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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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ästhetisch bedeutungsvoller als der naturwissenschaftlich ungleich bedeutendere,
weil individuelle Krystall. Den Grund dieser Umkehrung, dieses Widerspruchs
zwischen der Naturwissenschaft und Aesthetik spricht der §. aus und stellt
nun ausdrücklich fest, was §. 265 Anm. 2 schon erwähnt wurde, daß
nämlich hier die Einschränkung §. 18, 1. ihre Stelle findet, wornach das
an sich in der Natur Höhere ästhetisch niedrigerer sein kann, als das in
der Natur Niedrigere. Die Krystallbildung enthält zu viel, um ihr in
unbefangener Täuschung einen Schein des Lebens, selbst des Seelenlebens
beizulegen, sie enthält zu wenig, um als wirklich belebt erkannt zu werden;
sie bindet den Beschauenden, weil sie selbst gebunden ist; dieß Gebunden-
sein ist an sich etwas Höheres, als das ungebundene Irren, Schweben
und Fließen der Lichter, Lufttöne, Farbenreflexe, Wasser, es ist aber nicht
hoch genug, um in der Bindung zugleich frei zu entlassen, wie das organische
Leben, das seine festen Formen hat, aber diese in steter Selbsterzeugung,
sie immer zerstörend und wieder schaffend, bewegt und so in der Begrenzung
Unendlichkeit darstellt. Der Krystall ist zu viel und zu wenig. Gerade
deßwegen schließt er aber das Reich der unorganischen Schönheit ab und
weist hinaus in eine höhere, denn er fordert bestimmt auf, weiter zu gehen,
das geheimnißvoll Bauende, was in ihm, seine Züge in die unorganische
Masse zeichnend und sie um einen Mittelpunkt ordnend, zu Tage tritt, zu
verfolgen in die bedeutenderen Reiche des Lebens, wo es als Symmetrie im
Baue des Thiers, des Menschen unter ganz andern Bedingungen wieder-
kehrt; seine Gestalt treibt uns, die Bildungsgesetze des dunkeln Natur-
grunds da zu suchen, wo jene Unterschiebung, die wir bei ihm nicht mehr
anbringen können, wirklich auch nicht mehr nöthig, wenigstens in dem Sinne,
wie bei den früher betrachteten Erscheinungen der unorganischen Natur,
nicht mehr nöthig ist. Darum durfte uns die genannte Umkehrung nicht
bestimmen, wirklich den umgekehrten Gang zu nehmen. Aber auch das
Mineral im Großen, die Erdbildungen unterliegen der genannten Umkehrung.
Sie erscheinen zunächst ästhetisch belebter als der Krystall, dieser tritt daher
hinter sie zurück; aber sie sammt dem krystallischen Gebilde treten hinter
das bewegte Spiel des Lichts, der Farbe, Luft, des Wassers zurück, denn
erst im Scheine derselben vergeistigen und verklären sich dem Auge diese
festen Hauptmassen einer Landschaft. -- Uebrigens können wir den Krystall
nicht sogleich verlassen, es sind allerdings noch weitere Schönheitsmomente
an ihm hervorzuheben.

§. 268.

Das einzelne Mineral gewinnt daher, während übrigens freilich der
Mangel zureichender Größe immer bleibt, gerade dadurch höhere ästhetische
Bedeutung, daß jene an sich niedrigen Erscheinungen der unorganischen Natur

äſthetiſch bedeutungsvoller als der naturwiſſenſchaftlich ungleich bedeutendere,
weil individuelle Kryſtall. Den Grund dieſer Umkehrung, dieſes Widerſpruchs
zwiſchen der Naturwiſſenſchaft und Aeſthetik ſpricht der §. aus und ſtellt
nun ausdrücklich feſt, was §. 265 Anm. 2 ſchon erwähnt wurde, daß
nämlich hier die Einſchränkung §. 18, 1. ihre Stelle findet, wornach das
an ſich in der Natur Höhere äſthetiſch niedrigerer ſein kann, als das in
der Natur Niedrigere. Die Kryſtallbildung enthält zu viel, um ihr in
unbefangener Täuſchung einen Schein des Lebens, ſelbſt des Seelenlebens
beizulegen, ſie enthält zu wenig, um als wirklich belebt erkannt zu werden;
ſie bindet den Beſchauenden, weil ſie ſelbſt gebunden iſt; dieß Gebunden-
ſein iſt an ſich etwas Höheres, als das ungebundene Irren, Schweben
und Fließen der Lichter, Lufttöne, Farbenreflexe, Waſſer, es iſt aber nicht
hoch genug, um in der Bindung zugleich frei zu entlaſſen, wie das organiſche
Leben, das ſeine feſten Formen hat, aber dieſe in ſteter Selbſterzeugung,
ſie immer zerſtörend und wieder ſchaffend, bewegt und ſo in der Begrenzung
Unendlichkeit darſtellt. Der Kryſtall iſt zu viel und zu wenig. Gerade
deßwegen ſchließt er aber das Reich der unorganiſchen Schönheit ab und
weist hinaus in eine höhere, denn er fordert beſtimmt auf, weiter zu gehen,
das geheimnißvoll Bauende, was in ihm, ſeine Züge in die unorganiſche
Maſſe zeichnend und ſie um einen Mittelpunkt ordnend, zu Tage tritt, zu
verfolgen in die bedeutenderen Reiche des Lebens, wo es als Symmetrie im
Baue des Thiers, des Menſchen unter ganz andern Bedingungen wieder-
kehrt; ſeine Geſtalt treibt uns, die Bildungsgeſetze des dunkeln Natur-
grunds da zu ſuchen, wo jene Unterſchiebung, die wir bei ihm nicht mehr
anbringen können, wirklich auch nicht mehr nöthig, wenigſtens in dem Sinne,
wie bei den früher betrachteten Erſcheinungen der unorganiſchen Natur,
nicht mehr nöthig iſt. Darum durfte uns die genannte Umkehrung nicht
beſtimmen, wirklich den umgekehrten Gang zu nehmen. Aber auch das
Mineral im Großen, die Erdbildungen unterliegen der genannten Umkehrung.
Sie erſcheinen zunächſt äſthetiſch belebter als der Kryſtall, dieſer tritt daher
hinter ſie zurück; aber ſie ſammt dem kryſtalliſchen Gebilde treten hinter
das bewegte Spiel des Lichts, der Farbe, Luft, des Waſſers zurück, denn
erſt im Scheine derſelben vergeiſtigen und verklären ſich dem Auge dieſe
feſten Hauptmaſſen einer Landſchaft. — Uebrigens können wir den Kryſtall
nicht ſogleich verlaſſen, es ſind allerdings noch weitere Schönheitsmomente
an ihm hervorzuheben.

§. 268.

Das einzelne Mineral gewinnt daher, während übrigens freilich der
Mangel zureichender Größe immer bleibt, gerade dadurch höhere äſthetiſche
Bedeutung, daß jene an ſich niedrigen Erſcheinungen der unorganiſchen Natur

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[76/0088] äſthetiſch bedeutungsvoller als der naturwiſſenſchaftlich ungleich bedeutendere, weil individuelle Kryſtall. Den Grund dieſer Umkehrung, dieſes Widerſpruchs zwiſchen der Naturwiſſenſchaft und Aeſthetik ſpricht der §. aus und ſtellt nun ausdrücklich feſt, was §. 265 Anm. 2 ſchon erwähnt wurde, daß nämlich hier die Einſchränkung §. 18, 1. ihre Stelle findet, wornach das an ſich in der Natur Höhere äſthetiſch niedrigerer ſein kann, als das in der Natur Niedrigere. Die Kryſtallbildung enthält zu viel, um ihr in unbefangener Täuſchung einen Schein des Lebens, ſelbſt des Seelenlebens beizulegen, ſie enthält zu wenig, um als wirklich belebt erkannt zu werden; ſie bindet den Beſchauenden, weil ſie ſelbſt gebunden iſt; dieß Gebunden- ſein iſt an ſich etwas Höheres, als das ungebundene Irren, Schweben und Fließen der Lichter, Lufttöne, Farbenreflexe, Waſſer, es iſt aber nicht hoch genug, um in der Bindung zugleich frei zu entlaſſen, wie das organiſche Leben, das ſeine feſten Formen hat, aber dieſe in ſteter Selbſterzeugung, ſie immer zerſtörend und wieder ſchaffend, bewegt und ſo in der Begrenzung Unendlichkeit darſtellt. Der Kryſtall iſt zu viel und zu wenig. Gerade deßwegen ſchließt er aber das Reich der unorganiſchen Schönheit ab und weist hinaus in eine höhere, denn er fordert beſtimmt auf, weiter zu gehen, das geheimnißvoll Bauende, was in ihm, ſeine Züge in die unorganiſche Maſſe zeichnend und ſie um einen Mittelpunkt ordnend, zu Tage tritt, zu verfolgen in die bedeutenderen Reiche des Lebens, wo es als Symmetrie im Baue des Thiers, des Menſchen unter ganz andern Bedingungen wieder- kehrt; ſeine Geſtalt treibt uns, die Bildungsgeſetze des dunkeln Natur- grunds da zu ſuchen, wo jene Unterſchiebung, die wir bei ihm nicht mehr anbringen können, wirklich auch nicht mehr nöthig, wenigſtens in dem Sinne, wie bei den früher betrachteten Erſcheinungen der unorganiſchen Natur, nicht mehr nöthig iſt. Darum durfte uns die genannte Umkehrung nicht beſtimmen, wirklich den umgekehrten Gang zu nehmen. Aber auch das Mineral im Großen, die Erdbildungen unterliegen der genannten Umkehrung. Sie erſcheinen zunächſt äſthetiſch belebter als der Kryſtall, dieſer tritt daher hinter ſie zurück; aber ſie ſammt dem kryſtalliſchen Gebilde treten hinter das bewegte Spiel des Lichts, der Farbe, Luft, des Waſſers zurück, denn erſt im Scheine derſelben vergeiſtigen und verklären ſich dem Auge dieſe feſten Hauptmaſſen einer Landſchaft. — Uebrigens können wir den Kryſtall nicht ſogleich verlaſſen, es ſind allerdings noch weitere Schönheitsmomente an ihm hervorzuheben. §. 268. Das einzelne Mineral gewinnt daher, während übrigens freilich der Mangel zureichender Größe immer bleibt, gerade dadurch höhere äſthetiſche Bedeutung, daß jene an ſich niedrigen Erſcheinungen der unorganiſchen Natur

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/88>, abgerufen am 24.11.2024.