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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Arm geworden; verkürzt gegen den Affen-Arm trägt er, in schwungreicher
und feiner Wellenlinie seine kräftigen Muskeln ansetzend, das Wunderwerk
der Hand, das Werkzeug der Werkzeuge, denn alle sind in ihr vorgebildet.
Der Rücken ist nicht steil und nicht gekrümmt, sondern zart gebogen, die
breiteste Fläche am Körper, aber durch die Rinne des Rückgrats, durch
die mächtigen Schulterknochen, durch die Muskeln herrlich modellirt; der
Bauch bedeckt mit zarter Wölbung die zu niedrigem Dienste bestimmten
Eingeweide, die Hüften treten durch das breite Becken und die vollen
Muskeln mächtig heraus und bilden so mit der Einziehung der Weiche die
energische Linie der Taille. Wir sahen §. 295, 2., wie die Natur im
Fortschritt die allerhand Anhängsel je der niedrigeren Stufen mit scharfem
Messer abschneidet; der Ueberfluß des Schwanzes ist weg. Das Gesäß
ist eine wesentliche menschliche Schönheit und es ist kindisch, zu lachen,
wenn der reine Formsinn den schwellenden Pfirsich dieser großen Muskeln,
die zugleich ein so bequem hingegossenes, plastisches Sitzen möglich machen,
bewundert. Die männlichen Geschlechtstheile werden wieder sichtbarer, als
bei den Thieren; die Griechen haben ihre Kraft mit gutem Grunde wichtig
behandelt und sich dessen ebensowenig geschämt, als wenn das Buch Hiob
vom Nilpferd so gewaltig sagt: "die Adern seiner Scham starren wie ein
Ast." Mächtig schwellen als die Hauptstützen des Oberleibs und Beweger
der Beine die Schenkel an, ziehen sich gegen das Knie ein, das in seiner
niedlichen Schüssel etwas spitzer heraustritt, dann schwillt am Schienbein
wieder die rundlich gedrehte Wade sanft an, geht verloren gegen die
Knötchen hinab, die Ferse ist zur Fußsohle gezogen, diese steht hohl auf
dem elastisch geschwungenen Reien, und dann breitet sich das Blatt der
zierlichen Zehen aus, um nach unten als derber Ballen die Last tragen zu
helfen und schwungreich vom Boden abzuschnellen. Die Zehen greifen
gleichsam den Boden, eine Feinheit, die freilich in unsern harten Schuhen
ganz abgestumpft ist, in denen wir das Terrain nicht fühlen und von
dem Gehen, dessen sandalenbekleidete Naturvölker auf dem schwierigsten
Boden fähig sind, keine Ahnung haben. Manche thierische Bewegungen
muß dieses Ganze opfern: der Mensch kann nicht fliegen, nicht lang
schwimmen, nicht leicht wie Affen klettern, nicht den Kopf drehen wie ein
Vogel am langen Halse, nicht den Rückgrat biegen wie ein Hund, der
sich in den Schwanz beißt, er hat am Arm eine mangelhafte Naturwaffe; er
ist auch nicht so groß, wie die Mehrzahl der Thiere: ein wichtiger Punkt,
der aber so auf flacher Hand liegt, daß wir uns nicht bei ihm aufhalten, --
noch ist er so stark, allein er kann unendlich viel Anderes, absolut Bedeu-
tungsvolleres, am meisten mit Arm und Hand, dann insbesondere mit den
Füßen; nämlich zunächst noch abgesehen von allen Werkzeugen, Waffen,
die er durch seinen Geist erfindet, gebietet er über eine Summe von

Vischer's Aesthetik. 2. Band. 11

Arm geworden; verkürzt gegen den Affen-Arm trägt er, in ſchwungreicher
und feiner Wellenlinie ſeine kräftigen Muskeln anſetzend, das Wunderwerk
der Hand, das Werkzeug der Werkzeuge, denn alle ſind in ihr vorgebildet.
Der Rücken iſt nicht ſteil und nicht gekrümmt, ſondern zart gebogen, die
breiteſte Fläche am Körper, aber durch die Rinne des Rückgrats, durch
die mächtigen Schulterknochen, durch die Muskeln herrlich modellirt; der
Bauch bedeckt mit zarter Wölbung die zu niedrigem Dienſte beſtimmten
Eingeweide, die Hüften treten durch das breite Becken und die vollen
Muskeln mächtig heraus und bilden ſo mit der Einziehung der Weiche die
energiſche Linie der Taille. Wir ſahen §. 295, 2., wie die Natur im
Fortſchritt die allerhand Anhängſel je der niedrigeren Stufen mit ſcharfem
Meſſer abſchneidet; der Ueberfluß des Schwanzes iſt weg. Das Geſäß
iſt eine weſentliche menſchliche Schönheit und es iſt kindiſch, zu lachen,
wenn der reine Formſinn den ſchwellenden Pfirſich dieſer großen Muskeln,
die zugleich ein ſo bequem hingegoſſenes, plaſtiſches Sitzen möglich machen,
bewundert. Die männlichen Geſchlechtstheile werden wieder ſichtbarer, als
bei den Thieren; die Griechen haben ihre Kraft mit gutem Grunde wichtig
behandelt und ſich deſſen ebenſowenig geſchämt, als wenn das Buch Hiob
vom Nilpferd ſo gewaltig ſagt: „die Adern ſeiner Scham ſtarren wie ein
Aſt.“ Mächtig ſchwellen als die Hauptſtützen des Oberleibs und Beweger
der Beine die Schenkel an, ziehen ſich gegen das Knie ein, das in ſeiner
niedlichen Schüſſel etwas ſpitzer heraustritt, dann ſchwillt am Schienbein
wieder die rundlich gedrehte Wade ſanft an, geht verloren gegen die
Knötchen hinab, die Ferſe iſt zur Fußſohle gezogen, dieſe ſteht hohl auf
dem elaſtiſch geſchwungenen Reien, und dann breitet ſich das Blatt der
zierlichen Zehen aus, um nach unten als derber Ballen die Laſt tragen zu
helfen und ſchwungreich vom Boden abzuſchnellen. Die Zehen greifen
gleichſam den Boden, eine Feinheit, die freilich in unſern harten Schuhen
ganz abgeſtumpft iſt, in denen wir das Terrain nicht fühlen und von
dem Gehen, deſſen ſandalenbekleidete Naturvölker auf dem ſchwierigſten
Boden fähig ſind, keine Ahnung haben. Manche thieriſche Bewegungen
muß dieſes Ganze opfern: der Menſch kann nicht fliegen, nicht lang
ſchwimmen, nicht leicht wie Affen klettern, nicht den Kopf drehen wie ein
Vogel am langen Halſe, nicht den Rückgrat biegen wie ein Hund, der
ſich in den Schwanz beißt, er hat am Arm eine mangelhafte Naturwaffe; er
iſt auch nicht ſo groß, wie die Mehrzahl der Thiere: ein wichtiger Punkt,
der aber ſo auf flacher Hand liegt, daß wir uns nicht bei ihm aufhalten, —
noch iſt er ſo ſtark, allein er kann unendlich viel Anderes, abſolut Bedeu-
tungsvolleres, am meiſten mit Arm und Hand, dann insbeſondere mit den
Füßen; nämlich zunächſt noch abgeſehen von allen Werkzeugen, Waffen,
die er durch ſeinen Geiſt erfindet, gebietet er über eine Summe von

Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 11
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[161/0173] Arm geworden; verkürzt gegen den Affen-Arm trägt er, in ſchwungreicher und feiner Wellenlinie ſeine kräftigen Muskeln anſetzend, das Wunderwerk der Hand, das Werkzeug der Werkzeuge, denn alle ſind in ihr vorgebildet. Der Rücken iſt nicht ſteil und nicht gekrümmt, ſondern zart gebogen, die breiteſte Fläche am Körper, aber durch die Rinne des Rückgrats, durch die mächtigen Schulterknochen, durch die Muskeln herrlich modellirt; der Bauch bedeckt mit zarter Wölbung die zu niedrigem Dienſte beſtimmten Eingeweide, die Hüften treten durch das breite Becken und die vollen Muskeln mächtig heraus und bilden ſo mit der Einziehung der Weiche die energiſche Linie der Taille. Wir ſahen §. 295, 2., wie die Natur im Fortſchritt die allerhand Anhängſel je der niedrigeren Stufen mit ſcharfem Meſſer abſchneidet; der Ueberfluß des Schwanzes iſt weg. Das Geſäß iſt eine weſentliche menſchliche Schönheit und es iſt kindiſch, zu lachen, wenn der reine Formſinn den ſchwellenden Pfirſich dieſer großen Muskeln, die zugleich ein ſo bequem hingegoſſenes, plaſtiſches Sitzen möglich machen, bewundert. Die männlichen Geſchlechtstheile werden wieder ſichtbarer, als bei den Thieren; die Griechen haben ihre Kraft mit gutem Grunde wichtig behandelt und ſich deſſen ebenſowenig geſchämt, als wenn das Buch Hiob vom Nilpferd ſo gewaltig ſagt: „die Adern ſeiner Scham ſtarren wie ein Aſt.“ Mächtig ſchwellen als die Hauptſtützen des Oberleibs und Beweger der Beine die Schenkel an, ziehen ſich gegen das Knie ein, das in ſeiner niedlichen Schüſſel etwas ſpitzer heraustritt, dann ſchwillt am Schienbein wieder die rundlich gedrehte Wade ſanft an, geht verloren gegen die Knötchen hinab, die Ferſe iſt zur Fußſohle gezogen, dieſe ſteht hohl auf dem elaſtiſch geſchwungenen Reien, und dann breitet ſich das Blatt der zierlichen Zehen aus, um nach unten als derber Ballen die Laſt tragen zu helfen und ſchwungreich vom Boden abzuſchnellen. Die Zehen greifen gleichſam den Boden, eine Feinheit, die freilich in unſern harten Schuhen ganz abgeſtumpft iſt, in denen wir das Terrain nicht fühlen und von dem Gehen, deſſen ſandalenbekleidete Naturvölker auf dem ſchwierigſten Boden fähig ſind, keine Ahnung haben. Manche thieriſche Bewegungen muß dieſes Ganze opfern: der Menſch kann nicht fliegen, nicht lang ſchwimmen, nicht leicht wie Affen klettern, nicht den Kopf drehen wie ein Vogel am langen Halſe, nicht den Rückgrat biegen wie ein Hund, der ſich in den Schwanz beißt, er hat am Arm eine mangelhafte Naturwaffe; er iſt auch nicht ſo groß, wie die Mehrzahl der Thiere: ein wichtiger Punkt, der aber ſo auf flacher Hand liegt, daß wir uns nicht bei ihm aufhalten, — noch iſt er ſo ſtark, allein er kann unendlich viel Anderes, abſolut Bedeu- tungsvolleres, am meiſten mit Arm und Hand, dann insbeſondere mit den Füßen; nämlich zunächſt noch abgeſehen von allen Werkzeugen, Waffen, die er durch ſeinen Geiſt erfindet, gebietet er über eine Summe von Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 11

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/173>, abgerufen am 23.11.2024.