für Weiße (§. 27), daß die Gespensterwelt der Häßlichkeit nichts Anderes sey, als die reine, d. h. durch keine Zucht noch Bildung be- zwungene Phantasie, die eigensinnige Phantasie des Individuums. Die zuchtlose Phantasie ist vielmehr noch nicht oder nicht mehr Phantasie; die Phantasie hat das Gute als aufgehobenes Moment in sich und braucht keine Zucht von der Theologie. Weiter (§. 28) wird der letzte und zureichende Grund dieser Gespensterbildung in dem Bösen gesucht: die Vollendung des Abirrens von dem Zusammenhange der Aesthetik. Wenn die Phantasie sich erst durch positive Religion ergänzen soll, ist freilich die reine Phantasie das Böse. In anderer, doch ebenfalls ethisirender Weise nimmt Ruge (a. a. O. S. 90 ff.) den Uebergang: der Geist muß aus der Erhebung zurücksinken; hält er diesen Zustand des Stagnirens fest und behauptet ihn als das Wahre, so wird der Abfall prinzipiell, und die Erscheinung dieses Abfalls ist die Häßlichkeit. Allein was die Aesthetik sucht und fordert, ist eben die Erscheinung, die Ruge nur nachträglich hinzugibt, mag sie nun das eigentlich Böse oder Verkehrung des Geistes, der erst Seele ist (vergl. §. 108, 1) oder irgend eine andere der nun zu nennenden Formen zu ihrem Innern haben.
§. 150.
Soll nun die reine Häßlichkeit entstehen, so muß das Schöne dasjenige in der Erscheinung aufbieten, wodurch, wenn nicht der weitere Act der Auf- hebung in der Idee folgt, diese in Verkümmerung untergeht: die verworrenen Uebergangsformen zwischen den Reichen der als unbewußtes Leben wirklichen Idee (§. 18) und das ganze Gebiet der Zufälligkeit, wie sie sowohl die Entstehung der Individuen beherrscht (§. 31), als auch in der unendlichen Eigenheit derselben (§. 32), die sich aber hier nicht, wie in der Lehre vom Er- habenen, zur furchtbaren Bosheit steigern darf, und im Wechsel der Sollizitation (§. 33) wirksam ist. Das Erhabene hat die Zufälligkeit zwar nicht aufgehoben, aber streng durch die bindende Idee zusammengehalten; sie muß nun in ihrem ganzen Umfang hereinbrechen und selbst die schlechtweg störende Form der Zu- fälligkeit, welche in §. 40 als unästhetisch behauptet ist, das sinnlose Uebel nämlich, bleibt dabei nicht aus; denn hat die Idee nicht die Kraft, jene Zufälligkeiten zu beherrschen, so muß auch diese wirkliche Verkümmerung ein- brechen.
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für Weiße (§. 27), daß die Geſpenſterwelt der Häßlichkeit nichts Anderes ſey, als die reine, d. h. durch keine Zucht noch Bildung be- zwungene Phantaſie, die eigenſinnige Phantaſie des Individuums. Die zuchtloſe Phantaſie iſt vielmehr noch nicht oder nicht mehr Phantaſie; die Phantaſie hat das Gute als aufgehobenes Moment in ſich und braucht keine Zucht von der Theologie. Weiter (§. 28) wird der letzte und zureichende Grund dieſer Geſpenſterbildung in dem Böſen geſucht: die Vollendung des Abirrens von dem Zuſammenhange der Aeſthetik. Wenn die Phantaſie ſich erſt durch poſitive Religion ergänzen ſoll, iſt freilich die reine Phantaſie das Böſe. In anderer, doch ebenfalls ethiſirender Weiſe nimmt Ruge (a. a. O. S. 90 ff.) den Uebergang: der Geiſt muß aus der Erhebung zurückſinken; hält er dieſen Zuſtand des Stagnirens feſt und behauptet ihn als das Wahre, ſo wird der Abfall prinzipiell, und die Erſcheinung dieſes Abfalls iſt die Häßlichkeit. Allein was die Aeſthetik ſucht und fordert, iſt eben die Erſcheinung, die Ruge nur nachträglich hinzugibt, mag ſie nun das eigentlich Böſe oder Verkehrung des Geiſtes, der erſt Seele iſt (vergl. §. 108, 1) oder irgend eine andere der nun zu nennenden Formen zu ihrem Innern haben.
§. 150.
Soll nun die reine Häßlichkeit entſtehen, ſo muß das Schöne dasjenige in der Erſcheinung aufbieten, wodurch, wenn nicht der weitere Act der Auf- hebung in der Idee folgt, dieſe in Verkümmerung untergeht: die verworrenen Uebergangsformen zwiſchen den Reichen der als unbewußtes Leben wirklichen Idee (§. 18) und das ganze Gebiet der Zufälligkeit, wie ſie ſowohl die Entſtehung der Individuen beherrſcht (§. 31), als auch in der unendlichen Eigenheit derſelben (§. 32), die ſich aber hier nicht, wie in der Lehre vom Er- habenen, zur furchtbaren Bosheit ſteigern darf, und im Wechſel der Sollizitation (§. 33) wirkſam iſt. Das Erhabene hat die Zufälligkeit zwar nicht aufgehoben, aber ſtreng durch die bindende Idee zuſammengehalten; ſie muß nun in ihrem ganzen Umfang hereinbrechen und ſelbſt die ſchlechtweg ſtörende Form der Zu- fälligkeit, welche in §. 40 als unäſthetiſch behauptet iſt, das ſinnloſe Uebel nämlich, bleibt dabei nicht aus; denn hat die Idee nicht die Kraft, jene Zufälligkeiten zu beherrſchen, ſo muß auch dieſe wirkliche Verkümmerung ein- brechen.
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für Weiße (§. 27), daß die Geſpenſterwelt der Häßlichkeit nichts
Anderes ſey, als die reine, d. h. durch keine Zucht noch Bildung be-
zwungene Phantaſie, die eigenſinnige Phantaſie des Individuums. Die
zuchtloſe Phantaſie iſt vielmehr noch nicht oder nicht mehr Phantaſie;
die Phantaſie hat das Gute als aufgehobenes Moment in ſich und braucht
keine Zucht von der Theologie. Weiter (§. 28) wird der letzte und
zureichende Grund dieſer Geſpenſterbildung in dem Böſen geſucht: die
Vollendung des Abirrens von dem Zuſammenhange der Aeſthetik. Wenn
die Phantaſie ſich erſt durch poſitive Religion ergänzen ſoll, iſt freilich
die reine Phantaſie das Böſe. In anderer, doch ebenfalls ethiſirender
Weiſe nimmt Ruge (a. a. O. S. 90 ff.) den Uebergang: der Geiſt muß
aus der Erhebung zurückſinken; hält er dieſen Zuſtand des Stagnirens
feſt und behauptet ihn als das Wahre, ſo wird der Abfall prinzipiell,
und die Erſcheinung dieſes Abfalls iſt die Häßlichkeit. Allein was die
Aeſthetik ſucht und fordert, iſt eben die Erſcheinung, die Ruge nur
nachträglich hinzugibt, mag ſie nun das eigentlich Böſe oder Verkehrung
des Geiſtes, der erſt Seele iſt (vergl. §. 108, 1) oder irgend eine
andere der nun zu nennenden Formen zu ihrem Innern haben.
§. 150.
Soll nun die reine Häßlichkeit entſtehen, ſo muß das Schöne dasjenige
in der Erſcheinung aufbieten, wodurch, wenn nicht der weitere Act der Auf-
hebung in der Idee folgt, dieſe in Verkümmerung untergeht: die verworrenen
Uebergangsformen zwiſchen den Reichen der als unbewußtes Leben wirklichen
Idee (§. 18) und das ganze Gebiet der Zufälligkeit, wie ſie ſowohl die
Entſtehung der Individuen beherrſcht (§. 31), als auch in der unendlichen
Eigenheit derſelben (§. 32), die ſich aber hier nicht, wie in der Lehre vom Er-
habenen, zur furchtbaren Bosheit ſteigern darf, und im Wechſel der Sollizitation
(§. 33) wirkſam iſt. Das Erhabene hat die Zufälligkeit zwar nicht aufgehoben,
aber ſtreng durch die bindende Idee zuſammengehalten; ſie muß nun in ihrem
ganzen Umfang hereinbrechen und ſelbſt die ſchlechtweg ſtörende Form der Zu-
fälligkeit, welche in §. 40 als unäſthetiſch behauptet iſt, das ſinnloſe Uebel
nämlich, bleibt dabei nicht aus; denn hat die Idee nicht die Kraft, jene
Zufälligkeiten zu beherrſchen, ſo muß auch dieſe wirkliche Verkümmerung ein-
brechen.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/353>, abgerufen am 22.11.2024.
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