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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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der Anpreisung zu Tage kommt, oder sie sagt die entgegengesetzten schönen
Eigenschaften von ihm aus. Jene Form ist reiner als diese, denn sie erzeugt
sicherer den geforderten Schein und zugleich geht sie inniger in das verlachte
Subject ein, entbindet in ihm die Besinnung und zieht es zu sich heran; diese
dagegen ist ihrem eigenen Schein im Wege, stößt das verlachte Subject ab und
kann ihre Bitterkeit bis zu dem vernichtenden Hohne des Sarkasmus steigern.
Aber auch jene reinere, anknüpfende Form ist in ihrer Milde strafend, indem
das verlachte Subject nur um den Preis herber Selbsterkenntniß in das leihende
freiere Bewußtseyn aufgenommen wird.

Wenn die Schildbürger das Licht in Säcke packen und die Stämme,
die sie einen jähen Berg herabtragen, nachdem sie entdeckt, daß man sie
herabrutschen kann, wieder hinaufschleppen, um diese zweckmäßigere
Manier mit ihnen vorzunehmen, so ist dies schwer ironisch zu behandeln,
weil es allzu komisch ist. Dennoch hat das Volksbuch den ironischen
Standpunkt gewonnen, indem es ihnen für alle Thorheiten den Grund
vorstreckt: sie mußten ihre Weisheit verbergen, um nicht immer in alle
Welt als Räthe fortgerufen zu werden, und geriethen darüber allmählich
in die Rolle der Narrheit so hinein, daß sie ihnen eine Naturnothwen-
digkeit wurde. Bei weniger plumpen Thorheiten ist dieses Vorstrecken von
Gründen viel leichter und hat dann freilich auch den Vortheil, spezieller
seyn zu können. Wird aber geradezu von einer Thorheit ausgesagt, sie
sey höchst weise, so fehlt der Schein des Ernstes. Auch dies hat J. Paul
ausgesprochen: "der Ironiker kann seinem Objecte kaum Gründe und Schein
genug verleihen." Für das getroffene Subject ist dieses Gründe leihende Ver-
fahren eigentlich das schmerzlichere, aber eben weil es in's Innere geht, so
erleichtert es demselben das Insichgehen und ebendaher das Zusammengehen
mit dem Ironiker, wogegen das positive unmotivirte Lob kränkender Hohn ohne
Versöhnung ist. Dieses nämlich hält dem Verirrten unerbittlich vor, was
er nicht hat, indem man spricht, als hätte er es; dagegen das erstere
wühlt dem Getroffenen zwar im Innern um, indem es seine Verirrung
aus ihrer eigenen Dialektik heraus als solche aufweist, läßt aber auch
ebendarum aus der Verirrung selbst heraus das wahre Bewußtseyn
entstehen, weist die Möglichkeit der Rückkehr zur Besinnung, zwar negativ,
in ihr selbst auf. Zum Sarkasmus wird jener Hohn, wenn die Größe
der Häßlichkeit dem Ironiker jeden Gedanken einer Zurechtlegung, eines
wohlmeinend eingehenden Leihens abschneidet, mag dies an sich oder nur
für sein Bewußtseyn sich so verhalten; der Gegenstand kann nicht biegen,

der Anpreiſung zu Tage kommt, oder ſie ſagt die entgegengeſetzten ſchönen
Eigenſchaften von ihm aus. Jene Form iſt reiner als dieſe, denn ſie erzeugt
ſicherer den geforderten Schein und zugleich geht ſie inniger in das verlachte
Subject ein, entbindet in ihm die Beſinnung und zieht es zu ſich heran; dieſe
dagegen iſt ihrem eigenen Schein im Wege, ſtößt das verlachte Subject ab und
kann ihre Bitterkeit bis zu dem vernichtenden Hohne des Sarkaſmus ſteigern.
Aber auch jene reinere, anknüpfende Form iſt in ihrer Milde ſtrafend, indem
das verlachte Subject nur um den Preis herber Selbſterkenntniß in das leihende
freiere Bewußtſeyn aufgenommen wird.

Wenn die Schildbürger das Licht in Säcke packen und die Stämme,
die ſie einen jähen Berg herabtragen, nachdem ſie entdeckt, daß man ſie
herabrutſchen kann, wieder hinaufſchleppen, um dieſe zweckmäßigere
Manier mit ihnen vorzunehmen, ſo iſt dies ſchwer ironiſch zu behandeln,
weil es allzu komiſch iſt. Dennoch hat das Volksbuch den ironiſchen
Standpunkt gewonnen, indem es ihnen für alle Thorheiten den Grund
vorſtreckt: ſie mußten ihre Weisheit verbergen, um nicht immer in alle
Welt als Räthe fortgerufen zu werden, und geriethen darüber allmählich
in die Rolle der Narrheit ſo hinein, daß ſie ihnen eine Naturnothwen-
digkeit wurde. Bei weniger plumpen Thorheiten iſt dieſes Vorſtrecken von
Gründen viel leichter und hat dann freilich auch den Vortheil, ſpezieller
ſeyn zu können. Wird aber geradezu von einer Thorheit ausgeſagt, ſie
ſey höchſt weiſe, ſo fehlt der Schein des Ernſtes. Auch dies hat J. Paul
ausgeſprochen: „der Ironiker kann ſeinem Objecte kaum Gründe und Schein
genug verleihen.“ Für das getroffene Subject iſt dieſes Gründe leihende Ver-
fahren eigentlich das ſchmerzlichere, aber eben weil es in’s Innere geht, ſo
erleichtert es demſelben das Inſichgehen und ebendaher das Zuſammengehen
mit dem Ironiker, wogegen das poſitive unmotivirte Lob kränkender Hohn ohne
Verſöhnung iſt. Dieſes nämlich hält dem Verirrten unerbittlich vor, was
er nicht hat, indem man ſpricht, als hätte er es; dagegen das erſtere
wühlt dem Getroffenen zwar im Innern um, indem es ſeine Verirrung
aus ihrer eigenen Dialektik heraus als ſolche aufweist, läßt aber auch
ebendarum aus der Verirrung ſelbſt heraus das wahre Bewußtſeyn
entſtehen, weist die Möglichkeit der Rückkehr zur Beſinnung, zwar negativ,
in ihr ſelbſt auf. Zum Sarkasmus wird jener Hohn, wenn die Größe
der Häßlichkeit dem Ironiker jeden Gedanken einer Zurechtlegung, eines
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[438/0452] der Anpreiſung zu Tage kommt, oder ſie ſagt die entgegengeſetzten ſchönen Eigenſchaften von ihm aus. Jene Form iſt reiner als dieſe, denn ſie erzeugt ſicherer den geforderten Schein und zugleich geht ſie inniger in das verlachte Subject ein, entbindet in ihm die Beſinnung und zieht es zu ſich heran; dieſe dagegen iſt ihrem eigenen Schein im Wege, ſtößt das verlachte Subject ab und kann ihre Bitterkeit bis zu dem vernichtenden Hohne des Sarkaſmus ſteigern. Aber auch jene reinere, anknüpfende Form iſt in ihrer Milde ſtrafend, indem das verlachte Subject nur um den Preis herber Selbſterkenntniß in das leihende freiere Bewußtſeyn aufgenommen wird. Wenn die Schildbürger das Licht in Säcke packen und die Stämme, die ſie einen jähen Berg herabtragen, nachdem ſie entdeckt, daß man ſie herabrutſchen kann, wieder hinaufſchleppen, um dieſe zweckmäßigere Manier mit ihnen vorzunehmen, ſo iſt dies ſchwer ironiſch zu behandeln, weil es allzu komiſch iſt. Dennoch hat das Volksbuch den ironiſchen Standpunkt gewonnen, indem es ihnen für alle Thorheiten den Grund vorſtreckt: ſie mußten ihre Weisheit verbergen, um nicht immer in alle Welt als Räthe fortgerufen zu werden, und geriethen darüber allmählich in die Rolle der Narrheit ſo hinein, daß ſie ihnen eine Naturnothwen- digkeit wurde. Bei weniger plumpen Thorheiten iſt dieſes Vorſtrecken von Gründen viel leichter und hat dann freilich auch den Vortheil, ſpezieller ſeyn zu können. Wird aber geradezu von einer Thorheit ausgeſagt, ſie ſey höchſt weiſe, ſo fehlt der Schein des Ernſtes. Auch dies hat J. Paul ausgeſprochen: „der Ironiker kann ſeinem Objecte kaum Gründe und Schein genug verleihen.“ Für das getroffene Subject iſt dieſes Gründe leihende Ver- fahren eigentlich das ſchmerzlichere, aber eben weil es in’s Innere geht, ſo erleichtert es demſelben das Inſichgehen und ebendaher das Zuſammengehen mit dem Ironiker, wogegen das poſitive unmotivirte Lob kränkender Hohn ohne Verſöhnung iſt. Dieſes nämlich hält dem Verirrten unerbittlich vor, was er nicht hat, indem man ſpricht, als hätte er es; dagegen das erſtere wühlt dem Getroffenen zwar im Innern um, indem es ſeine Verirrung aus ihrer eigenen Dialektik heraus als ſolche aufweist, läßt aber auch ebendarum aus der Verirrung ſelbſt heraus das wahre Bewußtſeyn entſtehen, weist die Möglichkeit der Rückkehr zur Beſinnung, zwar negativ, in ihr ſelbſt auf. Zum Sarkasmus wird jener Hohn, wenn die Größe der Häßlichkeit dem Ironiker jeden Gedanken einer Zurechtlegung, eines wohlmeinend eingehenden Leihens abſchneidet, mag dies an ſich oder nur für ſein Bewußtſeyn ſich ſo verhalten; der Gegenſtand kann nicht biegen,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/452>, abgerufen am 22.11.2024.