
ungeläutert. Allein es handelt ſich hier noch von etwas Anderem, warum
die Stelle für eine Wiſſenſchaft der Aeſthetik nicht Autorität ſeyn kann.
Ariſtoteles ſpricht, ganz in antiker Weiſe, von Furcht und Mitleid, wie
ſie außerhalb des Gebiets äſthetiſcher Wirkung als natürliche Affecte und
zwar mit der Leidenſchaftlichkeit des Südens auftreten, während die jetzige
Aeſthetik dieſe Affecte, ſelbſt wie ſie als noch unvollkommene erſte Wirkung
des Tragiſchen auftreten, als eine geläuterte contemplative Unluſt aufführt:
d. h. als eine Unluſt, welche zwar nur möglich iſt, ſofern der Zuſchauer
ſich in die Bedrohten und Leidenden hineinverſetzt, aber wobei doch von
rein ſtoffartiger Furcht und Mitleid nicht mehr die Rede iſt. Stoffartig
alſo, wie ſie ſind, ſollen dieſe Affecte durch die Tragödie geläutert werden.
Bei dieſer Läuterung nun berückſichtigt offenbar Ariſtoteles zunächſt
den idealen Gehalt der Tragödie nicht, ſondern nur folgende Punkte:
erſtens die μίμησις. Aus dieſer entſteht (a. a. O. 14) ἡ ἀπὸ ἐλέȣ
καὶ φόβȣ ἡδονὴ. (Vergl. Ed. Müller Geſch. d. Theorie d. Kunſt bei
d. Alten Th. 2, S. 62. 66. 67). Die Affecte werden dadurch gereinigt, daß ſie
durch eine Handlung erregt werden, die nicht wirklich, nur dargeſtellt iſt.
Dies iſt es alſo, dieſe Entfernung des Stoffartigen, was die jetzige Aeſthetik
ſchon vorausſetzt. Zweitens: das Hineinverſetzen in die bedrohten und
leidenden Subjecte, welches daraus folgt; ich fürchte und leide zwar
mit ihnen, aber doch weſentlich nur in ihnen, ſo daß in der Theilnahme
das Stoffartige des Affects aus mir gezogen wird, ſich von mir ablöst.
Hier nun iſt das Wichtigſte dies, was ſchon §. 142, 1 angeführt iſt:
daß Ariſtoteles Furcht und Mitleiden als Momente Eines Affects ſcharf-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/343>, abgerufen am 22.11.2024.
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