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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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über das ganze Verhältniß Hegels Encyklopädie der philosophischen
Wissenschaften Einleitung. Ihre Entstehung ist möglich, wenn der Stoff
so weit gesammelt ist, daß die Empirie selbst vermöge des zwar nicht
reinen, doch theils sinnreich überschauenden, theils scharfsinnig reflectirenden
Denkens, das ihr involvirt ist, gewisse allgemeine Standpunkte, Gesetze,
Eintheilungen findet, welche die reine Philosophie reizen, den Gedanken
in seiner reinen Allgemeinheit und Nothwendigkeit in dieses Gebiet hin-
einzutreiben. Die unabschließbare Natur der Erfahrung, welche eine un-
endliche Reihe einzelner neuer Entdeckungen in Aussicht stellt, darf sie
von ihrem Unternehmen nicht abschrecken; sie darf und soll das Zutrauen
haben, daß sie zu entscheiden vermag und daß ihre Resultate gesichert
sind, wie sehr auch die Erfahrung den Stoff noch erweitern mag. Das
beste Beispiel bietet die Aesthetik selbst. Sie war in dem Augenblicke
möglich, als Schelling das Prinzip der Einheit des Idealen und
Realen gefunden hatte. Dies war zunächst nur die metaphysische Vor-
aussetzung ihrer Möglichkeit, doch selbst der metaphysischen Entdeckung
mußte jene künstlerische Anschauungsweise der Natur und jener plastische
Sinn vorausgegangen seyn, den namentlich Winkelmann geweckt
hatte. Wirklich konnte aber die Aesthetik allerdings erst werden, als eine
geistvolle Kritik an der Hand der sinnvollen Empirie, der unbefangenen An-
schauung das große Hauptgesetz der Kunstgeschichte, den Gegensatz des
Klassischen und Romantischen, entdeckt hatte. Schelling selbst spricht
diesen Dualismus als leitenden Gedanken aus (Vorles. über die Meth.
d. akad. Stud. S. 319). Nun erst konnte der allgemeine Begriff des
Schönen, zu dessen Feststellung zunächst jene Metaphysik die Bedingung
enthielt, als Seele der wirklichen Schönheit systematisch durch die Stufen
seiner Realität verfolgt werden. Zugleich hatte die Empirie und Kritik
eine anderweitige Masse von Stoff gesammelt, den diese Arbeit als
gegeben voraussetzte. Nun ist allerdings seit den ersten systematischen
Durchführungen der Aesthetik unendlich viel Stoff einzelner neuer kunst-
geschichtlicher Entdeckungen gesammelt worden und wird in alle Zukunft
gesammelt werden, z. B. über einzelne Tempel des Alterthums, über
die vorgothischen Baustyle, über die Entstehung des gothischen u. s. w.
Allein die Aesthetik konnte auf die klare Erkenntniß des wesentlichen
Unterschieds im Grundcharakter zwischen dem Style des Mittelalters und
des klassischen Alterthums in der Baukunst (wie in den anderen Künsten)
ihre Entwicklung des Ideals begründen ohne Furcht, durch neue Ent-
deckungen in ihren Haupt-Resultaten gestört zu werden. So scheint,

Vischer's Aesthetik. 1. Bd. 3

über das ganze Verhältniß Hegels Encyklopädie der philoſophiſchen
Wiſſenſchaften Einleitung. Ihre Entſtehung iſt möglich, wenn der Stoff
ſo weit geſammelt iſt, daß die Empirie ſelbſt vermöge des zwar nicht
reinen, doch theils ſinnreich überſchauenden, theils ſcharfſinnig reflectirenden
Denkens, das ihr involvirt iſt, gewiſſe allgemeine Standpunkte, Geſetze,
Eintheilungen findet, welche die reine Philoſophie reizen, den Gedanken
in ſeiner reinen Allgemeinheit und Nothwendigkeit in dieſes Gebiet hin-
einzutreiben. Die unabſchließbare Natur der Erfahrung, welche eine un-
endliche Reihe einzelner neuer Entdeckungen in Ausſicht ſtellt, darf ſie
von ihrem Unternehmen nicht abſchrecken; ſie darf und ſoll das Zutrauen
haben, daß ſie zu entſcheiden vermag und daß ihre Reſultate geſichert
ſind, wie ſehr auch die Erfahrung den Stoff noch erweitern mag. Das
beſte Beiſpiel bietet die Aeſthetik ſelbſt. Sie war in dem Augenblicke
möglich, als Schelling das Prinzip der Einheit des Idealen und
Realen gefunden hatte. Dies war zunächſt nur die metaphyſiſche Vor-
ausſetzung ihrer Möglichkeit, doch ſelbſt der metaphyſiſchen Entdeckung
mußte jene künſtleriſche Anſchauungsweiſe der Natur und jener plaſtiſche
Sinn vorausgegangen ſeyn, den namentlich Winkelmann geweckt
hatte. Wirklich konnte aber die Aeſthetik allerdings erſt werden, als eine
geiſtvolle Kritik an der Hand der ſinnvollen Empirie, der unbefangenen An-
ſchauung das große Hauptgeſetz der Kunſtgeſchichte, den Gegenſatz des
Klaſſiſchen und Romantiſchen, entdeckt hatte. Schelling ſelbſt ſpricht
dieſen Dualismus als leitenden Gedanken aus (Vorleſ. über die Meth.
d. akad. Stud. S. 319). Nun erſt konnte der allgemeine Begriff des
Schönen, zu deſſen Feſtſtellung zunächſt jene Metaphyſik die Bedingung
enthielt, als Seele der wirklichen Schönheit ſyſtematiſch durch die Stufen
ſeiner Realität verfolgt werden. Zugleich hatte die Empirie und Kritik
eine anderweitige Maſſe von Stoff geſammelt, den dieſe Arbeit als
gegeben vorausſetzte. Nun iſt allerdings ſeit den erſten ſyſtematiſchen
Durchführungen der Aeſthetik unendlich viel Stoff einzelner neuer kunſt-
geſchichtlicher Entdeckungen geſammelt worden und wird in alle Zukunft
geſammelt werden, z. B. über einzelne Tempel des Alterthums, über
die vorgothiſchen Bauſtyle, über die Entſtehung des gothiſchen u. ſ. w.
Allein die Aeſthetik konnte auf die klare Erkenntniß des weſentlichen
Unterſchieds im Grundcharakter zwiſchen dem Style des Mittelalters und
des klaſſiſchen Alterthums in der Baukunſt (wie in den anderen Künſten)
ihre Entwicklung des Ideals begründen ohne Furcht, durch neue Ent-
deckungen in ihren Haupt-Reſultaten geſtört zu werden. So ſcheint,

Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 3
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[33/0047] über das ganze Verhältniß Hegels Encyklopädie der philoſophiſchen Wiſſenſchaften Einleitung. Ihre Entſtehung iſt möglich, wenn der Stoff ſo weit geſammelt iſt, daß die Empirie ſelbſt vermöge des zwar nicht reinen, doch theils ſinnreich überſchauenden, theils ſcharfſinnig reflectirenden Denkens, das ihr involvirt iſt, gewiſſe allgemeine Standpunkte, Geſetze, Eintheilungen findet, welche die reine Philoſophie reizen, den Gedanken in ſeiner reinen Allgemeinheit und Nothwendigkeit in dieſes Gebiet hin- einzutreiben. Die unabſchließbare Natur der Erfahrung, welche eine un- endliche Reihe einzelner neuer Entdeckungen in Ausſicht ſtellt, darf ſie von ihrem Unternehmen nicht abſchrecken; ſie darf und ſoll das Zutrauen haben, daß ſie zu entſcheiden vermag und daß ihre Reſultate geſichert ſind, wie ſehr auch die Erfahrung den Stoff noch erweitern mag. Das beſte Beiſpiel bietet die Aeſthetik ſelbſt. Sie war in dem Augenblicke möglich, als Schelling das Prinzip der Einheit des Idealen und Realen gefunden hatte. Dies war zunächſt nur die metaphyſiſche Vor- ausſetzung ihrer Möglichkeit, doch ſelbſt der metaphyſiſchen Entdeckung mußte jene künſtleriſche Anſchauungsweiſe der Natur und jener plaſtiſche Sinn vorausgegangen ſeyn, den namentlich Winkelmann geweckt hatte. Wirklich konnte aber die Aeſthetik allerdings erſt werden, als eine geiſtvolle Kritik an der Hand der ſinnvollen Empirie, der unbefangenen An- ſchauung das große Hauptgeſetz der Kunſtgeſchichte, den Gegenſatz des Klaſſiſchen und Romantiſchen, entdeckt hatte. Schelling ſelbſt ſpricht dieſen Dualismus als leitenden Gedanken aus (Vorleſ. über die Meth. d. akad. Stud. S. 319). Nun erſt konnte der allgemeine Begriff des Schönen, zu deſſen Feſtſtellung zunächſt jene Metaphyſik die Bedingung enthielt, als Seele der wirklichen Schönheit ſyſtematiſch durch die Stufen ſeiner Realität verfolgt werden. Zugleich hatte die Empirie und Kritik eine anderweitige Maſſe von Stoff geſammelt, den dieſe Arbeit als gegeben vorausſetzte. Nun iſt allerdings ſeit den erſten ſyſtematiſchen Durchführungen der Aeſthetik unendlich viel Stoff einzelner neuer kunſt- geſchichtlicher Entdeckungen geſammelt worden und wird in alle Zukunft geſammelt werden, z. B. über einzelne Tempel des Alterthums, über die vorgothiſchen Bauſtyle, über die Entſtehung des gothiſchen u. ſ. w. Allein die Aeſthetik konnte auf die klare Erkenntniß des weſentlichen Unterſchieds im Grundcharakter zwiſchen dem Style des Mittelalters und des klaſſiſchen Alterthums in der Baukunſt (wie in den anderen Künſten) ihre Entwicklung des Ideals begründen ohne Furcht, durch neue Ent- deckungen in ihren Haupt-Reſultaten geſtört zu werden. So ſcheint, Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 3

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/47>, abgerufen am 21.11.2024.