Die zweite Ordnung umfaßt die fast durchaus gehörnten, auf gespaltene Hufe gestellten, im Durchschnitt mit sehr beschränktem Instincte begabten 2Wiederkäuer. Sie theilt sich in das Geschlecht der massigen, starken, am Hinterleib häßlich gebauten und die Hinterfüße nachschleppenden, nach vornen zu Druck und Stoß, an Wamme, Nacken, Brust, Schulter mächtig und schön entwickelten, breitstirnigen, großaugigen, horngeschmückten, dumpfen, doch im Zorn furchtbaren Rinder, deren glatthaariger zähmbarer Theil geduldig, doch 3auch störrisch und stößig ist, und in das durchaus weniger massige, schlankere, ziegenartige Geschlecht: die wolligen, gähnenden, stets weidenden, dummen, strenggeselligen Schaafe, die geilen, naschhaften, bärtigen, zottigen, aufgeweckteren und stoßlustigen eigentlichen Ziegen, nebst dem größeren, höckerigten, langhalsig vorgestreckten, hornlos und widerstandslos dienenden Kameele mit der gebogenen Gesichtslinie und dem hängenden Maule, die schwungvoll und zierlich gebauten, leichtfüßigen, schlankhalsigen, schönaugigen, furchtsamen, waldliebenden, mit stolzem Geweih gezierten Hirsche mit Nehen, Gemsen, woneben die seltsame Gestalt der Giraffe auftritt.
1. Die Wiederkäuer sind das vorzugsweise genährige Thiergeschlecht, das in seiner Weidelust das mastige, sich selbst genießende, gedeihliche Naturleben darstellt, am meisten im Geschlechte der Rinder. Dieser Charakter ist bei allen schon durch die großen Kinnbacken angezeigt. Außer dem Kameele sind alle Wiederkäuer gehörnt und die Form der Hörner ist sehr entscheidend für die Physiognomie dieser Thiere.
2. Es war nicht Raum, die wilden Stiere -- denn durchgängig begleitet uns der Gegensatz des Wilden und Zahmen --, den Auerochsen (Urochsen, Wisant), die amerikanische Art desselben, den zähmbareren Büffel, ihre dunklere Farbe, zottiges Fell, dumpfen, wilden Blick u. s. w. besonders hervorzuheben, ebensowenig den Gegensatz zwischen dem südlichen Hausochsen mit den ungleich freieren, losgewickelteren Formen, größeren Hörnern und dem nördlichen: ein Gegensatz, der auch dem der Pflanzen- welt (§. 279) entspricht. -- Bei den Rindern drängt die ganze Gestalt nach vornen, nicht in der Masse, denn der Bauch ist sehr dick und macht die Gestalt schwerfällig, sondern in der Kraft, daher ist die hinterste Parthie mit der eingesunkenen Schüssel des Afters, den Hinterfüßen, die sich im Halbkreise drehen müssen, um nachzukommen, die schlechteste. In einem Fragmente zu Lavaters Physiognomik sagt Göthe sehr treffend vom Rinde, es diene dem Menschen "in geruhiger Würde." Die großen klotzenden Augen werden im Zorn, indem sie ihr blutrothes Weiß hervor- drehen, furchtbar. Wie beschränkt die Seele dieser Thiere ist, geht schon
§. 309.
1
Die zweite Ordnung umfaßt die faſt durchaus gehörnten, auf geſpaltene Hufe geſtellten, im Durchſchnitt mit ſehr beſchränktem Inſtincte begabten 2Wiederkäuer. Sie theilt ſich in das Geſchlecht der maſſigen, ſtarken, am Hinterleib häßlich gebauten und die Hinterfüße nachſchleppenden, nach vornen zu Druck und Stoß, an Wamme, Nacken, Bruſt, Schulter mächtig und ſchön entwickelten, breitſtirnigen, großaugigen, horngeſchmückten, dumpfen, doch im Zorn furchtbaren Rinder, deren glatthaariger zähmbarer Theil geduldig, doch 3auch ſtörriſch und ſtößig iſt, und in das durchaus weniger maſſige, ſchlankere, ziegenartige Geſchlecht: die wolligen, gähnenden, ſtets weidenden, dummen, ſtrenggeſelligen Schaafe, die geilen, naſchhaften, bärtigen, zottigen, aufgeweckteren und ſtoßluſtigen eigentlichen Ziegen, nebſt dem größeren, höckerigten, langhalſig vorgeſtreckten, hornlos und widerſtandslos dienenden Kameele mit der gebogenen Geſichtslinie und dem hängenden Maule, die ſchwungvoll und zierlich gebauten, leichtfüßigen, ſchlankhalſigen, ſchönaugigen, furchtſamen, waldliebenden, mit ſtolzem Geweih gezierten Hirſche mit Nehen, Gemſen, woneben die ſeltſame Geſtalt der Giraffe auftritt.
1. Die Wiederkäuer ſind das vorzugsweiſe genährige Thiergeſchlecht, das in ſeiner Weideluſt das maſtige, ſich ſelbſt genießende, gedeihliche Naturleben darſtellt, am meiſten im Geſchlechte der Rinder. Dieſer Charakter iſt bei allen ſchon durch die großen Kinnbacken angezeigt. Außer dem Kameele ſind alle Wiederkäuer gehörnt und die Form der Hörner iſt ſehr entſcheidend für die Phyſiognomie dieſer Thiere.
2. Es war nicht Raum, die wilden Stiere — denn durchgängig begleitet uns der Gegenſatz des Wilden und Zahmen —, den Auerochſen (Urochſen, Wiſant), die amerikaniſche Art deſſelben, den zähmbareren Büffel, ihre dunklere Farbe, zottiges Fell, dumpfen, wilden Blick u. ſ. w. beſonders hervorzuheben, ebenſowenig den Gegenſatz zwiſchen dem ſüdlichen Hausochſen mit den ungleich freieren, losgewickelteren Formen, größeren Hörnern und dem nördlichen: ein Gegenſatz, der auch dem der Pflanzen- welt (§. 279) entſpricht. — Bei den Rindern drängt die ganze Geſtalt nach vornen, nicht in der Maſſe, denn der Bauch iſt ſehr dick und macht die Geſtalt ſchwerfällig, ſondern in der Kraft, daher iſt die hinterſte Parthie mit der eingeſunkenen Schüſſel des Afters, den Hinterfüßen, die ſich im Halbkreiſe drehen müſſen, um nachzukommen, die ſchlechteſte. In einem Fragmente zu Lavaters Phyſiognomik ſagt Göthe ſehr treffend vom Rinde, es diene dem Menſchen „in geruhiger Würde.“ Die großen klotzenden Augen werden im Zorn, indem ſie ihr blutrothes Weiß hervor- drehen, furchtbar. Wie beſchränkt die Seele dieſer Thiere iſt, geht ſchon
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Die zweite Ordnung umfaßt die faſt durchaus gehörnten, auf geſpaltene
Hufe geſtellten, im Durchſchnitt mit ſehr beſchränktem Inſtincte begabten
Wiederkäuer. Sie theilt ſich in das Geſchlecht der maſſigen, ſtarken, am
Hinterleib häßlich gebauten und die Hinterfüße nachſchleppenden, nach vornen
zu Druck und Stoß, an Wamme, Nacken, Bruſt, Schulter mächtig und ſchön
entwickelten, breitſtirnigen, großaugigen, horngeſchmückten, dumpfen, doch im
Zorn furchtbaren Rinder, deren glatthaariger zähmbarer Theil geduldig, doch
auch ſtörriſch und ſtößig iſt, und in das durchaus weniger maſſige, ſchlankere,
ziegenartige Geſchlecht: die wolligen, gähnenden, ſtets weidenden, dummen,
ſtrenggeſelligen Schaafe, die geilen, naſchhaften, bärtigen, zottigen, aufgeweckteren
und ſtoßluſtigen eigentlichen Ziegen, nebſt dem größeren, höckerigten, langhalſig
vorgeſtreckten, hornlos und widerſtandslos dienenden Kameele mit der gebogenen
Geſichtslinie und dem hängenden Maule, die ſchwungvoll und zierlich gebauten,
leichtfüßigen, ſchlankhalſigen, ſchönaugigen, furchtſamen, waldliebenden, mit
ſtolzem Geweih gezierten Hirſche mit Nehen, Gemſen, woneben die ſeltſame
Geſtalt der Giraffe auftritt.
1. Die Wiederkäuer ſind das vorzugsweiſe genährige Thiergeſchlecht,
das in ſeiner Weideluſt das maſtige, ſich ſelbſt genießende, gedeihliche
Naturleben darſtellt, am meiſten im Geſchlechte der Rinder. Dieſer
Charakter iſt bei allen ſchon durch die großen Kinnbacken angezeigt. Außer
dem Kameele ſind alle Wiederkäuer gehörnt und die Form der Hörner iſt
ſehr entſcheidend für die Phyſiognomie dieſer Thiere.
2. Es war nicht Raum, die wilden Stiere — denn durchgängig
begleitet uns der Gegenſatz des Wilden und Zahmen —, den Auerochſen
(Urochſen, Wiſant), die amerikaniſche Art deſſelben, den zähmbareren
Büffel, ihre dunklere Farbe, zottiges Fell, dumpfen, wilden Blick u. ſ. w.
beſonders hervorzuheben, ebenſowenig den Gegenſatz zwiſchen dem ſüdlichen
Hausochſen mit den ungleich freieren, losgewickelteren Formen, größeren
Hörnern und dem nördlichen: ein Gegenſatz, der auch dem der Pflanzen-
welt (§. 279) entſpricht. — Bei den Rindern drängt die ganze Geſtalt
nach vornen, nicht in der Maſſe, denn der Bauch iſt ſehr dick und macht
die Geſtalt ſchwerfällig, ſondern in der Kraft, daher iſt die hinterſte
Parthie mit der eingeſunkenen Schüſſel des Afters, den Hinterfüßen, die
ſich im Halbkreiſe drehen müſſen, um nachzukommen, die ſchlechteſte. In
einem Fragmente zu Lavaters Phyſiognomik ſagt Göthe ſehr treffend
vom Rinde, es diene dem Menſchen „in geruhiger Würde.“ Die großen
klotzenden Augen werden im Zorn, indem ſie ihr blutrothes Weiß hervor-
drehen, furchtbar. Wie beſchränkt die Seele dieſer Thiere iſt, geht ſchon
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/158>, abgerufen am 16.07.2024.
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