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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Feldherr, der Erzieher geboren sein und nicht minder der in's Große
wirkende wissenschaftliche Geist. Ist er geboren, so muß in seinem Thun
etwas Unmittelbares sein; da aber dieses Thun in der Ausführung sich Schritt
für Schritt vermitteln muß, so kann es nur der Entwurf sein, worin das Un-
mittelbare gilt. Hier muß ein Moment sein, wo der Geist in Einem untheilba-
ren Blicke den Stoff zusammengreift und die Reihe der Thätigkeiten, die die-
ser Stoff fordert, in einem Zukunftbilde vor ihm aufblitzt. Im praktischen
Gebiete ist dieß anerkannt; Napoleon und seine Schlachtplane, selbst seine
politischen Entwürfe sind das beste Beispiel; er soll sogar einen wunderbaren
Instinct für eine divinatorische Anschauung unbekannten Terrains gehabt ha-
ben. Hamlet hat das Genie der Handlung nicht, ihm entgeht Alles, was Mo-
ment heißt, daher geht er zu Grunde. In der Wissenschaft muß das Genie als
totaler Zweifel am Gegebenen als Solchem, dann als fliegender Blick, der die
neue Schöpfung des Gedankens vor der Ausführung in schwebenden Umrissen
vorausgreift, dem Beweise vorangehen, die Reihe der Gründe als Ge-
dankenbild wie aus der Ferne herdämmern; wem diese Phantasie des
denkenden Geistes abgeht, der ist und bleibt zum Famulus Wagner be-
stimmt. So auf den Instinct als vorbereitende Macht gestellt sind alle
großen Praktiker und Denker von jeher naiv gewesen und von jeher hat
ein Geist, der über den Beweis hinausgeht, ein Unergründliches, eine
Zukunft zwischen den Linien ihrer Werke gezittert. Aber allerdings nur
vorbereitend, vorausgehend wirkt hier der Instinct; sobald er seinen Wurf
gethan, sobald es an die Ausführung geht, löst sich das Bild der voraus-
fliegenden Ahnung auf, zerlegt sich in die Reihe der Vermittlungen, wo
scheinlos jeder Schritt bewiesen werden muß. Der Instinkt wirkt zwar
als geheimer Faden der Ariadne fort, aber so, daß er jeden Moment sich
wieder aufhebt und, was in seinem Dunkel schlummerte, an das Licht
tritt. Dabei bleibt der wesentliche Unterschied vom ästhetischen Genie der,
daß dieses die Aufgabe hat, bei dem Instincte vielmehr zu bleiben und,
wie es immer zur Besonnenheit fortgeht, diese doch nie in die zerlegende
aufzulösen, und daß daher das erst nur dämmernde Bild immer Bild
bleibt und sich als solches nur immer heller gestaltet, während in jenen
Sphären das zuerst nur dämmernde Bild ganz aufzugeben ist und dem
auseinandersetzenden Thun und Denken Platz macht. Plato und Schelling
zeigen zu viel eigentlich ästhetisches Genie, lösen das erste Bild halb auf
und bleiben halb dabei, lassen es im Glanze der Phantasie und ebenda-
her als störenden Körper zwischen den Beweis schimmern.

2. Sophokles war kein besonderer Feldherr, schlechte Haushälter und
mit wenig Sinn der Zweckmäßigkeit begabt sind fast alle ästhetischen Ge-
nies, Rubens war Diplomat, aber gewiß darin nicht Genie, wie in der
Malerei, sondern nur etwa Talent. Dabei kommt es immer darauf an,

Feldherr, der Erzieher geboren ſein und nicht minder der in’s Große
wirkende wiſſenſchaftliche Geiſt. Iſt er geboren, ſo muß in ſeinem Thun
etwas Unmittelbares ſein; da aber dieſes Thun in der Ausführung ſich Schritt
für Schritt vermitteln muß, ſo kann es nur der Entwurf ſein, worin das Un-
mittelbare gilt. Hier muß ein Moment ſein, wo der Geiſt in Einem untheilba-
ren Blicke den Stoff zuſammengreift und die Reihe der Thätigkeiten, die die-
ſer Stoff fordert, in einem Zukunftbilde vor ihm aufblitzt. Im praktiſchen
Gebiete iſt dieß anerkannt; Napoleon und ſeine Schlachtplane, ſelbſt ſeine
politiſchen Entwürfe ſind das beſte Beiſpiel; er ſoll ſogar einen wunderbaren
Inſtinct für eine divinatoriſche Anſchauung unbekannten Terrains gehabt ha-
ben. Hamlet hat das Genie der Handlung nicht, ihm entgeht Alles, was Mo-
ment heißt, daher geht er zu Grunde. In der Wiſſenſchaft muß das Genie als
totaler Zweifel am Gegebenen als Solchem, dann als fliegender Blick, der die
neue Schöpfung des Gedankens vor der Ausführung in ſchwebenden Umriſſen
vorausgreift, dem Beweiſe vorangehen, die Reihe der Gründe als Ge-
dankenbild wie aus der Ferne herdämmern; wem dieſe Phantaſie des
denkenden Geiſtes abgeht, der iſt und bleibt zum Famulus Wagner be-
ſtimmt. So auf den Inſtinct als vorbereitende Macht geſtellt ſind alle
großen Praktiker und Denker von jeher naiv geweſen und von jeher hat
ein Geiſt, der über den Beweis hinausgeht, ein Unergründliches, eine
Zukunft zwiſchen den Linien ihrer Werke gezittert. Aber allerdings nur
vorbereitend, vorausgehend wirkt hier der Inſtinct; ſobald er ſeinen Wurf
gethan, ſobald es an die Ausführung geht, löst ſich das Bild der voraus-
fliegenden Ahnung auf, zerlegt ſich in die Reihe der Vermittlungen, wo
ſcheinlos jeder Schritt bewieſen werden muß. Der Inſtinkt wirkt zwar
als geheimer Faden der Ariadne fort, aber ſo, daß er jeden Moment ſich
wieder aufhebt und, was in ſeinem Dunkel ſchlummerte, an das Licht
tritt. Dabei bleibt der weſentliche Unterſchied vom äſthetiſchen Genie der,
daß dieſes die Aufgabe hat, bei dem Inſtincte vielmehr zu bleiben und,
wie es immer zur Beſonnenheit fortgeht, dieſe doch nie in die zerlegende
aufzulöſen, und daß daher das erſt nur dämmernde Bild immer Bild
bleibt und ſich als ſolches nur immer heller geſtaltet, während in jenen
Sphären das zuerſt nur dämmernde Bild ganz aufzugeben iſt und dem
auseinanderſetzenden Thun und Denken Platz macht. Plato und Schelling
zeigen zu viel eigentlich äſthetiſches Genie, löſen das erſte Bild halb auf
und bleiben halb dabei, laſſen es im Glanze der Phantaſie und ebenda-
her als ſtörenden Körper zwiſchen den Beweis ſchimmern.

2. Sophokles war kein beſonderer Feldherr, ſchlechte Haushälter und
mit wenig Sinn der Zweckmäßigkeit begabt ſind faſt alle äſthetiſchen Ge-
nies, Rubens war Diplomat, aber gewiß darin nicht Genie, wie in der
Malerei, ſondern nur etwa Talent. Dabei kommt es immer darauf an,

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[401/0115] Feldherr, der Erzieher geboren ſein und nicht minder der in’s Große wirkende wiſſenſchaftliche Geiſt. Iſt er geboren, ſo muß in ſeinem Thun etwas Unmittelbares ſein; da aber dieſes Thun in der Ausführung ſich Schritt für Schritt vermitteln muß, ſo kann es nur der Entwurf ſein, worin das Un- mittelbare gilt. Hier muß ein Moment ſein, wo der Geiſt in Einem untheilba- ren Blicke den Stoff zuſammengreift und die Reihe der Thätigkeiten, die die- ſer Stoff fordert, in einem Zukunftbilde vor ihm aufblitzt. Im praktiſchen Gebiete iſt dieß anerkannt; Napoleon und ſeine Schlachtplane, ſelbſt ſeine politiſchen Entwürfe ſind das beſte Beiſpiel; er ſoll ſogar einen wunderbaren Inſtinct für eine divinatoriſche Anſchauung unbekannten Terrains gehabt ha- ben. Hamlet hat das Genie der Handlung nicht, ihm entgeht Alles, was Mo- ment heißt, daher geht er zu Grunde. In der Wiſſenſchaft muß das Genie als totaler Zweifel am Gegebenen als Solchem, dann als fliegender Blick, der die neue Schöpfung des Gedankens vor der Ausführung in ſchwebenden Umriſſen vorausgreift, dem Beweiſe vorangehen, die Reihe der Gründe als Ge- dankenbild wie aus der Ferne herdämmern; wem dieſe Phantaſie des denkenden Geiſtes abgeht, der iſt und bleibt zum Famulus Wagner be- ſtimmt. So auf den Inſtinct als vorbereitende Macht geſtellt ſind alle großen Praktiker und Denker von jeher naiv geweſen und von jeher hat ein Geiſt, der über den Beweis hinausgeht, ein Unergründliches, eine Zukunft zwiſchen den Linien ihrer Werke gezittert. Aber allerdings nur vorbereitend, vorausgehend wirkt hier der Inſtinct; ſobald er ſeinen Wurf gethan, ſobald es an die Ausführung geht, löst ſich das Bild der voraus- fliegenden Ahnung auf, zerlegt ſich in die Reihe der Vermittlungen, wo ſcheinlos jeder Schritt bewieſen werden muß. Der Inſtinkt wirkt zwar als geheimer Faden der Ariadne fort, aber ſo, daß er jeden Moment ſich wieder aufhebt und, was in ſeinem Dunkel ſchlummerte, an das Licht tritt. Dabei bleibt der weſentliche Unterſchied vom äſthetiſchen Genie der, daß dieſes die Aufgabe hat, bei dem Inſtincte vielmehr zu bleiben und, wie es immer zur Beſonnenheit fortgeht, dieſe doch nie in die zerlegende aufzulöſen, und daß daher das erſt nur dämmernde Bild immer Bild bleibt und ſich als ſolches nur immer heller geſtaltet, während in jenen Sphären das zuerſt nur dämmernde Bild ganz aufzugeben iſt und dem auseinanderſetzenden Thun und Denken Platz macht. Plato und Schelling zeigen zu viel eigentlich äſthetiſches Genie, löſen das erſte Bild halb auf und bleiben halb dabei, laſſen es im Glanze der Phantaſie und ebenda- her als ſtörenden Körper zwiſchen den Beweis ſchimmern. 2. Sophokles war kein beſonderer Feldherr, ſchlechte Haushälter und mit wenig Sinn der Zweckmäßigkeit begabt ſind faſt alle äſthetiſchen Ge- nies, Rubens war Diplomat, aber gewiß darin nicht Genie, wie in der Malerei, ſondern nur etwa Talent. Dabei kommt es immer darauf an,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/115>, abgerufen am 21.11.2024.