Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.1. Eine protestantische Bevölkerung hat völlig andern Blick, Aus- 1. Eine proteſtantiſche Bevölkerung hat völlig andern Blick, Aus- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <pb facs="#f0284" n="272"/> <p> <hi rendition="#et">1. Eine proteſtantiſche Bevölkerung hat völlig andern Blick, Aus-<lb/> druck, Bewegung, als eine katholiſche. Alles hat die Naturfriſche nicht<lb/> wie hier, dafür einen tieferen, verinnerlichten Ton. Die glänzende<lb/> Feuchtigkeit und Reinheit des Auges iſt weg, aber man ſieht durch<lb/> den gefaßteren Blick in eine innere Sammlung, Concentrirung, eine<lb/> geſchloſſenere, den Schwerpunkt in ſich ſelbſt tragende Perſönlichkeit. Dieß<lb/> hängt auch mit dem innigeren Familienleben, dem Traulicheren und<lb/> Wohnlicheren der Häuslichkeit und dieſes Häusliche allerdings mit dem<lb/> localen Umſtande zuſammen, daß die Reformation in nördlicheren Ländern<lb/> aufging, wo eine härtere Natur das Leben auf der Straße verbietet und<lb/> den Menſchen auch buchſtäblich und unbildlich in’s Innere weist. Aber<lb/> auch ausdrücklich gab die Reformation durch die Anerkennung der Ehe<lb/> als eines an ſich guten und heiligen Inſtituts dem Familienleben höhere<lb/> Bedeutung; die katholiſche Kirche betrachtet die Ehe als etwas, was<lb/> erſt durch ſie geheiligt werden muß, um gut zu ſein (Voß Luiſe: Treu-<lb/> lichkeit des proteſtantiſchen Pfarrhauſes). Ferner trat aber die Refor-<lb/> mation, obwohl Luther ſelbſt noch viel liberaler war, als ſpätere Refor-<lb/> matoren, wie jede Läuterung der Religion in ihrem Anfang rigoriſtiſch gegen<lb/> bunte Tracht, Volksfeſte, Tänze u. ſ. w. auf. Das traurige Schwarz<lb/> wurde offenbar durch ſie gewaltſam in viele Volkstrachten eingeführt.<lb/> Die Ueberwindung dieſer negativen Haltung gegen das Sinnenleben liegt<lb/> aber als Zukunft in dem Geiſte, der die Reformation erzeugt hat. Er<lb/> zehrt das Naive auf und ſoll es als frei gewollte Natur wiederherſtellen.<lb/> Er geht aber über das Gefäß der proteſtantiſchen Kirche, die als Kirche<lb/> bald erſtarrte, unendlich und untaſtbar hinaus. Beklagt man den dürftigen<lb/> Cultus und preist die Schönheit des katholiſchen, ſo erwäge man, daß<lb/> man die äſthetiſchen Wirkangen des proteſtantiſchen Geiſtes ganz wo<lb/> anders zu ſuchen hat; gegen jene leere Pracht ſtelle man z. B. die Poeſie<lb/> eines Göthe und Schiller, welche nur in der Heimath proteſtantiſcher<lb/> Bildung möglich war, man denke überhaupt an die mittelbaren, weltlichen<lb/> Wirkungen des Prinzips, aus dem die proteſtantiſche Kirche hervorgegangen<lb/> iſt. Die Kirche ſelbſt nun ſtellte ſich zwar unter das weltliche Oberhaupt<lb/> und wurde ſogar ſervil; aber als Kirche ruht ſie auf dem Prinzip der<lb/> übernatürlichen Autorität und unterwühlt im Verlaufe, je weniger ſie<lb/> Macht hat, als zweiter Wille den Willen des Staats. Eine der häß-<lb/> lichſten Erſcheinungen iſt das dogmatiſche Gezänke der proteſtantiſchen<lb/> Theologen. Neue Verfolgungsſucht mordet einen Servede. Der Pietiſmus,<lb/> urſprünglich eine edle Oppoſition gegen das todte Dogma, wird ſpäter<lb/> fanatiſch und tritt als Garde des Erſtorbenen auf, wie die Jeſuiten für<lb/> die katholiſche Kirche. Dieſes Böſe hat aber eine andere Form, es iſt<lb/> ärmer in der Erſcheinung, unſinnlicher, hat den apprehenſiven Geruch<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [272/0284]
1. Eine proteſtantiſche Bevölkerung hat völlig andern Blick, Aus-
druck, Bewegung, als eine katholiſche. Alles hat die Naturfriſche nicht
wie hier, dafür einen tieferen, verinnerlichten Ton. Die glänzende
Feuchtigkeit und Reinheit des Auges iſt weg, aber man ſieht durch
den gefaßteren Blick in eine innere Sammlung, Concentrirung, eine
geſchloſſenere, den Schwerpunkt in ſich ſelbſt tragende Perſönlichkeit. Dieß
hängt auch mit dem innigeren Familienleben, dem Traulicheren und
Wohnlicheren der Häuslichkeit und dieſes Häusliche allerdings mit dem
localen Umſtande zuſammen, daß die Reformation in nördlicheren Ländern
aufging, wo eine härtere Natur das Leben auf der Straße verbietet und
den Menſchen auch buchſtäblich und unbildlich in’s Innere weist. Aber
auch ausdrücklich gab die Reformation durch die Anerkennung der Ehe
als eines an ſich guten und heiligen Inſtituts dem Familienleben höhere
Bedeutung; die katholiſche Kirche betrachtet die Ehe als etwas, was
erſt durch ſie geheiligt werden muß, um gut zu ſein (Voß Luiſe: Treu-
lichkeit des proteſtantiſchen Pfarrhauſes). Ferner trat aber die Refor-
mation, obwohl Luther ſelbſt noch viel liberaler war, als ſpätere Refor-
matoren, wie jede Läuterung der Religion in ihrem Anfang rigoriſtiſch gegen
bunte Tracht, Volksfeſte, Tänze u. ſ. w. auf. Das traurige Schwarz
wurde offenbar durch ſie gewaltſam in viele Volkstrachten eingeführt.
Die Ueberwindung dieſer negativen Haltung gegen das Sinnenleben liegt
aber als Zukunft in dem Geiſte, der die Reformation erzeugt hat. Er
zehrt das Naive auf und ſoll es als frei gewollte Natur wiederherſtellen.
Er geht aber über das Gefäß der proteſtantiſchen Kirche, die als Kirche
bald erſtarrte, unendlich und untaſtbar hinaus. Beklagt man den dürftigen
Cultus und preist die Schönheit des katholiſchen, ſo erwäge man, daß
man die äſthetiſchen Wirkangen des proteſtantiſchen Geiſtes ganz wo
anders zu ſuchen hat; gegen jene leere Pracht ſtelle man z. B. die Poeſie
eines Göthe und Schiller, welche nur in der Heimath proteſtantiſcher
Bildung möglich war, man denke überhaupt an die mittelbaren, weltlichen
Wirkungen des Prinzips, aus dem die proteſtantiſche Kirche hervorgegangen
iſt. Die Kirche ſelbſt nun ſtellte ſich zwar unter das weltliche Oberhaupt
und wurde ſogar ſervil; aber als Kirche ruht ſie auf dem Prinzip der
übernatürlichen Autorität und unterwühlt im Verlaufe, je weniger ſie
Macht hat, als zweiter Wille den Willen des Staats. Eine der häß-
lichſten Erſcheinungen iſt das dogmatiſche Gezänke der proteſtantiſchen
Theologen. Neue Verfolgungsſucht mordet einen Servede. Der Pietiſmus,
urſprünglich eine edle Oppoſition gegen das todte Dogma, wird ſpäter
fanatiſch und tritt als Garde des Erſtorbenen auf, wie die Jeſuiten für
die katholiſche Kirche. Dieſes Böſe hat aber eine andere Form, es iſt
ärmer in der Erſcheinung, unſinnlicher, hat den apprehenſiven Geruch
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