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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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zuläßt, verstanden wird. Die höhere Stirn aber wird enschiedener den
Denker, die breite viereckige die schaffenden Ideen des großen Mannes
ankündigen. Die niedrige und schmale dagegen erscheint nicht blos dumm,
sondern insbesondere störrisch (amathes sagt Aristoteles und setzt hinzu:
anapheretai epi tou`s us.). Wichtiger als alle diese Unterschiede jedoch ist die
nähere Bestimmtheit der Oberfläche der Stirne; es kommt darauf an, ob
sie durchgearbeitet und modellirt, formlos glatt und flach, oder roh bucklig
ist. Die glatte z. B. gilt für die des Schmeichlers (denn, sagt Aristo-
teles, die Hunde legen die Stirnhaut glatt, wenn sie schmeicheln). Die
Stirne des Jupiter war nach dem Löwen gebildet, denn dieser "hat vier-
eckige Stirn, in der Mitte (horizontal) etwas eingehöhlt, gegen die Aug-
braunen und Nase aber steht etwas wie eine Wolke: oion nephos epanesekos.
Mit der Stirne zusammen nun sind besonders die Höhlenränderknochen
des Auges, das Augbraun, die Nasenwurzel und das Auge wichtig.
Der Ausdruck dieser benachbarten Theile zieht entschiedener den sittlichen
Charakter mit herein, denn schon der Lage nach scheint das tiefliegende
Auge einen zusammengefaßteren, härteren, selbst verborgenen, heimlichen,
lauernden Charakter anzuzeigen, das offen liegende einen hellen, aber
auch ungescheuteren, bis zur Frechheit. Das Auge selbst aber nach Glanz,
Feuchtigkeit oder Trockenheit, Wölbung oder Fläche im Profil, Rundheit
und Größe, Schmalheit und Kleinheit von vorn, Farbe und Durch-
sichtigkeit ist die Seele alles Ausdrucks in der Einheit des Fühlens,
Denkens und Wollens; freilich liegt jedoch seine Bedeutung ungleich mehr
noch im Blicke, in der Bewegung, demnach im Mimischen, als in Form
und Farbe. Das Schläfenbein und die Parthie des Ohrs spricht in
dieser Region wesentlich mit. -- Der mittlere Theil des Gesichts, die
Nase bis gegen die Oberlippe und die Backen, sind am schwierigsten in
der Bestimmung ihres Ausdrucks. Das Bewegliche an dieser Parthie,
der Backenmuskel, wird von den Mundwinkeln aus bestimmt und von
hier aus graben sich dann auch die habituell werdenden Züge ein, von
denen hier noch nicht die Rede ist. Mehr zu diesen, als zu den ange-
borenen, gehört auch die sprechende Falte vom Nasenflügel zum Mund-
winkel, die Eingefallenheit oder das Sackige der weichen Theile unter
dem Auge. Nase und Jochbein sind, dieses ganz unbeweglich, jene wenig
beweglich. Sehr starkes Jochbein gibt immer einen Anschein von Rohheit.
Die Nase wird, da sie Organ des Geruchs ist, unwillkührlich als Organ
geistigen Spürens symbolisch gedeutet und zu diesem Spüren auch das
Verhalten der Persönlichkeit in ihrem Eindringen auf das Objective über-
haupt gezogen. So erscheint die aufgeworfene Nase, das simon, naiv
neugierig, naseweiß, die Adlernase, das grupon, durch ihr Vorschwellen
in der Mitte kühn, durch ihr ruhiges, schlankes Absinken aber gelassen,

zuläßt, verſtanden wird. Die höhere Stirn aber wird enſchiedener den
Denker, die breite viereckige die ſchaffenden Ideen des großen Mannes
ankündigen. Die niedrige und ſchmale dagegen erſcheint nicht blos dumm,
ſondern insbeſondere ſtörriſch (ἀμαϑὴς ſagt Ariſtoteles und ſetzt hinzu:
ἀναφέρεται ἐπὶ τȣ`ς ὗς.). Wichtiger als alle dieſe Unterſchiede jedoch iſt die
nähere Beſtimmtheit der Oberfläche der Stirne; es kommt darauf an, ob
ſie durchgearbeitet und modellirt, formlos glatt und flach, oder roh bucklig
iſt. Die glatte z. B. gilt für die des Schmeichlers (denn, ſagt Ariſto-
teles, die Hunde legen die Stirnhaut glatt, wenn ſie ſchmeicheln). Die
Stirne des Jupiter war nach dem Löwen gebildet, denn dieſer „hat vier-
eckige Stirn, in der Mitte (horizontal) etwas eingehöhlt, gegen die Aug-
braunen und Naſe aber ſteht etwas wie eine Wolke: οἷον νέφος ἐπανεςηκός.
Mit der Stirne zuſammen nun ſind beſonders die Höhlenränderknochen
des Auges, das Augbraun, die Naſenwurzel und das Auge wichtig.
Der Ausdruck dieſer benachbarten Theile zieht entſchiedener den ſittlichen
Charakter mit herein, denn ſchon der Lage nach ſcheint das tiefliegende
Auge einen zuſammengefaßteren, härteren, ſelbſt verborgenen, heimlichen,
lauernden Charakter anzuzeigen, das offen liegende einen hellen, aber
auch ungeſcheuteren, bis zur Frechheit. Das Auge ſelbſt aber nach Glanz,
Feuchtigkeit oder Trockenheit, Wölbung oder Fläche im Profil, Rundheit
und Größe, Schmalheit und Kleinheit von vorn, Farbe und Durch-
ſichtigkeit iſt die Seele alles Ausdrucks in der Einheit des Fühlens,
Denkens und Wollens; freilich liegt jedoch ſeine Bedeutung ungleich mehr
noch im Blicke, in der Bewegung, demnach im Mimiſchen, als in Form
und Farbe. Das Schläfenbein und die Parthie des Ohrs ſpricht in
dieſer Region weſentlich mit. — Der mittlere Theil des Geſichts, die
Naſe bis gegen die Oberlippe und die Backen, ſind am ſchwierigſten in
der Beſtimmung ihres Ausdrucks. Das Bewegliche an dieſer Parthie,
der Backenmuskel, wird von den Mundwinkeln aus beſtimmt und von
hier aus graben ſich dann auch die habituell werdenden Züge ein, von
denen hier noch nicht die Rede iſt. Mehr zu dieſen, als zu den ange-
borenen, gehört auch die ſprechende Falte vom Naſenflügel zum Mund-
winkel, die Eingefallenheit oder das Sackige der weichen Theile unter
dem Auge. Naſe und Jochbein ſind, dieſes ganz unbeweglich, jene wenig
beweglich. Sehr ſtarkes Jochbein gibt immer einen Anſchein von Rohheit.
Die Naſe wird, da ſie Organ des Geruchs iſt, unwillkührlich als Organ
geiſtigen Spürens ſymboliſch gedeutet und zu dieſem Spüren auch das
Verhalten der Perſönlichkeit in ihrem Eindringen auf das Objective über-
haupt gezogen. So erſcheint die aufgeworfene Naſe, das σιμὸν, naiv
neugierig, naſeweiß, die Adlernaſe, das γρυπὸν, durch ihr Vorſchwellen
in der Mitte kühn, durch ihr ruhiges, ſchlankes Abſinken aber gelaſſen,

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[210/0222] zuläßt, verſtanden wird. Die höhere Stirn aber wird enſchiedener den Denker, die breite viereckige die ſchaffenden Ideen des großen Mannes ankündigen. Die niedrige und ſchmale dagegen erſcheint nicht blos dumm, ſondern insbeſondere ſtörriſch (ἀμαϑὴς ſagt Ariſtoteles und ſetzt hinzu: ἀναφέρεται ἐπὶ τȣ`ς ὗς.). Wichtiger als alle dieſe Unterſchiede jedoch iſt die nähere Beſtimmtheit der Oberfläche der Stirne; es kommt darauf an, ob ſie durchgearbeitet und modellirt, formlos glatt und flach, oder roh bucklig iſt. Die glatte z. B. gilt für die des Schmeichlers (denn, ſagt Ariſto- teles, die Hunde legen die Stirnhaut glatt, wenn ſie ſchmeicheln). Die Stirne des Jupiter war nach dem Löwen gebildet, denn dieſer „hat vier- eckige Stirn, in der Mitte (horizontal) etwas eingehöhlt, gegen die Aug- braunen und Naſe aber ſteht etwas wie eine Wolke: οἷον νέφος ἐπανεςηκός. Mit der Stirne zuſammen nun ſind beſonders die Höhlenränderknochen des Auges, das Augbraun, die Naſenwurzel und das Auge wichtig. Der Ausdruck dieſer benachbarten Theile zieht entſchiedener den ſittlichen Charakter mit herein, denn ſchon der Lage nach ſcheint das tiefliegende Auge einen zuſammengefaßteren, härteren, ſelbſt verborgenen, heimlichen, lauernden Charakter anzuzeigen, das offen liegende einen hellen, aber auch ungeſcheuteren, bis zur Frechheit. Das Auge ſelbſt aber nach Glanz, Feuchtigkeit oder Trockenheit, Wölbung oder Fläche im Profil, Rundheit und Größe, Schmalheit und Kleinheit von vorn, Farbe und Durch- ſichtigkeit iſt die Seele alles Ausdrucks in der Einheit des Fühlens, Denkens und Wollens; freilich liegt jedoch ſeine Bedeutung ungleich mehr noch im Blicke, in der Bewegung, demnach im Mimiſchen, als in Form und Farbe. Das Schläfenbein und die Parthie des Ohrs ſpricht in dieſer Region weſentlich mit. — Der mittlere Theil des Geſichts, die Naſe bis gegen die Oberlippe und die Backen, ſind am ſchwierigſten in der Beſtimmung ihres Ausdrucks. Das Bewegliche an dieſer Parthie, der Backenmuskel, wird von den Mundwinkeln aus beſtimmt und von hier aus graben ſich dann auch die habituell werdenden Züge ein, von denen hier noch nicht die Rede iſt. Mehr zu dieſen, als zu den ange- borenen, gehört auch die ſprechende Falte vom Naſenflügel zum Mund- winkel, die Eingefallenheit oder das Sackige der weichen Theile unter dem Auge. Naſe und Jochbein ſind, dieſes ganz unbeweglich, jene wenig beweglich. Sehr ſtarkes Jochbein gibt immer einen Anſchein von Rohheit. Die Naſe wird, da ſie Organ des Geruchs iſt, unwillkührlich als Organ geiſtigen Spürens ſymboliſch gedeutet und zu dieſem Spüren auch das Verhalten der Perſönlichkeit in ihrem Eindringen auf das Objective über- haupt gezogen. So erſcheint die aufgeworfene Naſe, das σιμὸν, naiv neugierig, naſeweiß, die Adlernaſe, das γρυπὸν, durch ihr Vorſchwellen in der Mitte kühn, durch ihr ruhiges, ſchlankes Abſinken aber gelaſſen,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/222>, abgerufen am 27.11.2024.