Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
des Geizigen, Verschwenders, Trinkers, Lumpen, Verliebten, Eiser- An der Bestimmung, die der §. aufstellt, wird man nun namentlich
des Geizigen, Verſchwenders, Trinkers, Lumpen, Verliebten, Eiſer- An der Beſtimmung, die der §. aufſtellt, wird man nun namentlich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0209" n="197"/> des Geizigen, Verſchwenders, Trinkers, Lumpen, Verliebten, Eiſer-<lb/> ſüchtigen, des Böſen. Auch der <hi rendition="#g">Sonderling</hi> iſt hier noch aufzuführen;<lb/> es iſt derjenige, der zwar wohl auch das Gute zu ſeinem Geſetze erhoben<lb/> haben kann, aber ſo, daß er die angeborne unendliche Eigenheit nicht<lb/> darnach vernünftig umbildet, ſondern mit einer Hartnäckigkeit zur Geltung<lb/> erhebt, die den guten Zweck ſelbſt trübt, zur Grille macht und ihn der<lb/> Einſamkeit überantwortet. Neben dem erhabenen Charakter ſteht ferner<lb/> der Ehrenmann von gewöhnlicher Rechtſchaffenheit; er unterſcheidet ſich<lb/> von jenem dadurch, daß der ſittliche Zweck, der ihm Lebensgeſetz iſt,<lb/> untergeordneter Art und daß er in der Verwirklichung desſelben nicht<lb/> productiv iſt, ihm keine neue Geſtalt gibt, ſondern trivial bleibt. Die<lb/> aufgeworfene Frage aber löst ſich durch die einfache Bemerkung, daß<lb/> emphatiſch und inhaltsvoll genommen freilich nur ein großes ſittliches<lb/> Pathos den Charakter bildet und keine jener andern Formen Charakter<lb/> heißen kann, ſelbſt der conſequente Böſewicht nicht, denn da er ſein<lb/> Wollen im Innerſten nicht billigt, ſo reißt ihn ſchließlich Gewiſſen und<lb/> Schickſal in innere Entzweiung auseinander; nimmt man aber Charakter<lb/> nur formal, d. h. hebt man nur das Moment der Gleichmäßigkeit hervor,<lb/> und wäre es auch Gleichmäßigkeit des Ungleichmäßigen, ſo iſt die Befaſſung<lb/> aller jener Formen unter dem Begriff des Charakters richtig. Man darf<lb/> alſo den §. ſo verſtehen, daß er im ſtrengen Sinne zwar den ächten<lb/> Charakter bezeichnet, aber Alles, was ihm, auch nur formal, gleicht,<lb/> mitbefaßt. — Man nennt auch das Gepräge, das die objectiven ſittlichen<lb/> Kreiſe dem Individuum aufdrücken, Charakter, und zwar ohne zu fragen,<lb/> wie viel dieſes gethan habe, das ſeinem näheren oder entfernteren Kreiſe<lb/> eingewurzelt Eigenthümliche frei zu dem Seinigen zu machen: Charakter<lb/> des Republikaners, Charakter der Stände (z. B. Bedientencharakter)<lb/> u. ſ. w. Auch dieſer Sprachgebrauch und der noch weitere, jedes gemein-<lb/> ſame Gepräge überhaupt (alſo auch Volk, Geſchlecht, Lebensalter, Zeitgeiſt<lb/> u. ſ. w.) Charakter zu nennen, mag immerhin ſein Recht behalten, und<lb/> ſo könnte man alſo alles Menſchliche, was wir hier darſtellen, Charakter<lb/> nennen, wodurch beſtätigt wird, was in §. 39 über das Schwankende<lb/> der Beſtimmung des Schönen als des Charakteriſtiſchen geſagt wurde.<lb/> Daneben muß aber immer der emphatiſche Gebrauch des Worts im Sinne<lb/> des jetzigen §. in ſeinem Rechte bleiben.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">An der Beſtimmung, die der §. aufſtellt, wird man nun namentlich<lb/> bemerken, daß ſie feſthält, was für die Aeſthetik das Wichtigſte iſt: daß<lb/> nämlich die ganze Naturſeite durch den Charakter nicht aufgehoben, ſondern<lb/> zu einer gewollten erhoben wird. Alle bisher dargeſtellten Naturmomente<lb/> bleiben die in den frei gewollten Mittelpunkt in lebendiger Bewegung<lb/> immer auf’s Neue ſich zuſammenfaſſenden Grundlagen. Der Charakter<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [197/0209]
des Geizigen, Verſchwenders, Trinkers, Lumpen, Verliebten, Eiſer-
ſüchtigen, des Böſen. Auch der Sonderling iſt hier noch aufzuführen;
es iſt derjenige, der zwar wohl auch das Gute zu ſeinem Geſetze erhoben
haben kann, aber ſo, daß er die angeborne unendliche Eigenheit nicht
darnach vernünftig umbildet, ſondern mit einer Hartnäckigkeit zur Geltung
erhebt, die den guten Zweck ſelbſt trübt, zur Grille macht und ihn der
Einſamkeit überantwortet. Neben dem erhabenen Charakter ſteht ferner
der Ehrenmann von gewöhnlicher Rechtſchaffenheit; er unterſcheidet ſich
von jenem dadurch, daß der ſittliche Zweck, der ihm Lebensgeſetz iſt,
untergeordneter Art und daß er in der Verwirklichung desſelben nicht
productiv iſt, ihm keine neue Geſtalt gibt, ſondern trivial bleibt. Die
aufgeworfene Frage aber löst ſich durch die einfache Bemerkung, daß
emphatiſch und inhaltsvoll genommen freilich nur ein großes ſittliches
Pathos den Charakter bildet und keine jener andern Formen Charakter
heißen kann, ſelbſt der conſequente Böſewicht nicht, denn da er ſein
Wollen im Innerſten nicht billigt, ſo reißt ihn ſchließlich Gewiſſen und
Schickſal in innere Entzweiung auseinander; nimmt man aber Charakter
nur formal, d. h. hebt man nur das Moment der Gleichmäßigkeit hervor,
und wäre es auch Gleichmäßigkeit des Ungleichmäßigen, ſo iſt die Befaſſung
aller jener Formen unter dem Begriff des Charakters richtig. Man darf
alſo den §. ſo verſtehen, daß er im ſtrengen Sinne zwar den ächten
Charakter bezeichnet, aber Alles, was ihm, auch nur formal, gleicht,
mitbefaßt. — Man nennt auch das Gepräge, das die objectiven ſittlichen
Kreiſe dem Individuum aufdrücken, Charakter, und zwar ohne zu fragen,
wie viel dieſes gethan habe, das ſeinem näheren oder entfernteren Kreiſe
eingewurzelt Eigenthümliche frei zu dem Seinigen zu machen: Charakter
des Republikaners, Charakter der Stände (z. B. Bedientencharakter)
u. ſ. w. Auch dieſer Sprachgebrauch und der noch weitere, jedes gemein-
ſame Gepräge überhaupt (alſo auch Volk, Geſchlecht, Lebensalter, Zeitgeiſt
u. ſ. w.) Charakter zu nennen, mag immerhin ſein Recht behalten, und
ſo könnte man alſo alles Menſchliche, was wir hier darſtellen, Charakter
nennen, wodurch beſtätigt wird, was in §. 39 über das Schwankende
der Beſtimmung des Schönen als des Charakteriſtiſchen geſagt wurde.
Daneben muß aber immer der emphatiſche Gebrauch des Worts im Sinne
des jetzigen §. in ſeinem Rechte bleiben.
An der Beſtimmung, die der §. aufſtellt, wird man nun namentlich
bemerken, daß ſie feſthält, was für die Aeſthetik das Wichtigſte iſt: daß
nämlich die ganze Naturſeite durch den Charakter nicht aufgehoben, ſondern
zu einer gewollten erhoben wird. Alle bisher dargeſtellten Naturmomente
bleiben die in den frei gewollten Mittelpunkt in lebendiger Bewegung
immer auf’s Neue ſich zuſammenfaſſenden Grundlagen. Der Charakter
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