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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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ihm seinen ästhetischen Werth gerade noch niedriger anweist, als der ist,
der jenen frei ergossenen Materien zukommt. Zunächst jedoch scheint die
ganze unorganische Welt von dem Leben der Persönlichkeit zu weit abzu-
liegen, als daß diese sich in ihr ahnen könnte; der Kreislauf selbständiger
innerer Bewegung wenigstens, wie er in der Pflanze auftritt, scheint sich
mit dem Anblick der übrigen Landschaft verbinden zu müssen, um die Per-
sönlichkeit in ihr wie vorbereitet anschauen zu können, und so scheint die unor-
ganische Natur überhaupt bloße Vorbedingungen zu enthalten, aus denen sich
ein schönes Ganzes erst zusammenbauen kann, wenn wir sie mit dem organischen
Leben zusammenfassen, so daß wir dem Lichte, der Luft, dem Wasser, der Erde
erst Baum, Thier, Mensch hinzugeben müssen, die darin erscheinen, athmen, sich
davon nähren, darin wurzeln, darauf wandeln. Können aber nicht dennoch diese
Erscheinungen auch ohne lebendige Staffage schön sein? In ihrer Ver-
einzelung jedenfalls nicht; Licht allein, Luft allein u. s. f. ist als genügend
zu einer schönen Erscheinung gar nicht denkbar und soweit allerdings ist
der Satz begründet, daß das Schöne noch nicht eintreten kann, wo lebendige
Individualität fehlt. Selbst die bereits lebendig individualisirte Pflanze
fordert, wie wir sehen werden, noch eine Zugabe, wenn sie ästhetisch sein
soll; ein Thier dagegen, ein Mensch kann für sich allein als schönes Ganzes
auftreten. Dagegen wenn mehrere der unorganischen Potenzen zu einem
Wechselspiele zusammentreten, stellt sich die Sache anders. Ein Stück See
mit oder ohne begrenzende Ufer kann durch reine Licht-Reflexe und Farben-
töne bei ruhiger Luft, durch Aufwühlung seiner Wasser und bewegte Luft
allerdings zu einem ästhetischen Eindrucke genügen; Gebirgsformen selbst
ohne Vegetation können in guter Beleuchtung, etwa mit Wasser zusammen-
gestellt, das Auge befriedigen: mit einem Wort, es können schöne Land-
schaften vorkommen auch bei völligem Mangel vegetabilischer, thierischer,
menschlicher Staffage. Allerdings wird dieß nur in seltenen Momenten
möglich sein, und welcher Art sind diese Momente? Es sind solche, worin
ein Wechselspiel der elementarischen Potenzen uns das ersetzt, was in strenger
Wahrheit nur das organische Individuum darbietet; d. h. Momente, worin
die unorganische Natur einen Effect hervorbringt, der unwillkührlich an
das organische Leben als ein aus einem selbständigen Mittelpunkt in sich
thätiges, in sich prozessirendes, von sich aus- und in sich zurückgehendes
Wesen erinnert. Die unorganische Natur sieht in solchen Momenten, wo
etwa Sonne und Berg im blauen Wasser sich spiegelt, aus, als beschaute
sie sich selbst, als weidete sie sich an ihrem eigenen Bilde, als dämmerte
ein Selbstbewußtsein in ihr auf, oder ein andermal scheint es, als ränge
sie wie in jenen uralten großen Kämpfen, in denen sie einst die höheren
Gestalten der Lebendigen aus ihrem noch lebensschwangeren Schooß hervor-
brachte: Stürme, Fluthen, wilde Bergformen, Vulkane führen dieses Urleben,

ihm ſeinen äſthetiſchen Werth gerade noch niedriger anweist, als der iſt,
der jenen frei ergoſſenen Materien zukommt. Zunächſt jedoch ſcheint die
ganze unorganiſche Welt von dem Leben der Perſönlichkeit zu weit abzu-
liegen, als daß dieſe ſich in ihr ahnen könnte; der Kreislauf ſelbſtändiger
innerer Bewegung wenigſtens, wie er in der Pflanze auftritt, ſcheint ſich
mit dem Anblick der übrigen Landſchaft verbinden zu müſſen, um die Per-
ſönlichkeit in ihr wie vorbereitet anſchauen zu können, und ſo ſcheint die unor-
ganiſche Natur überhaupt bloße Vorbedingungen zu enthalten, aus denen ſich
ein ſchönes Ganzes erſt zuſammenbauen kann, wenn wir ſie mit dem organiſchen
Leben zuſammenfaſſen, ſo daß wir dem Lichte, der Luft, dem Waſſer, der Erde
erſt Baum, Thier, Menſch hinzugeben müſſen, die darin erſcheinen, athmen, ſich
davon nähren, darin wurzeln, darauf wandeln. Können aber nicht dennoch dieſe
Erſcheinungen auch ohne lebendige Staffage ſchön ſein? In ihrer Ver-
einzelung jedenfalls nicht; Licht allein, Luft allein u. ſ. f. iſt als genügend
zu einer ſchönen Erſcheinung gar nicht denkbar und ſoweit allerdings iſt
der Satz begründet, daß das Schöne noch nicht eintreten kann, wo lebendige
Individualität fehlt. Selbſt die bereits lebendig individualiſirte Pflanze
fordert, wie wir ſehen werden, noch eine Zugabe, wenn ſie äſthetiſch ſein
ſoll; ein Thier dagegen, ein Menſch kann für ſich allein als ſchönes Ganzes
auftreten. Dagegen wenn mehrere der unorganiſchen Potenzen zu einem
Wechſelſpiele zuſammentreten, ſtellt ſich die Sache anders. Ein Stück See
mit oder ohne begrenzende Ufer kann durch reine Licht-Reflexe und Farben-
töne bei ruhiger Luft, durch Aufwühlung ſeiner Waſſer und bewegte Luft
allerdings zu einem äſthetiſchen Eindrucke genügen; Gebirgsformen ſelbſt
ohne Vegetation können in guter Beleuchtung, etwa mit Waſſer zuſammen-
geſtellt, das Auge befriedigen: mit einem Wort, es können ſchöne Land-
ſchaften vorkommen auch bei völligem Mangel vegetabiliſcher, thieriſcher,
menſchlicher Staffage. Allerdings wird dieß nur in ſeltenen Momenten
möglich ſein, und welcher Art ſind dieſe Momente? Es ſind ſolche, worin
ein Wechſelſpiel der elementariſchen Potenzen uns das erſetzt, was in ſtrenger
Wahrheit nur das organiſche Individuum darbietet; d. h. Momente, worin
die unorganiſche Natur einen Effect hervorbringt, der unwillkührlich an
das organiſche Leben als ein aus einem ſelbſtändigen Mittelpunkt in ſich
thätiges, in ſich prozeſſirendes, von ſich aus- und in ſich zurückgehendes
Weſen erinnert. Die unorganiſche Natur ſieht in ſolchen Momenten, wo
etwa Sonne und Berg im blauen Waſſer ſich ſpiegelt, aus, als beſchaute
ſie ſich ſelbſt, als weidete ſie ſich an ihrem eigenen Bilde, als dämmerte
ein Selbſtbewußtſein in ihr auf, oder ein andermal ſcheint es, als ränge
ſie wie in jenen uralten großen Kämpfen, in denen ſie einſt die höheren
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brachte: Stürme, Fluthen, wilde Bergformen, Vulkane führen dieſes Urleben,

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[26/0038] ihm ſeinen äſthetiſchen Werth gerade noch niedriger anweist, als der iſt, der jenen frei ergoſſenen Materien zukommt. Zunächſt jedoch ſcheint die ganze unorganiſche Welt von dem Leben der Perſönlichkeit zu weit abzu- liegen, als daß dieſe ſich in ihr ahnen könnte; der Kreislauf ſelbſtändiger innerer Bewegung wenigſtens, wie er in der Pflanze auftritt, ſcheint ſich mit dem Anblick der übrigen Landſchaft verbinden zu müſſen, um die Per- ſönlichkeit in ihr wie vorbereitet anſchauen zu können, und ſo ſcheint die unor- ganiſche Natur überhaupt bloße Vorbedingungen zu enthalten, aus denen ſich ein ſchönes Ganzes erſt zuſammenbauen kann, wenn wir ſie mit dem organiſchen Leben zuſammenfaſſen, ſo daß wir dem Lichte, der Luft, dem Waſſer, der Erde erſt Baum, Thier, Menſch hinzugeben müſſen, die darin erſcheinen, athmen, ſich davon nähren, darin wurzeln, darauf wandeln. Können aber nicht dennoch dieſe Erſcheinungen auch ohne lebendige Staffage ſchön ſein? In ihrer Ver- einzelung jedenfalls nicht; Licht allein, Luft allein u. ſ. f. iſt als genügend zu einer ſchönen Erſcheinung gar nicht denkbar und ſoweit allerdings iſt der Satz begründet, daß das Schöne noch nicht eintreten kann, wo lebendige Individualität fehlt. Selbſt die bereits lebendig individualiſirte Pflanze fordert, wie wir ſehen werden, noch eine Zugabe, wenn ſie äſthetiſch ſein ſoll; ein Thier dagegen, ein Menſch kann für ſich allein als ſchönes Ganzes auftreten. Dagegen wenn mehrere der unorganiſchen Potenzen zu einem Wechſelſpiele zuſammentreten, ſtellt ſich die Sache anders. Ein Stück See mit oder ohne begrenzende Ufer kann durch reine Licht-Reflexe und Farben- töne bei ruhiger Luft, durch Aufwühlung ſeiner Waſſer und bewegte Luft allerdings zu einem äſthetiſchen Eindrucke genügen; Gebirgsformen ſelbſt ohne Vegetation können in guter Beleuchtung, etwa mit Waſſer zuſammen- geſtellt, das Auge befriedigen: mit einem Wort, es können ſchöne Land- ſchaften vorkommen auch bei völligem Mangel vegetabiliſcher, thieriſcher, menſchlicher Staffage. Allerdings wird dieß nur in ſeltenen Momenten möglich ſein, und welcher Art ſind dieſe Momente? Es ſind ſolche, worin ein Wechſelſpiel der elementariſchen Potenzen uns das erſetzt, was in ſtrenger Wahrheit nur das organiſche Individuum darbietet; d. h. Momente, worin die unorganiſche Natur einen Effect hervorbringt, der unwillkührlich an das organiſche Leben als ein aus einem ſelbſtändigen Mittelpunkt in ſich thätiges, in ſich prozeſſirendes, von ſich aus- und in ſich zurückgehendes Weſen erinnert. Die unorganiſche Natur ſieht in ſolchen Momenten, wo etwa Sonne und Berg im blauen Waſſer ſich ſpiegelt, aus, als beſchaute ſie ſich ſelbſt, als weidete ſie ſich an ihrem eigenen Bilde, als dämmerte ein Selbſtbewußtſein in ihr auf, oder ein andermal ſcheint es, als ränge ſie wie in jenen uralten großen Kämpfen, in denen ſie einſt die höheren Geſtalten der Lebendigen aus ihrem noch lebensſchwangeren Schooß hervor- brachte: Stürme, Fluthen, wilde Bergformen, Vulkane führen dieſes Urleben,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/38>, abgerufen am 21.11.2024.