Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
Abhebung des Kopfes vom Rumpfe, aufhebt. Das Wichtigste war die
Abhebung des Kopfes vom Rumpfe, aufhebt. Das Wichtigſte war die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0305" n="293"/> Abhebung des Kopfes vom Rumpfe, aufhebt. Das Wichtigſte war die<lb/> Einführung des langen Beinkleids (Revolutionsheere, <hi rendition="#aq">sansculottes</hi>) und<lb/> die Sanctionirung des Stiefels. Die weibliche Revolutionstracht, antike<lb/> Tunika mit ganz kurzer Taille, ſchaamloſer Entblößung, wich bald wieder<lb/> der längeren Taille, dem Schnürleib, dem bauſchigeren Kleide. An dieſen<lb/> Formen iſt ſeither nichts Weſentliches, außer dem Rückgriff zum alten<lb/> Rock ohne Taille, geändert worden. Mit Ausnahme dieſer neueren Ueber-<lb/> würfe liegt Alles glatt am Leib, nirgends eine Phantaſie, ein freier<lb/> Ueberfluß; Alles geht in der Bewegung mit, ſelbſt der Reitermantel,<lb/> das letzte Männerkleid mit frei fallenden Falten, iſt eben dieſen Ueber-<lb/> würfen, die zwar luftiger, als der Rock, aber ohne freien Faltenfluß als<lb/> fertige Kapſel mit dem Körper gehen, gewichen. Man kann den Charakter<lb/> der Tracht beſonders gut prüfen, wenn man die Kleidungsſtücke hängen<lb/> oder liegen ſieht. Die unſrigen ſind dann eine wahre Caricatur des<lb/> Körpers, gerade weil ſie ſeinen Formen fertig genäht folgen und doch<lb/> durch die Abweichungen, welche die Nähte, die Stoffe bedingen, das<lb/> Bild entſtellen. Wir gehen in lauter zuſammengeſetzten Säcken. Inner-<lb/> halb des ſtehenden Typus iſt ſinnloſer Kitzel des Wechſels. So war<lb/> vor etlichen Jahren der rechte Punkt für die Taille gefunden, ihre Knöpfe<lb/> ſaßen in der natürlichen Taille, aber die Mode wirft auch das Gute weg,<lb/> das ſie gefunden; jetzt z. B. iſt die Taille des Rocks affenſchändlich an<lb/> das Hintertheil hinabgerückt. Die weibliche Tracht iſt in Manchem ver-<lb/> nünftiger geworden, hat aber den Geſundheit zerſtörenden, den Wellen-<lb/> ſchwung an Weiche und Hüfte in einen ſcharfen Winkel verkehrenden<lb/> Schnürleib beibehalten und den einſt breitkrempigen Hut zu einem lächer-<lb/> lichen Stück Ofenrohr gemacht. Die männliche Kopfbedeckung hat außer<lb/> den Hüten nur die Mützen, die nie erträglich ausſehen können, ſo lange<lb/> die angenähte Handhabe des Lederſchilds nicht ſchwindet. Am Schlimmſten<lb/> aber iſt es mit der Farbe beſtellt. Volle Farben ſind Kunſtreitern und<lb/> Seiltänzern geblieben, dunkle Miß- und Miſtfarben allein ſind nobel,<lb/> wer dieſem Geſchmack nicht folgt, dem laufen die Kinder nach; der<lb/> Farbenſinn iſt todt. Ebenſo ſind edle Metalle als feſter Schmuck in<lb/> Stickerei, Borden, Quaſten u. ſ. w. verbannt, ſelbſt Ringe, Goldketten<lb/> u. ſ. w. ſind gemein geworden. In dieſer Tracht ſind die Bewegungen<lb/> nachläßig oder ſtraff, gemein oder zierlich, aber immer kurz angebunden,<lb/> punctuell, ohne allen <hi rendition="#aq">tenor,</hi> ohne all das weitere Ausholen, das der<lb/> Würde weſentlich iſt: wie die Kleidung ſelbſt <hi rendition="#g">elegant</hi> ſtatt <hi rendition="#g">ſchön</hi> iſt,<lb/> ſo auch die Bewegung, und das noch im guten Falle. Ein freies,<lb/> fließendes Gewand weiß Niemand mehr zu tragen. Ueber alle Stände<lb/> hat ſich dieſe Tracht verbreitet und ſie unterſcheidet keinen; auch dem<lb/> Einzelnen geſtattet ſie nur ſo geringe Wahl, daß ſchon die Mode ihn<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [293/0305]
Abhebung des Kopfes vom Rumpfe, aufhebt. Das Wichtigſte war die
Einführung des langen Beinkleids (Revolutionsheere, sansculottes) und
die Sanctionirung des Stiefels. Die weibliche Revolutionstracht, antike
Tunika mit ganz kurzer Taille, ſchaamloſer Entblößung, wich bald wieder
der längeren Taille, dem Schnürleib, dem bauſchigeren Kleide. An dieſen
Formen iſt ſeither nichts Weſentliches, außer dem Rückgriff zum alten
Rock ohne Taille, geändert worden. Mit Ausnahme dieſer neueren Ueber-
würfe liegt Alles glatt am Leib, nirgends eine Phantaſie, ein freier
Ueberfluß; Alles geht in der Bewegung mit, ſelbſt der Reitermantel,
das letzte Männerkleid mit frei fallenden Falten, iſt eben dieſen Ueber-
würfen, die zwar luftiger, als der Rock, aber ohne freien Faltenfluß als
fertige Kapſel mit dem Körper gehen, gewichen. Man kann den Charakter
der Tracht beſonders gut prüfen, wenn man die Kleidungsſtücke hängen
oder liegen ſieht. Die unſrigen ſind dann eine wahre Caricatur des
Körpers, gerade weil ſie ſeinen Formen fertig genäht folgen und doch
durch die Abweichungen, welche die Nähte, die Stoffe bedingen, das
Bild entſtellen. Wir gehen in lauter zuſammengeſetzten Säcken. Inner-
halb des ſtehenden Typus iſt ſinnloſer Kitzel des Wechſels. So war
vor etlichen Jahren der rechte Punkt für die Taille gefunden, ihre Knöpfe
ſaßen in der natürlichen Taille, aber die Mode wirft auch das Gute weg,
das ſie gefunden; jetzt z. B. iſt die Taille des Rocks affenſchändlich an
das Hintertheil hinabgerückt. Die weibliche Tracht iſt in Manchem ver-
nünftiger geworden, hat aber den Geſundheit zerſtörenden, den Wellen-
ſchwung an Weiche und Hüfte in einen ſcharfen Winkel verkehrenden
Schnürleib beibehalten und den einſt breitkrempigen Hut zu einem lächer-
lichen Stück Ofenrohr gemacht. Die männliche Kopfbedeckung hat außer
den Hüten nur die Mützen, die nie erträglich ausſehen können, ſo lange
die angenähte Handhabe des Lederſchilds nicht ſchwindet. Am Schlimmſten
aber iſt es mit der Farbe beſtellt. Volle Farben ſind Kunſtreitern und
Seiltänzern geblieben, dunkle Miß- und Miſtfarben allein ſind nobel,
wer dieſem Geſchmack nicht folgt, dem laufen die Kinder nach; der
Farbenſinn iſt todt. Ebenſo ſind edle Metalle als feſter Schmuck in
Stickerei, Borden, Quaſten u. ſ. w. verbannt, ſelbſt Ringe, Goldketten
u. ſ. w. ſind gemein geworden. In dieſer Tracht ſind die Bewegungen
nachläßig oder ſtraff, gemein oder zierlich, aber immer kurz angebunden,
punctuell, ohne allen tenor, ohne all das weitere Ausholen, das der
Würde weſentlich iſt: wie die Kleidung ſelbſt elegant ſtatt ſchön iſt,
ſo auch die Bewegung, und das noch im guten Falle. Ein freies,
fließendes Gewand weiß Niemand mehr zu tragen. Ueber alle Stände
hat ſich dieſe Tracht verbreitet und ſie unterſcheidet keinen; auch dem
Einzelnen geſtattet ſie nur ſo geringe Wahl, daß ſchon die Mode ihn
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |