Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite
e.
Die Erde.
§. 260.

Das erste Feste, das sich in der unorganischen Natur darstellt, ist das
Erdreich. Die Formen, die es im Großen zeigt, sind zwar durch äußere
Gewalt entstanden und es fehlt ihnen daher die Individualität als eine von
innen heraus ein durch sich selbst begrenztes Gebilde bauende Macht. Allein
sie sind durch eine Bewegung entstanden, diese Bewegung und die Art ihrer
Ursache sieht man ihnen dunkler oder deutlicher an und so rufen sie die gewaltigen
Gährungen und Umwälzungen vor die Seele, wodurch der Planet seine jetzige
Gestalt sich gegeben hat. Diese Bewegung scheint sich im Anschauen zu wieder-
holen, die todten Formen leben auf und der thätige Planet ist daher das In-
dividuum, welches als das eigentliche Subject der Schönheit in diesem Schauspiele
sich darstellt; die einzelnen Formen erscheinen als seine massenhafte Gliederung.
Alles geht in's Große, Erhabene.

Das rechte Sehen ist ein inneres Nachzeichnen; man braucht dazu
nicht Künstler zu sein, aber man muß sehen gelernt haben. Indem ich so
die Erdbildungen sehend nachzeichne, hebe ich sie eigentlich auf und schaffe
sie neu; ich verstehe und ahne in ihren Linien die Gewalt, die sie einst
aus einem Chaos wirklich schuf und mitgerissen lege ich mich selbst in
diese Gewalt und wiederhole ihren Prozeß. Die Feuergewalt höre ich
wieder dumpf zischen, donnern und die großen Massen thürmen, die Urwasser
höre ich rauschen und sehe, wie sie die breiten Flächen hinwerfen, die Berge
aufschichten; die großen Strom-Durchbrüche reißen das wilde Thal, spülen
das sanftere aus. Der Planet arbeitet mächtig, sich seine Gestalt zu geben,
er ist als werdendes Individuum der ästhetische Gegenstand in diesem Schau-
spiele. Er schafft sich seine Rippen, sein Knochengerüste, er breitet seine
gigantischen Glieder aus und legt die weicheren Umhüllungen darüber.
Wie wir in Alles den Menschen legen, so hat im Kleineren auch die
Sprache für die Erdbildungen organische Namen festgesetzt: Kopf,
Rücken, Kamm, Schulter, Arm, Fuß, Sohle bezeichnen die Theile der
Gebirge, des Thals. Da nun hier alles in massenhaften, großen
Verhältnissen besteht, so wird durchaus der Charakter des Erhabenen
herrschen, doch tritt innerhalb desselben ein Gegensatz von Schönem und
Erhabenem auf.


Vischer's Aesthetik. 2. Band. 5
e.
Die Erde.
§. 260.

Das erſte Feſte, das ſich in der unorganiſchen Natur darſtellt, iſt das
Erdreich. Die Formen, die es im Großen zeigt, ſind zwar durch äußere
Gewalt entſtanden und es fehlt ihnen daher die Individualität als eine von
innen heraus ein durch ſich ſelbſt begrenztes Gebilde bauende Macht. Allein
ſie ſind durch eine Bewegung entſtanden, dieſe Bewegung und die Art ihrer
Urſache ſieht man ihnen dunkler oder deutlicher an und ſo rufen ſie die gewaltigen
Gährungen und Umwälzungen vor die Seele, wodurch der Planet ſeine jetzige
Geſtalt ſich gegeben hat. Dieſe Bewegung ſcheint ſich im Anſchauen zu wieder-
holen, die todten Formen leben auf und der thätige Planet iſt daher das In-
dividuum, welches als das eigentliche Subject der Schönheit in dieſem Schauſpiele
ſich darſtellt; die einzelnen Formen erſcheinen als ſeine maſſenhafte Gliederung.
Alles geht in’s Große, Erhabene.

Das rechte Sehen iſt ein inneres Nachzeichnen; man braucht dazu
nicht Künſtler zu ſein, aber man muß ſehen gelernt haben. Indem ich ſo
die Erdbildungen ſehend nachzeichne, hebe ich ſie eigentlich auf und ſchaffe
ſie neu; ich verſtehe und ahne in ihren Linien die Gewalt, die ſie einſt
aus einem Chaos wirklich ſchuf und mitgeriſſen lege ich mich ſelbſt in
dieſe Gewalt und wiederhole ihren Prozeß. Die Feuergewalt höre ich
wieder dumpf ziſchen, donnern und die großen Maſſen thürmen, die Urwaſſer
höre ich rauſchen und ſehe, wie ſie die breiten Flächen hinwerfen, die Berge
aufſchichten; die großen Strom-Durchbrüche reißen das wilde Thal, ſpülen
das ſanftere aus. Der Planet arbeitet mächtig, ſich ſeine Geſtalt zu geben,
er iſt als werdendes Individuum der äſthetiſche Gegenſtand in dieſem Schau-
ſpiele. Er ſchafft ſich ſeine Rippen, ſein Knochengerüſte, er breitet ſeine
gigantiſchen Glieder aus und legt die weicheren Umhüllungen darüber.
Wie wir in Alles den Menſchen legen, ſo hat im Kleineren auch die
Sprache für die Erdbildungen organiſche Namen feſtgeſetzt: Kopf,
Rücken, Kamm, Schulter, Arm, Fuß, Sohle bezeichnen die Theile der
Gebirge, des Thals. Da nun hier alles in maſſenhaften, großen
Verhältniſſen beſteht, ſo wird durchaus der Charakter des Erhabenen
herrſchen, doch tritt innerhalb deſſelben ein Gegenſatz von Schönem und
Erhabenem auf.


Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0077" n="65"/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">e.</hi><lb/><hi rendition="#g">Die Erde</hi>.</hi> </head><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 260.</head><lb/>
                <p> <hi rendition="#fr">Das er&#x017F;te Fe&#x017F;te, das &#x017F;ich in der unorgani&#x017F;chen Natur dar&#x017F;tellt, i&#x017F;t das<lb/><hi rendition="#g">Erdreich</hi>. Die Formen, die es im Großen zeigt, &#x017F;ind zwar durch äußere<lb/>
Gewalt ent&#x017F;tanden und es fehlt ihnen daher die Individualität als eine von<lb/>
innen heraus ein durch &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t begrenztes Gebilde bauende Macht. Allein<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ind durch eine Bewegung ent&#x017F;tanden, die&#x017F;e Bewegung und die Art ihrer<lb/>
Ur&#x017F;ache &#x017F;ieht man ihnen dunkler oder deutlicher an und &#x017F;o rufen &#x017F;ie die gewaltigen<lb/>
Gährungen und Umwälzungen vor die Seele, wodurch der Planet &#x017F;eine jetzige<lb/>
Ge&#x017F;talt &#x017F;ich gegeben hat. Die&#x017F;e Bewegung &#x017F;cheint &#x017F;ich im An&#x017F;chauen zu wieder-<lb/>
holen, die todten Formen leben auf und der thätige Planet i&#x017F;t daher das In-<lb/>
dividuum, welches als das eigentliche Subject der Schönheit in die&#x017F;em Schau&#x017F;piele<lb/>
&#x017F;ich dar&#x017F;tellt; die einzelnen Formen er&#x017F;cheinen als &#x017F;eine ma&#x017F;&#x017F;enhafte Gliederung.<lb/>
Alles geht in&#x2019;s Große, Erhabene.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">Das rechte Sehen i&#x017F;t ein inneres Nachzeichnen; man braucht dazu<lb/>
nicht Kün&#x017F;tler zu &#x017F;ein, aber man muß &#x017F;ehen gelernt haben. Indem ich &#x017F;o<lb/>
die Erdbildungen &#x017F;ehend nachzeichne, hebe ich &#x017F;ie eigentlich auf und &#x017F;chaffe<lb/>
&#x017F;ie neu; ich ver&#x017F;tehe und ahne in ihren Linien die Gewalt, die &#x017F;ie ein&#x017F;t<lb/>
aus einem Chaos wirklich &#x017F;chuf und mitgeri&#x017F;&#x017F;en lege ich mich &#x017F;elb&#x017F;t in<lb/>
die&#x017F;e Gewalt und wiederhole ihren Prozeß. Die Feuergewalt höre ich<lb/>
wieder dumpf zi&#x017F;chen, donnern und die großen Ma&#x017F;&#x017F;en thürmen, die Urwa&#x017F;&#x017F;er<lb/>
höre ich rau&#x017F;chen und &#x017F;ehe, wie &#x017F;ie die breiten Flächen hinwerfen, die Berge<lb/>
auf&#x017F;chichten; die großen Strom-Durchbrüche reißen das wilde Thal, &#x017F;pülen<lb/>
das &#x017F;anftere aus. Der Planet arbeitet mächtig, &#x017F;ich &#x017F;eine Ge&#x017F;talt zu geben,<lb/>
er i&#x017F;t als werdendes Individuum der ä&#x017F;theti&#x017F;che Gegen&#x017F;tand in die&#x017F;em Schau-<lb/>
&#x017F;piele. Er &#x017F;chafft &#x017F;ich &#x017F;eine Rippen, &#x017F;ein Knochengerü&#x017F;te, er breitet &#x017F;eine<lb/>
giganti&#x017F;chen Glieder aus und legt die weicheren Umhüllungen darüber.<lb/>
Wie wir in Alles den Men&#x017F;chen legen, &#x017F;o hat im Kleineren auch die<lb/>
Sprache für die Erdbildungen organi&#x017F;che Namen fe&#x017F;tge&#x017F;etzt: Kopf,<lb/>
Rücken, Kamm, Schulter, Arm, Fuß, Sohle bezeichnen die Theile der<lb/>
Gebirge, des Thals. Da nun hier alles in ma&#x017F;&#x017F;enhaften, großen<lb/>
Verhältni&#x017F;&#x017F;en be&#x017F;teht, &#x017F;o wird durchaus der Charakter des Erhabenen<lb/>
herr&#x017F;chen, doch tritt innerhalb de&#x017F;&#x017F;elben ein Gegen&#x017F;atz von Schönem und<lb/>
Erhabenem auf.</hi> </p>
              </div><lb/>
              <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Vi&#x017F;cher&#x2019;s</hi> Ae&#x017F;thetik. 2. Band. 5</fw><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[65/0077] e. Die Erde. §. 260. Das erſte Feſte, das ſich in der unorganiſchen Natur darſtellt, iſt das Erdreich. Die Formen, die es im Großen zeigt, ſind zwar durch äußere Gewalt entſtanden und es fehlt ihnen daher die Individualität als eine von innen heraus ein durch ſich ſelbſt begrenztes Gebilde bauende Macht. Allein ſie ſind durch eine Bewegung entſtanden, dieſe Bewegung und die Art ihrer Urſache ſieht man ihnen dunkler oder deutlicher an und ſo rufen ſie die gewaltigen Gährungen und Umwälzungen vor die Seele, wodurch der Planet ſeine jetzige Geſtalt ſich gegeben hat. Dieſe Bewegung ſcheint ſich im Anſchauen zu wieder- holen, die todten Formen leben auf und der thätige Planet iſt daher das In- dividuum, welches als das eigentliche Subject der Schönheit in dieſem Schauſpiele ſich darſtellt; die einzelnen Formen erſcheinen als ſeine maſſenhafte Gliederung. Alles geht in’s Große, Erhabene. Das rechte Sehen iſt ein inneres Nachzeichnen; man braucht dazu nicht Künſtler zu ſein, aber man muß ſehen gelernt haben. Indem ich ſo die Erdbildungen ſehend nachzeichne, hebe ich ſie eigentlich auf und ſchaffe ſie neu; ich verſtehe und ahne in ihren Linien die Gewalt, die ſie einſt aus einem Chaos wirklich ſchuf und mitgeriſſen lege ich mich ſelbſt in dieſe Gewalt und wiederhole ihren Prozeß. Die Feuergewalt höre ich wieder dumpf ziſchen, donnern und die großen Maſſen thürmen, die Urwaſſer höre ich rauſchen und ſehe, wie ſie die breiten Flächen hinwerfen, die Berge aufſchichten; die großen Strom-Durchbrüche reißen das wilde Thal, ſpülen das ſanftere aus. Der Planet arbeitet mächtig, ſich ſeine Geſtalt zu geben, er iſt als werdendes Individuum der äſthetiſche Gegenſtand in dieſem Schau- ſpiele. Er ſchafft ſich ſeine Rippen, ſein Knochengerüſte, er breitet ſeine gigantiſchen Glieder aus und legt die weicheren Umhüllungen darüber. Wie wir in Alles den Menſchen legen, ſo hat im Kleineren auch die Sprache für die Erdbildungen organiſche Namen feſtgeſetzt: Kopf, Rücken, Kamm, Schulter, Arm, Fuß, Sohle bezeichnen die Theile der Gebirge, des Thals. Da nun hier alles in maſſenhaften, großen Verhältniſſen beſteht, ſo wird durchaus der Charakter des Erhabenen herrſchen, doch tritt innerhalb deſſelben ein Gegenſatz von Schönem und Erhabenem auf. Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/77
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/77>, abgerufen am 21.11.2024.