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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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zu den Aegyptiern wie die Perser zu den Indiern: sie sind ästhetischer
Stoff und machen selbst dessen wenig. Wodurch sie nun zu den Aegyp-
tiern hinüberführen, dieß ist die Idee eines sterbenden und wieder auf-
lebenden Gottes, in welchem zunächst der Wechsel der Sonne, der Natur
überhaupt, dann aber auch gewiß eine Ahnung des durch die Negation
des Sinnlichen zu seiner Freiheit sich bewegenden Menschengeistes (vergl.
Stuhr, die Religionssysteme der heidn. Völker des Orients S. 444) aus-
gesprochen wurde: es war Adonis oder Tammuz, um den alljährlich die
wilde Klage, dann der helle Jubel erscholl. Noch bestimmter erkennt
man diese Sage in Melkarth, dem phönizischen Herkules und seinem
Flammentode. Spricht sich so auf der Grundlage der Natursymbolik das
erwachte Freiheitsgefühl dieser praktischen und rührigen Stämme aus, so
warf sich der gegensätzliche orientalische Geist in ihnen auch mit dem gan-
zen verbissenen Eigensinn semitischen Naturells in den Taumel des Na-
turlebens, wie um sich das ganze Bewußtsein der Knechtschaft in seinen
Banden und daher den ganzen Schmerz darüber in den Untiefen der
gründlichsten Wollust zu geben (vergl. E. Meier a. a. O. S. 101). Hier
war jener zuchtlose Lingamdienst, jene Preisgebung der Weiber zu Ehren
der Astarot, Mylitta, hier Sodomiterei und alle Greuel des Heidenthums.
Eine solche Stimmung mußte sich in der bildenden Phantasie die häß-
lichste Gestalt geben. In der eigentlich messenden Thätigkeit konnte sie
erhaben und prachtvoll sein wie bei allen Morgenländern; dagegen konnte
sie in ihrem Uebertritt auf organische Schönheit nur Fratzen erzeugen.
Seltsam zusammengesetzte Wunderthiere, Baal oder Moloch mit Kalbskopf
und glühendem Rachen, der Fischmensch Dagon, die Zwerggestalten der
Pätaken oder Kabiren, meist ithyphallisch wie wohl überhaupt gewöhnlich die
Götterbilder dieses Cultus, geben Zeugniß davon. Es tritt übrigens in
den Assyrern ein Volk auf, das, wiewohl stark mit Semiten versetzt, doch
indogermanischer Abkunft war wie die Perser. Dieses Volk entfaltete
für die ursprüngliche Stoffwelt dieselbe gesunde Phantasie wie die letz-
tern; daß sie hier eine den persischen Darstellungen verwandte Würde,
einen Anklang reinerer Schönheit erreichte, das zeigen die großen neuen
Entdeckungen in den Trümmern von Ninive.

2. Die ägyptische Phantasie ist die versteinerte Traumwelt Indiens,
ein Haus voll schlafender, auf den weckenden Königssohn wartender Ge-
stalten wie im Mährchen vom Dornsröschen. Die Schilderung des ägyp-
tischen Charakters, wie er durch die Natur des Landes bedingt ist (§. 347),
macht begreiflich, da sich eine sinnende Gemessenheit auch in die Phan-
tasie fortsetzen und zwar die Erzeugung unendlicher Symbole und Halb-
mythen keineswegs verhindern, wohl aber Ruhe, Sistirung des wirren
Gestaltenwechsels und größere Tiefe in sie einführen mußte. Fangen wir

zu den Aegyptiern wie die Perſer zu den Indiern: ſie ſind äſthetiſcher
Stoff und machen ſelbſt deſſen wenig. Wodurch ſie nun zu den Aegyp-
tiern hinüberführen, dieß iſt die Idee eines ſterbenden und wieder auf-
lebenden Gottes, in welchem zunächſt der Wechſel der Sonne, der Natur
überhaupt, dann aber auch gewiß eine Ahnung des durch die Negation
des Sinnlichen zu ſeiner Freiheit ſich bewegenden Menſchengeiſtes (vergl.
Stuhr, die Religionsſyſteme der heidn. Völker des Orients S. 444) aus-
geſprochen wurde: es war Adonis oder Tammuz, um den alljährlich die
wilde Klage, dann der helle Jubel erſcholl. Noch beſtimmter erkennt
man dieſe Sage in Melkarth, dem phöniziſchen Herkules und ſeinem
Flammentode. Spricht ſich ſo auf der Grundlage der Naturſymbolik das
erwachte Freiheitsgefühl dieſer praktiſchen und rührigen Stämme aus, ſo
warf ſich der gegenſätzliche orientaliſche Geiſt in ihnen auch mit dem gan-
zen verbiſſenen Eigenſinn ſemitiſchen Naturells in den Taumel des Na-
turlebens, wie um ſich das ganze Bewußtſein der Knechtſchaft in ſeinen
Banden und daher den ganzen Schmerz darüber in den Untiefen der
gründlichſten Wolluſt zu geben (vergl. E. Meier a. a. O. S. 101). Hier
war jener zuchtloſe Lingamdienſt, jene Preisgebung der Weiber zu Ehren
der Aſtarot, Mylitta, hier Sodomiterei und alle Greuel des Heidenthums.
Eine ſolche Stimmung mußte ſich in der bildenden Phantaſie die häß-
lichſte Geſtalt geben. In der eigentlich meſſenden Thätigkeit konnte ſie
erhaben und prachtvoll ſein wie bei allen Morgenländern; dagegen konnte
ſie in ihrem Uebertritt auf organiſche Schönheit nur Fratzen erzeugen.
Seltſam zuſammengeſetzte Wunderthiere, Baal oder Moloch mit Kalbskopf
und glühendem Rachen, der Fiſchmenſch Dagon, die Zwerggeſtalten der
Pätaken oder Kabiren, meiſt ithyphalliſch wie wohl überhaupt gewöhnlich die
Götterbilder dieſes Cultus, geben Zeugniß davon. Es tritt übrigens in
den Aſſyrern ein Volk auf, das, wiewohl ſtark mit Semiten verſetzt, doch
indogermaniſcher Abkunft war wie die Perſer. Dieſes Volk entfaltete
für die urſprüngliche Stoffwelt dieſelbe geſunde Phantaſie wie die letz-
tern; daß ſie hier eine den perſiſchen Darſtellungen verwandte Würde,
einen Anklang reinerer Schönheit erreichte, das zeigen die großen neuen
Entdeckungen in den Trümmern von Ninive.

2. Die ägyptiſche Phantaſie iſt die verſteinerte Traumwelt Indiens,
ein Haus voll ſchlafender, auf den weckenden Königsſohn wartender Ge-
ſtalten wie im Mährchen vom Dornsröschen. Die Schilderung des ägyp-
tiſchen Charakters, wie er durch die Natur des Landes bedingt iſt (§. 347),
macht begreiflich, da ſich eine ſinnende Gemeſſenheit auch in die Phan-
taſie fortſetzen und zwar die Erzeugung unendlicher Symbole und Halb-
mythen keineswegs verhindern, wohl aber Ruhe, Siſtirung des wirren
Geſtaltenwechſels und größere Tiefe in ſie einführen mußte. Fangen wir

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[437/0151] zu den Aegyptiern wie die Perſer zu den Indiern: ſie ſind äſthetiſcher Stoff und machen ſelbſt deſſen wenig. Wodurch ſie nun zu den Aegyp- tiern hinüberführen, dieß iſt die Idee eines ſterbenden und wieder auf- lebenden Gottes, in welchem zunächſt der Wechſel der Sonne, der Natur überhaupt, dann aber auch gewiß eine Ahnung des durch die Negation des Sinnlichen zu ſeiner Freiheit ſich bewegenden Menſchengeiſtes (vergl. Stuhr, die Religionsſyſteme der heidn. Völker des Orients S. 444) aus- geſprochen wurde: es war Adonis oder Tammuz, um den alljährlich die wilde Klage, dann der helle Jubel erſcholl. Noch beſtimmter erkennt man dieſe Sage in Melkarth, dem phöniziſchen Herkules und ſeinem Flammentode. Spricht ſich ſo auf der Grundlage der Naturſymbolik das erwachte Freiheitsgefühl dieſer praktiſchen und rührigen Stämme aus, ſo warf ſich der gegenſätzliche orientaliſche Geiſt in ihnen auch mit dem gan- zen verbiſſenen Eigenſinn ſemitiſchen Naturells in den Taumel des Na- turlebens, wie um ſich das ganze Bewußtſein der Knechtſchaft in ſeinen Banden und daher den ganzen Schmerz darüber in den Untiefen der gründlichſten Wolluſt zu geben (vergl. E. Meier a. a. O. S. 101). Hier war jener zuchtloſe Lingamdienſt, jene Preisgebung der Weiber zu Ehren der Aſtarot, Mylitta, hier Sodomiterei und alle Greuel des Heidenthums. Eine ſolche Stimmung mußte ſich in der bildenden Phantaſie die häß- lichſte Geſtalt geben. In der eigentlich meſſenden Thätigkeit konnte ſie erhaben und prachtvoll ſein wie bei allen Morgenländern; dagegen konnte ſie in ihrem Uebertritt auf organiſche Schönheit nur Fratzen erzeugen. Seltſam zuſammengeſetzte Wunderthiere, Baal oder Moloch mit Kalbskopf und glühendem Rachen, der Fiſchmenſch Dagon, die Zwerggeſtalten der Pätaken oder Kabiren, meiſt ithyphalliſch wie wohl überhaupt gewöhnlich die Götterbilder dieſes Cultus, geben Zeugniß davon. Es tritt übrigens in den Aſſyrern ein Volk auf, das, wiewohl ſtark mit Semiten verſetzt, doch indogermaniſcher Abkunft war wie die Perſer. Dieſes Volk entfaltete für die urſprüngliche Stoffwelt dieſelbe geſunde Phantaſie wie die letz- tern; daß ſie hier eine den perſiſchen Darſtellungen verwandte Würde, einen Anklang reinerer Schönheit erreichte, das zeigen die großen neuen Entdeckungen in den Trümmern von Ninive. 2. Die ägyptiſche Phantaſie iſt die verſteinerte Traumwelt Indiens, ein Haus voll ſchlafender, auf den weckenden Königsſohn wartender Ge- ſtalten wie im Mährchen vom Dornsröschen. Die Schilderung des ägyp- tiſchen Charakters, wie er durch die Natur des Landes bedingt iſt (§. 347), macht begreiflich, da ſich eine ſinnende Gemeſſenheit auch in die Phan- taſie fortſetzen und zwar die Erzeugung unendlicher Symbole und Halb- mythen keineswegs verhindern, wohl aber Ruhe, Siſtirung des wirren Geſtaltenwechſels und größere Tiefe in ſie einführen mußte. Fangen wir

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/151>, abgerufen am 21.11.2024.