die ganze Tonleiter der in Furcht und Mitleid begriffenen Gefühle versteht, in der Furcht namentlich das besondere Moment der Spannung hervor- zuheben ist, in welcher außer der steigenden Bangigkeit, die selbst nicht ohne Lust ist, sobald der Zuschauer sich auf der Seite der drohenden Kraft schlägt, noch ein Reiz der Wißbegierde liegt.
§. 144.
Das Uebel bricht aus, die Furcht geht in Schrecken und Mitleid mit allen ihren Abstufungen über. Diese Gefühle nun schließen noch abgesehen von weiterer Erhebung nur die ganz allgemeine Lust durchgreifender Aufregung in sich, welche um so stärker ist, wenn beide zwischen wechselsweise sich verletzenden Kämpfern ihre Theilnahme wechseln. Aber nur das rohe oder stumpfe Gemüth befriedigt der Schrecken, weil er reizt, das Mitleid, weil es aufregend auflöst; dem ästhetisch Gestimmten werden beide zu einem Gefühle wahrer Unlust, weil bei dem Anblicke des Leidens, sofern zunächst dessen Mißverhältniß zur Schuld einseitig be- trachtet wird, auch die Lust verschwindet, die im vorigen Gefühle drohender Kraft lag.
Die Aufregung des Gemüths, die Aufrüttlung aller Nerven ist darum so tief und allgemein, weil Schrecken und Mitleid in widersprechenden Stellungen um so mehr das Herz bestürmen, je reiner das Tragische ist, insbesondere also bei der dritten Form des negativ Tragischen. Ich er- schrecke für den Feind des Helden und bemitleide ihn, ich sehe den Gegen- schlag und beide Gefühle werden auf diesen und ebenso auf betheiligte Nebenpersonen übergetragen. Es liegt in dieser Durchwühlung des Innern die abstracte Lust allgemeiner Aufrüttlung, aber, wie in anderem Zu- sammenhange die Anmerkungen schon §. 142, 1 ausgesprochen haben, nur dem unreinen Gemüthe genügt sie, nur die Barbarei der Rohheit oder Blasirtheit ist zufrieden gestellt durch unaufgelöste peinliche Effecte, etwa auch die phantasielose Ordentlichkeit, weil sie von der langen Weile befreit wird. Dem ästhetischen Gefühle fehlt nun die Versöhnung, denn mit der blosen Kraft kann es nicht mehr halten, da auf die Kraft ein neues Licht fällt, das sittliche, in dessen Beleuchtung sie als blose Kraft keinen Werth hat oder vielmehr Unwillen erregt, da sie nun als ungerecht erscheint.
§. 145.
Allein inzwischen hat sich im Fortgange das Ganze verändert. Die be- drohten Subjecte sind schuldig geworden und da diese Schuld darin bestand,
die ganze Tonleiter der in Furcht und Mitleid begriffenen Gefühle verſteht, in der Furcht namentlich das beſondere Moment der Spannung hervor- zuheben iſt, in welcher außer der ſteigenden Bangigkeit, die ſelbſt nicht ohne Luſt iſt, ſobald der Zuſchauer ſich auf der Seite der drohenden Kraft ſchlägt, noch ein Reiz der Wißbegierde liegt.
§. 144.
Das Uebel bricht aus, die Furcht geht in Schrecken und Mitleid mit allen ihren Abſtufungen über. Dieſe Gefühle nun ſchließen noch abgeſehen von weiterer Erhebung nur die ganz allgemeine Luſt durchgreifender Aufregung in ſich, welche um ſo ſtärker iſt, wenn beide zwiſchen wechſelsweiſe ſich verletzenden Kämpfern ihre Theilnahme wechſeln. Aber nur das rohe oder ſtumpfe Gemüth befriedigt der Schrecken, weil er reizt, das Mitleid, weil es aufregend auflöst; dem äſthetiſch Geſtimmten werden beide zu einem Gefühle wahrer Unluſt, weil bei dem Anblicke des Leidens, ſofern zunächſt deſſen Mißverhältniß zur Schuld einſeitig be- trachtet wird, auch die Luſt verſchwindet, die im vorigen Gefühle drohender Kraft lag.
Die Aufregung des Gemüths, die Aufrüttlung aller Nerven iſt darum ſo tief und allgemein, weil Schrecken und Mitleid in widerſprechenden Stellungen um ſo mehr das Herz beſtürmen, je reiner das Tragiſche iſt, insbeſondere alſo bei der dritten Form des negativ Tragiſchen. Ich er- ſchrecke für den Feind des Helden und bemitleide ihn, ich ſehe den Gegen- ſchlag und beide Gefühle werden auf dieſen und ebenſo auf betheiligte Nebenperſonen übergetragen. Es liegt in dieſer Durchwühlung des Innern die abſtracte Luſt allgemeiner Aufrüttlung, aber, wie in anderem Zu- ſammenhange die Anmerkungen ſchon §. 142, 1 ausgeſprochen haben, nur dem unreinen Gemüthe genügt ſie, nur die Barbarei der Rohheit oder Blaſirtheit iſt zufrieden geſtellt durch unaufgelöste peinliche Effecte, etwa auch die phantaſieloſe Ordentlichkeit, weil ſie von der langen Weile befreit wird. Dem äſthetiſchen Gefühle fehlt nun die Verſöhnung, denn mit der bloſen Kraft kann es nicht mehr halten, da auf die Kraft ein neues Licht fällt, das ſittliche, in deſſen Beleuchtung ſie als bloſe Kraft keinen Werth hat oder vielmehr Unwillen erregt, da ſie nun als ungerecht erſcheint.
§. 145.
Allein inzwiſchen hat ſich im Fortgange das Ganze verändert. Die be- drohten Subjecte ſind ſchuldig geworden und da dieſe Schuld darin beſtand,
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nicht ohne Luſt iſt, ſobald der Zuſchauer ſich auf der Seite der drohenden
Kraft ſchlägt, noch ein Reiz der Wißbegierde liegt.
§. 144.
Das Uebel bricht aus, die Furcht geht in Schrecken und Mitleid mit
allen ihren Abſtufungen über. Dieſe Gefühle nun ſchließen noch abgeſehen von
weiterer Erhebung nur die ganz allgemeine Luſt durchgreifender Aufregung in
ſich, welche um ſo ſtärker iſt, wenn beide zwiſchen wechſelsweiſe ſich verletzenden
Kämpfern ihre Theilnahme wechſeln. Aber nur das rohe oder ſtumpfe Gemüth
befriedigt der Schrecken, weil er reizt, das Mitleid, weil es aufregend auflöst; dem
äſthetiſch Geſtimmten werden beide zu einem Gefühle wahrer Unluſt, weil bei dem
Anblicke des Leidens, ſofern zunächſt deſſen Mißverhältniß zur Schuld einſeitig be-
trachtet wird, auch die Luſt verſchwindet, die im vorigen Gefühle drohender Kraft lag.
Die Aufregung des Gemüths, die Aufrüttlung aller Nerven iſt darum
ſo tief und allgemein, weil Schrecken und Mitleid in widerſprechenden
Stellungen um ſo mehr das Herz beſtürmen, je reiner das Tragiſche iſt,
insbeſondere alſo bei der dritten Form des negativ Tragiſchen. Ich er-
ſchrecke für den Feind des Helden und bemitleide ihn, ich ſehe den Gegen-
ſchlag und beide Gefühle werden auf dieſen und ebenſo auf betheiligte
Nebenperſonen übergetragen. Es liegt in dieſer Durchwühlung des Innern
die abſtracte Luſt allgemeiner Aufrüttlung, aber, wie in anderem Zu-
ſammenhange die Anmerkungen ſchon §. 142, 1 ausgeſprochen haben, nur
dem unreinen Gemüthe genügt ſie, nur die Barbarei der Rohheit oder
Blaſirtheit iſt zufrieden geſtellt durch unaufgelöste peinliche Effecte, etwa
auch die phantaſieloſe Ordentlichkeit, weil ſie von der langen Weile befreit
wird. Dem äſthetiſchen Gefühle fehlt nun die Verſöhnung, denn mit der
bloſen Kraft kann es nicht mehr halten, da auf die Kraft ein neues Licht
fällt, das ſittliche, in deſſen Beleuchtung ſie als bloſe Kraft keinen Werth
hat oder vielmehr Unwillen erregt, da ſie nun als ungerecht erſcheint.
§. 145.
Allein inzwiſchen hat ſich im Fortgange das Ganze verändert. Die be-
drohten Subjecte ſind ſchuldig geworden und da dieſe Schuld darin beſtand,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/345>, abgerufen am 22.11.2024.
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