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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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verderblich für das Volk, aber durch frühe begründete Constitution ist eine
glückliche weitere Entwicklung verbürgt.

2. Das Leben rettet sich immer noch manches bunte Stück. Kenntliche
Formen, Sitten, Tracht, Ceremoniell unterscheiden noch die Stände. Das
achtzehnte Jahrhundert ist auch noch recht die Zeit vereinzelter, verwegener
Individuen, der Glücksritter (Casanova), Abentheurer, der Reisen, die
an bunten Zufällen reich sind, der Räuber und Zigeuner (Cartouche,
Hannikel u. s. w.), der kecken Barone, die auswärtige Kriegsdienste suchen,
es ist überall noch Raum, sich zu regen. Diese, für die Aesthetik noch
sehr ergiebigen, Erscheinungen sind nun aber nicht mehr, wie die verein-
zelten rohen Kräfte des Mittelalters, das eigentlich Berechtigte, sondern
sie sind Kampf mit dem Bestehenden, Ueberlistung und Umgehung der
neuen Ordnung, sie sind polizeiwidrig und haben dadurch gerade ihren
eigenen Reiz. Allerdings tritt immer mehr das Biographische in den
Vordergrund; es sind die Privatschicksale, die im ertödteten Ganzen noch
Interesse behaupten. Je mehr der Geist einer neuen Zeit zündet und die
Despoten-Willkühr gegen ihn sich wirft, desto mehr bieten sie tragischen
Stoff dar (Schubart u. And.).

§. 371.

In dieser kahlen monarchischen Einheit bildet sich der Verstand zur1
Consequenz der Aufklärung fort, einer Form des Bewußtseins, welche
wesentlich in Frankreich als eine andere abstractere Reformation erzeugt wird
und sich von da verbreitet. Diese löst die Religion auf, ohne ihren Gehalt2
zu retten, und bethört sich daher mit dem gemachten modernen Wunder. Sie
löst eine unfreie Sitte auf, ohne freie Sittlichkeit zu begründen, rechtfertigt
daher jedes Verbotene und bespiegelt sich eitel im verfeinerten Genuß, in
welchem die monarchische Willkühr und ihre bevorzugte Umgebung wühlt.

1. Die Aufklärung, die wie ein ätzender Geist alles Object in die
verständig denkende, aber auch in die willkührlich genießende Subjectivität
auflöst, ist das französische Surrogat für die Reformation. Ihre wahre
Schneide, ihre ganze negative Kraft wirkt jetzt noch nicht, zunächst ist sie
ganz hoffähig, Geist des Adels, der Fürsten. Da sie aber das Kind mit
dem Bade ausschüttet, so ist sie gestraft mit der Abhängigkeit von dem,
womit sie fertig zu sein meint. So war die Aufklärung keine wahre Kritik
der Religion und ebendaher ließ sie dieselbe stehen. Ludwig XIV wollte
wohl Atheisten, aber keine Protestanten im Amt, er hebt, ohne religiöse
Begeisterung, das Edict von Nantes auf (Dragonaden, Aufruhr in den
Cevennen). Aber nicht nur dieß; die zersetzende Aufklärung geht nicht

verderblich für das Volk, aber durch frühe begründete Conſtitution iſt eine
glückliche weitere Entwicklung verbürgt.

2. Das Leben rettet ſich immer noch manches bunte Stück. Kenntliche
Formen, Sitten, Tracht, Ceremoniell unterſcheiden noch die Stände. Das
achtzehnte Jahrhundert iſt auch noch recht die Zeit vereinzelter, verwegener
Individuen, der Glücksritter (Caſanova), Abentheurer, der Reiſen, die
an bunten Zufällen reich ſind, der Räuber und Zigeuner (Cartouche,
Hannikel u. ſ. w.), der kecken Barone, die auswärtige Kriegsdienſte ſuchen,
es iſt überall noch Raum, ſich zu regen. Dieſe, für die Aeſthetik noch
ſehr ergiebigen, Erſcheinungen ſind nun aber nicht mehr, wie die verein-
zelten rohen Kräfte des Mittelalters, das eigentlich Berechtigte, ſondern
ſie ſind Kampf mit dem Beſtehenden, Ueberliſtung und Umgehung der
neuen Ordnung, ſie ſind polizeiwidrig und haben dadurch gerade ihren
eigenen Reiz. Allerdings tritt immer mehr das Biographiſche in den
Vordergrund; es ſind die Privatſchickſale, die im ertödteten Ganzen noch
Intereſſe behaupten. Je mehr der Geiſt einer neuen Zeit zündet und die
Deſpoten-Willkühr gegen ihn ſich wirft, deſto mehr bieten ſie tragiſchen
Stoff dar (Schubart u. And.).

§. 371.

In dieſer kahlen monarchiſchen Einheit bildet ſich der Verſtand zur1
Conſequenz der Aufklärung fort, einer Form des Bewußtſeins, welche
weſentlich in Frankreich als eine andere abſtractere Reformation erzeugt wird
und ſich von da verbreitet. Dieſe löst die Religion auf, ohne ihren Gehalt2
zu retten, und bethört ſich daher mit dem gemachten modernen Wunder. Sie
löst eine unfreie Sitte auf, ohne freie Sittlichkeit zu begründen, rechtfertigt
daher jedes Verbotene und beſpiegelt ſich eitel im verfeinerten Genuß, in
welchem die monarchiſche Willkühr und ihre bevorzugte Umgebung wühlt.

1. Die Aufklärung, die wie ein ätzender Geiſt alles Object in die
verſtändig denkende, aber auch in die willkührlich genießende Subjectivität
auflöst, iſt das franzöſiſche Surrogat für die Reformation. Ihre wahre
Schneide, ihre ganze negative Kraft wirkt jetzt noch nicht, zunächſt iſt ſie
ganz hoffähig, Geiſt des Adels, der Fürſten. Da ſie aber das Kind mit
dem Bade ausſchüttet, ſo iſt ſie geſtraft mit der Abhängigkeit von dem,
womit ſie fertig zu ſein meint. So war die Aufklärung keine wahre Kritik
der Religion und ebendaher ließ ſie dieſelbe ſtehen. Ludwig XIV wollte
wohl Atheiſten, aber keine Proteſtanten im Amt, er hebt, ohne religiöſe
Begeiſterung, das Edict von Nantes auf (Dragonaden, Aufruhr in den
Cevennen). Aber nicht nur dieß; die zerſetzende Aufklärung geht nicht

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[281/0293] verderblich für das Volk, aber durch frühe begründete Conſtitution iſt eine glückliche weitere Entwicklung verbürgt. 2. Das Leben rettet ſich immer noch manches bunte Stück. Kenntliche Formen, Sitten, Tracht, Ceremoniell unterſcheiden noch die Stände. Das achtzehnte Jahrhundert iſt auch noch recht die Zeit vereinzelter, verwegener Individuen, der Glücksritter (Caſanova), Abentheurer, der Reiſen, die an bunten Zufällen reich ſind, der Räuber und Zigeuner (Cartouche, Hannikel u. ſ. w.), der kecken Barone, die auswärtige Kriegsdienſte ſuchen, es iſt überall noch Raum, ſich zu regen. Dieſe, für die Aeſthetik noch ſehr ergiebigen, Erſcheinungen ſind nun aber nicht mehr, wie die verein- zelten rohen Kräfte des Mittelalters, das eigentlich Berechtigte, ſondern ſie ſind Kampf mit dem Beſtehenden, Ueberliſtung und Umgehung der neuen Ordnung, ſie ſind polizeiwidrig und haben dadurch gerade ihren eigenen Reiz. Allerdings tritt immer mehr das Biographiſche in den Vordergrund; es ſind die Privatſchickſale, die im ertödteten Ganzen noch Intereſſe behaupten. Je mehr der Geiſt einer neuen Zeit zündet und die Deſpoten-Willkühr gegen ihn ſich wirft, deſto mehr bieten ſie tragiſchen Stoff dar (Schubart u. And.). §. 371. In dieſer kahlen monarchiſchen Einheit bildet ſich der Verſtand zur Conſequenz der Aufklärung fort, einer Form des Bewußtſeins, welche weſentlich in Frankreich als eine andere abſtractere Reformation erzeugt wird und ſich von da verbreitet. Dieſe löst die Religion auf, ohne ihren Gehalt zu retten, und bethört ſich daher mit dem gemachten modernen Wunder. Sie löst eine unfreie Sitte auf, ohne freie Sittlichkeit zu begründen, rechtfertigt daher jedes Verbotene und beſpiegelt ſich eitel im verfeinerten Genuß, in welchem die monarchiſche Willkühr und ihre bevorzugte Umgebung wühlt. 1. Die Aufklärung, die wie ein ätzender Geiſt alles Object in die verſtändig denkende, aber auch in die willkührlich genießende Subjectivität auflöst, iſt das franzöſiſche Surrogat für die Reformation. Ihre wahre Schneide, ihre ganze negative Kraft wirkt jetzt noch nicht, zunächſt iſt ſie ganz hoffähig, Geiſt des Adels, der Fürſten. Da ſie aber das Kind mit dem Bade ausſchüttet, ſo iſt ſie geſtraft mit der Abhängigkeit von dem, womit ſie fertig zu ſein meint. So war die Aufklärung keine wahre Kritik der Religion und ebendaher ließ ſie dieſelbe ſtehen. Ludwig XIV wollte wohl Atheiſten, aber keine Proteſtanten im Amt, er hebt, ohne religiöſe Begeiſterung, das Edict von Nantes auf (Dragonaden, Aufruhr in den Cevennen). Aber nicht nur dieß; die zerſetzende Aufklärung geht nicht

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/293>, abgerufen am 22.11.2024.