Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite
b.
Die thierische Schönheit.
§. 282.

Gegenüber der unbeseelten Pflanze steht der ästhetische Zuschauer noch
außerhalb des angeschauten Gegenstandes und findet sich selbst darin nur
soweit er sich ihm leihend unterschiebt. Er soll aber wirklich sich selbst im
Gegenstande begegnen, der Zuschauer soll auch im Gegenstande, dieser soll
wirklich persönlich sein. Der Verwirklichung dieses Gesetzes tritt die Natur
um einen Schritt näher, indem sie das beseelte, lebendige Wesen, das Thier
hervorbringt. Es tritt hiemit ein Wesen auf, dem seine Außenwelt nicht nur
thatsächlich Object ist, sondern so, daß es sie nach vielerlei Seiten mit Gefühl
seiner selbst, des Gegenstandes und seines Verhältnisses zu ihm durcharbeitend,
in sich aufnehmend genießt; die Natur gibt sich ein Centrum, worin sie sich
selbst vernimmt.

"Die ganze Schöpfung sollte durchgenossen, durchgefühlt, durchgearbeitet
werden", sagt Herder (a. a. O.). Dieß ist zunächst Gang und Gesetz
der Idee in ihrer Verwirklichung überhaupt; der §. drückt das Gesetz im
ästhetischen Sinne aus. Dürften wir bereits Kunstausdrücke brauchen, so
würden wir sagen: die Landschaft will ihre Staffage; die Luft will sich
im schwebenden Vogel, das Wasser im schwimmenden Fisch zum lebendigen
Centrum sammeln, das Land seinen Bewohner haben; naschende Ziegen
sollen Fels und Gesträuche, flüchtiges Wild soll den Wald beleben, der
Stier sich bequem am Boden lagern u. s. w. Unser Stoff wird immer
concreter, die unorganische Natur belebte sich durch die Pflanzenwelt, jetzt
bewegt sich in Licht, Luft, Farbenglanz, Wasser, Erde, Gras, Busch
und Wald das warme Thierleben. Es gibt allerdings Landschaften, die
wir lieber ohne Staffage sehen; es sind solche, deren Stimmung die höchste
Stille der Einsamkeit ist, wo der Naturgeist nur durch Licht, Luft, Wasser,
Erde und Pflanze mit sich selbst sprechen zu wollen scheint. Doch etwas
Lebendiges wird das Auge immer suchen, wäre es auch nur ein Rabe
oder ein lauschender Fuchs; es fragt sich aber, warum das Auge dieß
bedarf, und darauf antwortet der §. Es könnte indeß einseitig scheinen,
daß hier das Thier mit der umgebenden Natur durchaus zusammengenommen
wird; es muß ja auch für sich ästhetischer Gegenstand sein können, so daß

b.
Die thieriſche Schönheit.
§. 282.

Gegenüber der unbeſeelten Pflanze ſteht der äſthetiſche Zuſchauer noch
außerhalb des angeſchauten Gegenſtandes und findet ſich ſelbſt darin nur
ſoweit er ſich ihm leihend unterſchiebt. Er ſoll aber wirklich ſich ſelbſt im
Gegenſtande begegnen, der Zuſchauer ſoll auch im Gegenſtande, dieſer ſoll
wirklich perſönlich ſein. Der Verwirklichung dieſes Geſetzes tritt die Natur
um einen Schritt näher, indem ſie das beſeelte, lebendige Weſen, das Thier
hervorbringt. Es tritt hiemit ein Weſen auf, dem ſeine Außenwelt nicht nur
thatſächlich Object iſt, ſondern ſo, daß es ſie nach vielerlei Seiten mit Gefühl
ſeiner ſelbſt, des Gegenſtandes und ſeines Verhältniſſes zu ihm durcharbeitend,
in ſich aufnehmend genießt; die Natur gibt ſich ein Centrum, worin ſie ſich
ſelbſt vernimmt.

„Die ganze Schöpfung ſollte durchgenoſſen, durchgefühlt, durchgearbeitet
werden“, ſagt Herder (a. a. O.). Dieß iſt zunächſt Gang und Geſetz
der Idee in ihrer Verwirklichung überhaupt; der §. drückt das Geſetz im
äſthetiſchen Sinne aus. Dürften wir bereits Kunſtausdrücke brauchen, ſo
würden wir ſagen: die Landſchaft will ihre Staffage; die Luft will ſich
im ſchwebenden Vogel, das Waſſer im ſchwimmenden Fiſch zum lebendigen
Centrum ſammeln, das Land ſeinen Bewohner haben; naſchende Ziegen
ſollen Fels und Geſträuche, flüchtiges Wild ſoll den Wald beleben, der
Stier ſich bequem am Boden lagern u. ſ. w. Unſer Stoff wird immer
concreter, die unorganiſche Natur belebte ſich durch die Pflanzenwelt, jetzt
bewegt ſich in Licht, Luft, Farbenglanz, Waſſer, Erde, Gras, Buſch
und Wald das warme Thierleben. Es gibt allerdings Landſchaften, die
wir lieber ohne Staffage ſehen; es ſind ſolche, deren Stimmung die höchſte
Stille der Einſamkeit iſt, wo der Naturgeiſt nur durch Licht, Luft, Waſſer,
Erde und Pflanze mit ſich ſelbſt ſprechen zu wollen ſcheint. Doch etwas
Lebendiges wird das Auge immer ſuchen, wäre es auch nur ein Rabe
oder ein lauſchender Fuchs; es fragt ſich aber, warum das Auge dieß
bedarf, und darauf antwortet der §. Es könnte indeß einſeitig ſcheinen,
daß hier das Thier mit der umgebenden Natur durchaus zuſammengenommen
wird; es muß ja auch für ſich äſthetiſcher Gegenſtand ſein können, ſo daß

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0113" n="101"/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">b.</hi><lb/><hi rendition="#g">Die thieri&#x017F;che Schönheit</hi>.</hi> </head><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 282.</head><lb/>
                <p> <hi rendition="#fr">Gegenüber der unbe&#x017F;eelten Pflanze &#x017F;teht der ä&#x017F;theti&#x017F;che Zu&#x017F;chauer noch<lb/>
außerhalb des ange&#x017F;chauten Gegen&#x017F;tandes und findet &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t darin nur<lb/>
&#x017F;oweit er &#x017F;ich ihm leihend unter&#x017F;chiebt. Er &#x017F;oll aber wirklich &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t im<lb/>
Gegen&#x017F;tande begegnen, der Zu&#x017F;chauer &#x017F;oll auch im Gegen&#x017F;tande, die&#x017F;er &#x017F;oll<lb/>
wirklich per&#x017F;önlich &#x017F;ein. Der Verwirklichung die&#x017F;es Ge&#x017F;etzes tritt die Natur<lb/>
um einen Schritt näher, indem &#x017F;ie das <hi rendition="#g">be&#x017F;eelte</hi>, lebendige We&#x017F;en, das <hi rendition="#g">Thier</hi><lb/>
hervorbringt. Es tritt hiemit ein We&#x017F;en auf, dem &#x017F;eine Außenwelt nicht nur<lb/>
that&#x017F;ächlich Object i&#x017F;t, &#x017F;ondern &#x017F;o, daß es &#x017F;ie nach vielerlei Seiten mit Gefühl<lb/>
&#x017F;einer &#x017F;elb&#x017F;t, des Gegen&#x017F;tandes und &#x017F;eines Verhältni&#x017F;&#x017F;es zu ihm durcharbeitend,<lb/>
in &#x017F;ich aufnehmend genießt; die Natur gibt &#x017F;ich ein Centrum, worin &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t vernimmt.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">&#x201E;Die ganze Schöpfung &#x017F;ollte durchgeno&#x017F;&#x017F;en, durchgefühlt, durchgearbeitet<lb/>
werden&#x201C;, &#x017F;agt <hi rendition="#g">Herder</hi> (a. a. O.). Dieß i&#x017F;t zunäch&#x017F;t Gang und Ge&#x017F;etz<lb/>
der Idee in ihrer Verwirklichung überhaupt; der §. drückt das Ge&#x017F;etz im<lb/>
ä&#x017F;theti&#x017F;chen Sinne aus. Dürften wir bereits Kun&#x017F;tausdrücke brauchen, &#x017F;o<lb/>
würden wir &#x017F;agen: die Land&#x017F;chaft will ihre Staffage; die Luft will &#x017F;ich<lb/>
im &#x017F;chwebenden Vogel, das Wa&#x017F;&#x017F;er im &#x017F;chwimmenden Fi&#x017F;ch zum lebendigen<lb/>
Centrum &#x017F;ammeln, das Land &#x017F;einen Bewohner haben; na&#x017F;chende Ziegen<lb/>
&#x017F;ollen Fels und Ge&#x017F;träuche, flüchtiges Wild &#x017F;oll den Wald beleben, der<lb/>
Stier &#x017F;ich bequem am Boden lagern u. &#x017F;. w. Un&#x017F;er Stoff wird immer<lb/>
concreter, die unorgani&#x017F;che Natur belebte &#x017F;ich durch die Pflanzenwelt, jetzt<lb/>
bewegt &#x017F;ich in Licht, Luft, Farbenglanz, Wa&#x017F;&#x017F;er, Erde, Gras, Bu&#x017F;ch<lb/>
und Wald das warme Thierleben. Es gibt allerdings Land&#x017F;chaften, die<lb/>
wir lieber ohne Staffage &#x017F;ehen; es &#x017F;ind &#x017F;olche, deren Stimmung die höch&#x017F;te<lb/>
Stille der Ein&#x017F;amkeit i&#x017F;t, wo der Naturgei&#x017F;t nur durch Licht, Luft, Wa&#x017F;&#x017F;er,<lb/>
Erde und Pflanze mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;prechen zu wollen &#x017F;cheint. Doch etwas<lb/>
Lebendiges wird das Auge immer &#x017F;uchen, wäre es auch nur ein Rabe<lb/>
oder ein lau&#x017F;chender Fuchs; es fragt &#x017F;ich aber, warum das Auge dieß<lb/>
bedarf, und darauf antwortet der §. Es könnte indeß ein&#x017F;eitig &#x017F;cheinen,<lb/>
daß hier das Thier mit der umgebenden Natur durchaus zu&#x017F;ammengenommen<lb/>
wird; es muß ja auch für &#x017F;ich ä&#x017F;theti&#x017F;cher Gegen&#x017F;tand &#x017F;ein können, &#x017F;o daß<lb/></hi> </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[101/0113] b. Die thieriſche Schönheit. §. 282. Gegenüber der unbeſeelten Pflanze ſteht der äſthetiſche Zuſchauer noch außerhalb des angeſchauten Gegenſtandes und findet ſich ſelbſt darin nur ſoweit er ſich ihm leihend unterſchiebt. Er ſoll aber wirklich ſich ſelbſt im Gegenſtande begegnen, der Zuſchauer ſoll auch im Gegenſtande, dieſer ſoll wirklich perſönlich ſein. Der Verwirklichung dieſes Geſetzes tritt die Natur um einen Schritt näher, indem ſie das beſeelte, lebendige Weſen, das Thier hervorbringt. Es tritt hiemit ein Weſen auf, dem ſeine Außenwelt nicht nur thatſächlich Object iſt, ſondern ſo, daß es ſie nach vielerlei Seiten mit Gefühl ſeiner ſelbſt, des Gegenſtandes und ſeines Verhältniſſes zu ihm durcharbeitend, in ſich aufnehmend genießt; die Natur gibt ſich ein Centrum, worin ſie ſich ſelbſt vernimmt. „Die ganze Schöpfung ſollte durchgenoſſen, durchgefühlt, durchgearbeitet werden“, ſagt Herder (a. a. O.). Dieß iſt zunächſt Gang und Geſetz der Idee in ihrer Verwirklichung überhaupt; der §. drückt das Geſetz im äſthetiſchen Sinne aus. Dürften wir bereits Kunſtausdrücke brauchen, ſo würden wir ſagen: die Landſchaft will ihre Staffage; die Luft will ſich im ſchwebenden Vogel, das Waſſer im ſchwimmenden Fiſch zum lebendigen Centrum ſammeln, das Land ſeinen Bewohner haben; naſchende Ziegen ſollen Fels und Geſträuche, flüchtiges Wild ſoll den Wald beleben, der Stier ſich bequem am Boden lagern u. ſ. w. Unſer Stoff wird immer concreter, die unorganiſche Natur belebte ſich durch die Pflanzenwelt, jetzt bewegt ſich in Licht, Luft, Farbenglanz, Waſſer, Erde, Gras, Buſch und Wald das warme Thierleben. Es gibt allerdings Landſchaften, die wir lieber ohne Staffage ſehen; es ſind ſolche, deren Stimmung die höchſte Stille der Einſamkeit iſt, wo der Naturgeiſt nur durch Licht, Luft, Waſſer, Erde und Pflanze mit ſich ſelbſt ſprechen zu wollen ſcheint. Doch etwas Lebendiges wird das Auge immer ſuchen, wäre es auch nur ein Rabe oder ein lauſchender Fuchs; es fragt ſich aber, warum das Auge dieß bedarf, und darauf antwortet der §. Es könnte indeß einſeitig ſcheinen, daß hier das Thier mit der umgebenden Natur durchaus zuſammengenommen wird; es muß ja auch für ſich äſthetiſcher Gegenſtand ſein können, ſo daß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/113
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/113>, abgerufen am 24.11.2024.