Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

ist, verschiedene Stufen hat. Da nun diese Einheit sich als reinste Mitte
zeigt im classischen Ideal, so hat Schiller dieses in der Abh. über naive
und sentimentale Dichtkunst als spezifisch naiv bezeichnet, freilich aber den
Begriff des Naiven in dieser Anwendung falsch erklärt, wovon an seinem
Orte zu reden ist. Dieser ganze Gebrauch des Begriffs der Naivetät
gehört aber nicht hieher, weil komisch im eigentlich ästhetischen Zusammen-
hang das Naive nur dann ist, wenn der nicht naive Standpunkt in den
ästhetischen Gegenstand mitaufgenommen ist. Wenn wir über Homer
lächeln, so ist dies keine Form des Komischen; wenn aber vorgestellt wird,
als trete Homer oder einer seiner Helden in eine moderne Gesellschaft, so
müßte er Dinge thun, wodurch er komisch würde, weil er in der Meinung,
ganz klar zu erscheinen, vielmehr durchaus als Kind erscheinen würde; oder
umgekehrt, wenn ein moderner Mensch vorgestellt würde, wie er mit seinen
künstlichen Begriffen in die Gesellschaft alter Götter und Helden träte, so würde
sein Mangel an Naivetät, als wäre er selbst eine solche, zum Gelächter für diese
werden (Götter, Helden und Wieland). Eigentlich komisch also wird das Naive
erst, wenn die darin enthaltene Natur mit dem Geiste nicht einfach und
schlechthin Eins ist, sondern gegensätzlich mit ihm in einem Ganzen sich so
bewegt, daß der Geist, wo man eine ununterbrochene Darstellung seiner
klaren Strenge erwartete, plötzlich in Unbewußtes übergeht. Alles Unbe-
wußte und das ganze Reich der Zufälligkeit, wie es den Geist beschleicht
und unvermerkt in seine Zwecke sich mischt, kann unter dem Namen der
Natur befaßt werden und so ist alles Komische, wie von frühern
Aesthetikern öfters geschehen, naiv zu nennen. Kindliche Zeitalter, Völker,
Lebensstufen, Bildungsformen, wie sie oben erwähnt worden, können nun
als Stoff dieser wirklichen Komik erscheinen unter der genannten Bedingung,
daß der Gegensatz mitaufgenommen seyn muß, aber ebensogut abgesehen
von solchen Bildungsgegensätzen der ganz gebildete Mensch an sich oder
auch der minder Gebildete, kurz Jeder, sofern er da, wo er geistig er-
scheinen wollte, von der Natur, insbesondere von bewußtlos hervortretender
Eigenliebe überrascht wird. Daß die Natur nicht nackte Rohheit seyn darf,
sondern unschuldige Natur seyn, richtiger, daß in der Rohheit selbst die
gute Natur durchblitzen muß, folgt schon daraus, daß ja das Gegenglied,
worein das erste, erhabene Glied versinkt, im Komischen das Berechtigte
ist: davon ist aber erst zu reden, wenn das zweite Glied für sich betrachtet
werden wird. Schon hier könnten wir Stephan Schützes Definition
aufführen, die das Komische als ein Spiel bestimmt, das die Natur mit
der Freiheit des Menschen treibt (Versuch einer Theorie des Komischen

iſt, verſchiedene Stufen hat. Da nun dieſe Einheit ſich als reinſte Mitte
zeigt im claſſiſchen Ideal, ſo hat Schiller dieſes in der Abh. über naive
und ſentimentale Dichtkunſt als ſpezifiſch naiv bezeichnet, freilich aber den
Begriff des Naiven in dieſer Anwendung falſch erklärt, wovon an ſeinem
Orte zu reden iſt. Dieſer ganze Gebrauch des Begriffs der Naivetät
gehört aber nicht hieher, weil komiſch im eigentlich äſthetiſchen Zuſammen-
hang das Naive nur dann iſt, wenn der nicht naive Standpunkt in den
äſthetiſchen Gegenſtand mitaufgenommen iſt. Wenn wir über Homer
lächeln, ſo iſt dies keine Form des Komiſchen; wenn aber vorgeſtellt wird,
als trete Homer oder einer ſeiner Helden in eine moderne Geſellſchaft, ſo
müßte er Dinge thun, wodurch er komiſch würde, weil er in der Meinung,
ganz klar zu erſcheinen, vielmehr durchaus als Kind erſcheinen würde; oder
umgekehrt, wenn ein moderner Menſch vorgeſtellt würde, wie er mit ſeinen
künſtlichen Begriffen in die Geſellſchaft alter Götter und Helden träte, ſo würde
ſein Mangel an Naivetät, als wäre er ſelbſt eine ſolche, zum Gelächter für dieſe
werden (Götter, Helden und Wieland). Eigentlich komiſch alſo wird das Naive
erſt, wenn die darin enthaltene Natur mit dem Geiſte nicht einfach und
ſchlechthin Eins iſt, ſondern gegenſätzlich mit ihm in einem Ganzen ſich ſo
bewegt, daß der Geiſt, wo man eine ununterbrochene Darſtellung ſeiner
klaren Strenge erwartete, plötzlich in Unbewußtes übergeht. Alles Unbe-
wußte und das ganze Reich der Zufälligkeit, wie es den Geiſt beſchleicht
und unvermerkt in ſeine Zwecke ſich miſcht, kann unter dem Namen der
Natur befaßt werden und ſo iſt alles Komiſche, wie von frühern
Aeſthetikern öfters geſchehen, naiv zu nennen. Kindliche Zeitalter, Völker,
Lebensſtufen, Bildungsformen, wie ſie oben erwähnt worden, können nun
als Stoff dieſer wirklichen Komik erſcheinen unter der genannten Bedingung,
daß der Gegenſatz mitaufgenommen ſeyn muß, aber ebenſogut abgeſehen
von ſolchen Bildungsgegenſätzen der ganz gebildete Menſch an ſich oder
auch der minder Gebildete, kurz Jeder, ſofern er da, wo er geiſtig er-
ſcheinen wollte, von der Natur, insbeſondere von bewußtlos hervortretender
Eigenliebe überraſcht wird. Daß die Natur nicht nackte Rohheit ſeyn darf,
ſondern unſchuldige Natur ſeyn, richtiger, daß in der Rohheit ſelbſt die
gute Natur durchblitzen muß, folgt ſchon daraus, daß ja das Gegenglied,
worein das erſte, erhabene Glied verſinkt, im Komiſchen das Berechtigte
iſt: davon iſt aber erſt zu reden, wenn das zweite Glied für ſich betrachtet
werden wird. Schon hier könnten wir Stephan Schützes Definition
aufführen, die das Komiſche als ein Spiel beſtimmt, das die Natur mit
der Freiheit des Menſchen treibt (Verſuch einer Theorie des Komiſchen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0372" n="358"/>
i&#x017F;t, ver&#x017F;chiedene Stufen hat. Da nun die&#x017F;e Einheit &#x017F;ich als rein&#x017F;te Mitte<lb/>
zeigt im cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Ideal, &#x017F;o hat <hi rendition="#g">Schiller</hi> die&#x017F;es in der Abh. über naive<lb/>
und &#x017F;entimentale Dichtkun&#x017F;t als &#x017F;pezifi&#x017F;ch naiv bezeichnet, freilich aber den<lb/>
Begriff des Naiven in die&#x017F;er Anwendung fal&#x017F;ch erklärt, wovon an &#x017F;einem<lb/>
Orte zu reden i&#x017F;t. Die&#x017F;er ganze Gebrauch des Begriffs der Naivetät<lb/>
gehört aber nicht hieher, weil <hi rendition="#g">komi&#x017F;ch</hi> im eigentlich ä&#x017F;theti&#x017F;chen Zu&#x017F;ammen-<lb/>
hang das Naive nur dann i&#x017F;t, wenn der <hi rendition="#g">nicht naive</hi> Standpunkt in den<lb/>
ä&#x017F;theti&#x017F;chen Gegen&#x017F;tand <hi rendition="#g">mitaufgenommen i&#x017F;t</hi>. Wenn wir über <hi rendition="#g">Homer</hi><lb/>
lächeln, &#x017F;o i&#x017F;t dies keine Form des Komi&#x017F;chen; wenn aber vorge&#x017F;tellt wird,<lb/>
als trete <hi rendition="#g">Homer</hi> oder einer &#x017F;einer Helden in eine moderne Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft, &#x017F;o<lb/>
müßte er Dinge thun, wodurch er komi&#x017F;ch würde, weil er in der Meinung,<lb/>
ganz klar zu er&#x017F;cheinen, vielmehr durchaus als Kind er&#x017F;cheinen würde; oder<lb/>
umgekehrt, wenn ein moderner Men&#x017F;ch vorge&#x017F;tellt würde, wie er mit &#x017F;einen<lb/>
kün&#x017F;tlichen Begriffen in die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft alter Götter und Helden träte, &#x017F;o würde<lb/>
&#x017F;ein Mangel an Naivetät, als wäre er &#x017F;elb&#x017F;t eine &#x017F;olche, zum Gelächter für die&#x017F;e<lb/>
werden (Götter, Helden und Wieland). Eigentlich komi&#x017F;ch al&#x017F;o wird das Naive<lb/>
er&#x017F;t, wenn die darin enthaltene Natur mit dem Gei&#x017F;te nicht einfach und<lb/>
&#x017F;chlechthin Eins i&#x017F;t, &#x017F;ondern gegen&#x017F;ätzlich mit ihm in einem Ganzen &#x017F;ich &#x017F;o<lb/>
bewegt, daß der Gei&#x017F;t, wo man eine ununterbrochene Dar&#x017F;tellung &#x017F;einer<lb/>
klaren Strenge erwartete, plötzlich in Unbewußtes übergeht. Alles Unbe-<lb/>
wußte und das ganze Reich der Zufälligkeit, wie es den Gei&#x017F;t be&#x017F;chleicht<lb/>
und unvermerkt in &#x017F;eine Zwecke &#x017F;ich mi&#x017F;cht, kann unter dem Namen der<lb/>
Natur befaßt werden und &#x017F;o i&#x017F;t alles Komi&#x017F;che, wie von frühern<lb/>
Ae&#x017F;thetikern öfters ge&#x017F;chehen, naiv zu nennen. Kindliche Zeitalter, Völker,<lb/>
Lebens&#x017F;tufen, Bildungsformen, wie &#x017F;ie oben erwähnt worden, können nun<lb/>
als Stoff die&#x017F;er wirklichen Komik er&#x017F;cheinen unter der genannten Bedingung,<lb/>
daß der Gegen&#x017F;atz mitaufgenommen &#x017F;eyn muß, aber eben&#x017F;ogut abge&#x017F;ehen<lb/>
von &#x017F;olchen Bildungsgegen&#x017F;ätzen der ganz gebildete Men&#x017F;ch an &#x017F;ich oder<lb/>
auch der minder Gebildete, kurz Jeder, &#x017F;ofern er da, wo er gei&#x017F;tig er-<lb/>
&#x017F;cheinen wollte, von der Natur, insbe&#x017F;ondere von bewußtlos hervortretender<lb/>
Eigenliebe überra&#x017F;cht wird. Daß die Natur nicht nackte Rohheit &#x017F;eyn darf,<lb/>
&#x017F;ondern un&#x017F;chuldige Natur &#x017F;eyn, richtiger, daß in der Rohheit &#x017F;elb&#x017F;t die<lb/>
gute Natur durchblitzen muß, folgt &#x017F;chon daraus, daß ja das Gegenglied,<lb/>
worein das er&#x017F;te, erhabene Glied ver&#x017F;inkt, im Komi&#x017F;chen das Berechtigte<lb/>
i&#x017F;t: davon i&#x017F;t aber er&#x017F;t zu reden, wenn das zweite Glied für &#x017F;ich betrachtet<lb/>
werden wird. Schon hier könnten wir <hi rendition="#g">Stephan Schützes</hi> Definition<lb/>
aufführen, die das Komi&#x017F;che als ein Spiel be&#x017F;timmt, das die Natur mit<lb/>
der Freiheit des Men&#x017F;chen treibt (Ver&#x017F;uch einer Theorie des Komi&#x017F;chen<lb/></hi> </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[358/0372] iſt, verſchiedene Stufen hat. Da nun dieſe Einheit ſich als reinſte Mitte zeigt im claſſiſchen Ideal, ſo hat Schiller dieſes in der Abh. über naive und ſentimentale Dichtkunſt als ſpezifiſch naiv bezeichnet, freilich aber den Begriff des Naiven in dieſer Anwendung falſch erklärt, wovon an ſeinem Orte zu reden iſt. Dieſer ganze Gebrauch des Begriffs der Naivetät gehört aber nicht hieher, weil komiſch im eigentlich äſthetiſchen Zuſammen- hang das Naive nur dann iſt, wenn der nicht naive Standpunkt in den äſthetiſchen Gegenſtand mitaufgenommen iſt. Wenn wir über Homer lächeln, ſo iſt dies keine Form des Komiſchen; wenn aber vorgeſtellt wird, als trete Homer oder einer ſeiner Helden in eine moderne Geſellſchaft, ſo müßte er Dinge thun, wodurch er komiſch würde, weil er in der Meinung, ganz klar zu erſcheinen, vielmehr durchaus als Kind erſcheinen würde; oder umgekehrt, wenn ein moderner Menſch vorgeſtellt würde, wie er mit ſeinen künſtlichen Begriffen in die Geſellſchaft alter Götter und Helden träte, ſo würde ſein Mangel an Naivetät, als wäre er ſelbſt eine ſolche, zum Gelächter für dieſe werden (Götter, Helden und Wieland). Eigentlich komiſch alſo wird das Naive erſt, wenn die darin enthaltene Natur mit dem Geiſte nicht einfach und ſchlechthin Eins iſt, ſondern gegenſätzlich mit ihm in einem Ganzen ſich ſo bewegt, daß der Geiſt, wo man eine ununterbrochene Darſtellung ſeiner klaren Strenge erwartete, plötzlich in Unbewußtes übergeht. Alles Unbe- wußte und das ganze Reich der Zufälligkeit, wie es den Geiſt beſchleicht und unvermerkt in ſeine Zwecke ſich miſcht, kann unter dem Namen der Natur befaßt werden und ſo iſt alles Komiſche, wie von frühern Aeſthetikern öfters geſchehen, naiv zu nennen. Kindliche Zeitalter, Völker, Lebensſtufen, Bildungsformen, wie ſie oben erwähnt worden, können nun als Stoff dieſer wirklichen Komik erſcheinen unter der genannten Bedingung, daß der Gegenſatz mitaufgenommen ſeyn muß, aber ebenſogut abgeſehen von ſolchen Bildungsgegenſätzen der ganz gebildete Menſch an ſich oder auch der minder Gebildete, kurz Jeder, ſofern er da, wo er geiſtig er- ſcheinen wollte, von der Natur, insbeſondere von bewußtlos hervortretender Eigenliebe überraſcht wird. Daß die Natur nicht nackte Rohheit ſeyn darf, ſondern unſchuldige Natur ſeyn, richtiger, daß in der Rohheit ſelbſt die gute Natur durchblitzen muß, folgt ſchon daraus, daß ja das Gegenglied, worein das erſte, erhabene Glied verſinkt, im Komiſchen das Berechtigte iſt: davon iſt aber erſt zu reden, wenn das zweite Glied für ſich betrachtet werden wird. Schon hier könnten wir Stephan Schützes Definition aufführen, die das Komiſche als ein Spiel beſtimmt, das die Natur mit der Freiheit des Menſchen treibt (Verſuch einer Theorie des Komiſchen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/372
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/372>, abgerufen am 25.11.2024.