Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

Bild:
<< vorherige Seite
B.
Die Geschichte der Phantasie

oder
des Ideals.
§. 416.

Die besondere Phantasie erhebt sich aus dem Boden der allgemeinen (§. 384),
und es fragt sich nun, wie weit diese der besondern Phantasie auch in ihr drittes
Moment (§. 394--399) folge. Ist sie fähig, das Naturschöne zu finden,
nimmt sie am ersten und zweiten Momente der besondern Phantasie (§. 385 ff.
387 ff.) Theil, so kann ihr auch das dritte (§. 392 ff.) nicht völlig verschlossen
sein. Sie erzeugt also allerdings Schönes auch durch eigene Formthätigkeit,
aber diese bleibt ein massenhafter Instinct, der das durch Uebergang von Mund
zu Mund angewachsene Gesammtproduct nicht als freies Erzeugniß von seinem
Gegenstande unterscheidet, sondern stoffartig mit ihm verwechselt.

Seit §. 389 haben wir uns nicht mehr danach umgesehen, ob und
wie weit die allgemeine Phantasie mitgehe. Vom Traume, der damals
zunächst aufgeführt wurde, verstand es sich von selbst. Aber in das dritte
und reinste Moment der besonderen Phantasie, das schien sich ebenfalls
von selbst zu verstehen, konnte sie ihr nicht folgen. Dennoch ist nun, am
Schlusse der Lehre von der Phantasie des Einzelnen, auf dem Uebergang
zur Geschichte der Phantasie diese Frage aufzunehmen und es erhellt so-
gar von selbst, daß, wo überhaupt Phantasie ist, unmöglich eines der
Momente ihr ganz verschlossen sein könne, daß also irgendwie auch der
Phantasie der Massen eine reine schöpferische Thätigkeit zukommen müsse,
aber freilich nur mit gewissen einschränkenden Bedingungen. Vor Allem
nämlich kann hier die schöpferische Formthätigkeit nicht freier Act des Einzel-
nen, sondern nur ein dunklerer Gesammt-Act der unbestimmt Vielen sein,

B.
Die Geſchichte der Phantaſie

oder
des Ideals.
§. 416.

Die beſondere Phantaſie erhebt ſich aus dem Boden der allgemeinen (§. 384),
und es fragt ſich nun, wie weit dieſe der beſondern Phantaſie auch in ihr drittes
Moment (§. 394—399) folge. Iſt ſie fähig, das Naturſchöne zu finden,
nimmt ſie am erſten und zweiten Momente der beſondern Phantaſie (§. 385 ff.
387 ff.) Theil, ſo kann ihr auch das dritte (§. 392 ff.) nicht völlig verſchloſſen
ſein. Sie erzeugt alſo allerdings Schönes auch durch eigene Formthätigkeit,
aber dieſe bleibt ein maſſenhafter Inſtinct, der das durch Uebergang von Mund
zu Mund angewachſene Geſammtproduct nicht als freies Erzeugniß von ſeinem
Gegenſtande unterſcheidet, ſondern ſtoffartig mit ihm verwechſelt.

Seit §. 389 haben wir uns nicht mehr danach umgeſehen, ob und
wie weit die allgemeine Phantaſie mitgehe. Vom Traume, der damals
zunächſt aufgeführt wurde, verſtand es ſich von ſelbſt. Aber in das dritte
und reinſte Moment der beſonderen Phantaſie, das ſchien ſich ebenfalls
von ſelbſt zu verſtehen, konnte ſie ihr nicht folgen. Dennoch iſt nun, am
Schluſſe der Lehre von der Phantaſie des Einzelnen, auf dem Uebergang
zur Geſchichte der Phantaſie dieſe Frage aufzunehmen und es erhellt ſo-
gar von ſelbſt, daß, wo überhaupt Phantaſie iſt, unmöglich eines der
Momente ihr ganz verſchloſſen ſein könne, daß alſo irgendwie auch der
Phantaſie der Maſſen eine reine ſchöpferiſche Thätigkeit zukommen müſſe,
aber freilich nur mit gewiſſen einſchränkenden Bedingungen. Vor Allem
nämlich kann hier die ſchöpferiſche Formthätigkeit nicht freier Act des Einzel-
nen, ſondern nur ein dunklerer Geſammt-Act der unbeſtimmt Vielen ſein,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0117" n="[403]"/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">B.</hi><lb/>
Die Ge&#x017F;chichte der Phanta&#x017F;ie</hi><lb/> <hi rendition="#g">oder</hi><lb/> <hi rendition="#fr">des Ideals.</hi> </head><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 416.</head><lb/>
              <p> <hi rendition="#fr">Die be&#x017F;ondere Phanta&#x017F;ie erhebt &#x017F;ich aus dem Boden der allgemeinen (§. 384),<lb/>
und es fragt &#x017F;ich nun, wie weit die&#x017F;e der be&#x017F;ondern Phanta&#x017F;ie auch in ihr drittes<lb/>
Moment (§. 394&#x2014;399) folge. I&#x017F;t &#x017F;ie fähig, das Natur&#x017F;chöne zu finden,<lb/>
nimmt &#x017F;ie am er&#x017F;ten und zweiten Momente der be&#x017F;ondern Phanta&#x017F;ie (§. 385 ff.<lb/>
387 ff.) Theil, &#x017F;o kann ihr auch das dritte (§. 392 ff.) nicht völlig ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en<lb/>
&#x017F;ein. Sie erzeugt al&#x017F;o allerdings Schönes auch durch eigene Formthätigkeit,<lb/>
aber die&#x017F;e bleibt ein ma&#x017F;&#x017F;enhafter In&#x017F;tinct, der das durch Uebergang von Mund<lb/>
zu Mund angewach&#x017F;ene Ge&#x017F;ammtproduct nicht als freies Erzeugniß von &#x017F;einem<lb/>
Gegen&#x017F;tande unter&#x017F;cheidet, &#x017F;ondern &#x017F;toffartig mit ihm verwech&#x017F;elt.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">Seit §. 389 haben wir uns nicht mehr danach umge&#x017F;ehen, ob und<lb/>
wie weit die allgemeine Phanta&#x017F;ie mitgehe. Vom Traume, der damals<lb/>
zunäch&#x017F;t aufgeführt wurde, ver&#x017F;tand es &#x017F;ich von &#x017F;elb&#x017F;t. Aber in das dritte<lb/>
und rein&#x017F;te Moment der be&#x017F;onderen Phanta&#x017F;ie, das &#x017F;chien &#x017F;ich ebenfalls<lb/>
von &#x017F;elb&#x017F;t zu ver&#x017F;tehen, konnte &#x017F;ie ihr nicht folgen. Dennoch i&#x017F;t nun, am<lb/>
Schlu&#x017F;&#x017F;e der Lehre von der Phanta&#x017F;ie des Einzelnen, auf dem Uebergang<lb/>
zur Ge&#x017F;chichte der Phanta&#x017F;ie die&#x017F;e Frage aufzunehmen und es erhellt &#x017F;o-<lb/>
gar von &#x017F;elb&#x017F;t, daß, wo überhaupt Phanta&#x017F;ie i&#x017F;t, unmöglich eines der<lb/>
Momente ihr ganz ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ein könne, daß al&#x017F;o irgendwie auch der<lb/>
Phanta&#x017F;ie der Ma&#x017F;&#x017F;en eine reine &#x017F;chöpferi&#x017F;che Thätigkeit zukommen mü&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
aber freilich nur mit gewi&#x017F;&#x017F;en ein&#x017F;chränkenden Bedingungen. Vor Allem<lb/>
nämlich kann hier die &#x017F;chöpferi&#x017F;che Formthätigkeit nicht freier Act des Einzel-<lb/>
nen, &#x017F;ondern nur ein dunklerer Ge&#x017F;ammt-Act der unbe&#x017F;timmt Vielen &#x017F;ein,<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[403]/0117] B. Die Geſchichte der Phantaſie oder des Ideals. §. 416. Die beſondere Phantaſie erhebt ſich aus dem Boden der allgemeinen (§. 384), und es fragt ſich nun, wie weit dieſe der beſondern Phantaſie auch in ihr drittes Moment (§. 394—399) folge. Iſt ſie fähig, das Naturſchöne zu finden, nimmt ſie am erſten und zweiten Momente der beſondern Phantaſie (§. 385 ff. 387 ff.) Theil, ſo kann ihr auch das dritte (§. 392 ff.) nicht völlig verſchloſſen ſein. Sie erzeugt alſo allerdings Schönes auch durch eigene Formthätigkeit, aber dieſe bleibt ein maſſenhafter Inſtinct, der das durch Uebergang von Mund zu Mund angewachſene Geſammtproduct nicht als freies Erzeugniß von ſeinem Gegenſtande unterſcheidet, ſondern ſtoffartig mit ihm verwechſelt. Seit §. 389 haben wir uns nicht mehr danach umgeſehen, ob und wie weit die allgemeine Phantaſie mitgehe. Vom Traume, der damals zunächſt aufgeführt wurde, verſtand es ſich von ſelbſt. Aber in das dritte und reinſte Moment der beſonderen Phantaſie, das ſchien ſich ebenfalls von ſelbſt zu verſtehen, konnte ſie ihr nicht folgen. Dennoch iſt nun, am Schluſſe der Lehre von der Phantaſie des Einzelnen, auf dem Uebergang zur Geſchichte der Phantaſie dieſe Frage aufzunehmen und es erhellt ſo- gar von ſelbſt, daß, wo überhaupt Phantaſie iſt, unmöglich eines der Momente ihr ganz verſchloſſen ſein könne, daß alſo irgendwie auch der Phantaſie der Maſſen eine reine ſchöpferiſche Thätigkeit zukommen müſſe, aber freilich nur mit gewiſſen einſchränkenden Bedingungen. Vor Allem nämlich kann hier die ſchöpferiſche Formthätigkeit nicht freier Act des Einzel- nen, ſondern nur ein dunklerer Geſammt-Act der unbeſtimmt Vielen ſein,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/117
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. [403]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/117>, abgerufen am 24.11.2024.