Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
Sinn allerdings zukommt. Diese Widerspenstigkeit eines zwar lebendig 8*
Sinn allerdings zukommt. Dieſe Widerſpenſtigkeit eines zwar lebendig 8*
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0127" n="115"/> Sinn allerdings zukommt. Dieſe Widerſpenſtigkeit eines zwar lebendig<lb/> ſeeliſchen, aber dumpfen und eigenſinnigen Lautes ſcheint in einer zweiten<lb/> ungleich freieren Form des thieriſchen Tons, im Vogelgeſange zu ver-<lb/> ſchwinden. Er iſt nicht Material, paſſiver, formloſer Stoff wie der<lb/> Klang, er iſt aber auch nicht eine rohe und dumpfe, widerſpenſtige,<lb/> ſondern bereits eine freiere, ſeelenvollere, in Rhythmus anklingende,<lb/> und ſo ſcheint er denn in dem Sinne Stoff zu ſein, wie es die übrige<lb/> Naturſchönheit für die Kunſt iſt, nämlich Vorlage, Vorbild. Vergleichen<lb/> wir auch hier dieß Gebiet mit dem der Baukunſt, ſo können wir ſagen:<lb/> wie das Mineral für dieſe, ſo iſt der Klang für die Muſik bloßes<lb/> Material, aber die Baukunſt hat, wie ſich an ſeinem Orte zeigen wird,<lb/> mehr als bloßes Material, ſie hat ein geheimnißvolles Vorbild an der<lb/> Kryſtallbildung und den bauenden Urgeſetzen der Natur, die ſich in ihr<lb/> ausſprechen, und ebenſo hat die Muſik mehr als bloßes Material, ſie<lb/> hat Vorbild im thieriſchen Geſange. Allein gewiß nur ganz ebenſo<lb/> unbeſtimmt, wie der Kryſtall für die Baukunſt, iſt ihr der Geſang des<lb/> Vogels ein ſolches Vorbild und auch dieß noch mit dem Unterſchiede, daß<lb/> der Kryſtall beſtimmte Form in einem zu enggeſchloſſenen Kreiſe der<lb/> Geſetzmäßigkeit hat, der Vogelgeſang aber von der Beſtimmtheit regellos<lb/> abirrt und auf kein Geſetz zu bringen iſt. Die enge Gebundenheit des<lb/> Kryſtalls legt ſich in der Baukunſt auseinander, die irrende Entbundenheit<lb/> des Vogelgeſangs bindet ſich in der Muſik. Muſik iſt aber ſo wenig<lb/> durch Nachahmung des Vogelgeſangs entſtanden, als die Baukunſt durch<lb/> Nachahmung des Kryſtalls; jener wie dieſer iſt nur als eine Art von Vorbote<lb/> anzuſehen von dem, was die Menſchenſeele ſchafft. Was dem thieriſchen<lb/> Geſang zur Schönheit eigentlich fehlt, kann ohne einen zu ſtarken Vorgriff<lb/> nicht näher auseinandergeſetzt werden; inzwiſchen vergl. man <hi rendition="#g">Hand</hi> Aeſth.<lb/> d. Tonkunſt B. 1 §. 17 ff. So viel iſt an ſich klar, daß dieſer ſogenannte<lb/> Geſang zwar Ausdruck reinen Wohlſeins ſcheint, daß aber dieß Wohlſein<lb/> genau geſprochen doch keineswegs den Namen eines reinen, freien ver-<lb/> dient; beſtimmtere, dem Bedürfniß angehörige Triebe liegen ihm zu Grunde,<lb/> insbeſondere Geſchlechtsbetrieb; es iſt meiſtens ein Locken. Manche Vögel<lb/> lernen nun allerdings auch Melodieen, aber ſo mechaniſch und ohne Gefühl<lb/> für ihre Bedeutung, daß damit gar nichts für die Aeſthetik an dieſem Orte<lb/> anzufangen iſt, ſondern für einen ganz andern äſthetiſchen Zweck, nämlich<lb/> die Komik. Der Vogelgeſang iſt nur wie eine Stimme der allgemeinen<lb/> Natur, worin ſich dieſe ein Gefühl ihrer Fülle zuzujubeln ſcheint; ſo wird<lb/> im Grund auch er nur zu einem begleitenden, in der landſchaftlichen<lb/> Schönheit mitwirkenden Momente.</hi> </p> </div><lb/> <fw place="bottom" type="sig">8*</fw><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [115/0127]
Sinn allerdings zukommt. Dieſe Widerſpenſtigkeit eines zwar lebendig
ſeeliſchen, aber dumpfen und eigenſinnigen Lautes ſcheint in einer zweiten
ungleich freieren Form des thieriſchen Tons, im Vogelgeſange zu ver-
ſchwinden. Er iſt nicht Material, paſſiver, formloſer Stoff wie der
Klang, er iſt aber auch nicht eine rohe und dumpfe, widerſpenſtige,
ſondern bereits eine freiere, ſeelenvollere, in Rhythmus anklingende,
und ſo ſcheint er denn in dem Sinne Stoff zu ſein, wie es die übrige
Naturſchönheit für die Kunſt iſt, nämlich Vorlage, Vorbild. Vergleichen
wir auch hier dieß Gebiet mit dem der Baukunſt, ſo können wir ſagen:
wie das Mineral für dieſe, ſo iſt der Klang für die Muſik bloßes
Material, aber die Baukunſt hat, wie ſich an ſeinem Orte zeigen wird,
mehr als bloßes Material, ſie hat ein geheimnißvolles Vorbild an der
Kryſtallbildung und den bauenden Urgeſetzen der Natur, die ſich in ihr
ausſprechen, und ebenſo hat die Muſik mehr als bloßes Material, ſie
hat Vorbild im thieriſchen Geſange. Allein gewiß nur ganz ebenſo
unbeſtimmt, wie der Kryſtall für die Baukunſt, iſt ihr der Geſang des
Vogels ein ſolches Vorbild und auch dieß noch mit dem Unterſchiede, daß
der Kryſtall beſtimmte Form in einem zu enggeſchloſſenen Kreiſe der
Geſetzmäßigkeit hat, der Vogelgeſang aber von der Beſtimmtheit regellos
abirrt und auf kein Geſetz zu bringen iſt. Die enge Gebundenheit des
Kryſtalls legt ſich in der Baukunſt auseinander, die irrende Entbundenheit
des Vogelgeſangs bindet ſich in der Muſik. Muſik iſt aber ſo wenig
durch Nachahmung des Vogelgeſangs entſtanden, als die Baukunſt durch
Nachahmung des Kryſtalls; jener wie dieſer iſt nur als eine Art von Vorbote
anzuſehen von dem, was die Menſchenſeele ſchafft. Was dem thieriſchen
Geſang zur Schönheit eigentlich fehlt, kann ohne einen zu ſtarken Vorgriff
nicht näher auseinandergeſetzt werden; inzwiſchen vergl. man Hand Aeſth.
d. Tonkunſt B. 1 §. 17 ff. So viel iſt an ſich klar, daß dieſer ſogenannte
Geſang zwar Ausdruck reinen Wohlſeins ſcheint, daß aber dieß Wohlſein
genau geſprochen doch keineswegs den Namen eines reinen, freien ver-
dient; beſtimmtere, dem Bedürfniß angehörige Triebe liegen ihm zu Grunde,
insbeſondere Geſchlechtsbetrieb; es iſt meiſtens ein Locken. Manche Vögel
lernen nun allerdings auch Melodieen, aber ſo mechaniſch und ohne Gefühl
für ihre Bedeutung, daß damit gar nichts für die Aeſthetik an dieſem Orte
anzufangen iſt, ſondern für einen ganz andern äſthetiſchen Zweck, nämlich
die Komik. Der Vogelgeſang iſt nur wie eine Stimme der allgemeinen
Natur, worin ſich dieſe ein Gefühl ihrer Fülle zuzujubeln ſcheint; ſo wird
im Grund auch er nur zu einem begleitenden, in der landſchaftlichen
Schönheit mitwirkenden Momente.
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