Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
Flüchtigkeit fassen. Bald ist die Persönlichkeit vom vollen Bewußtsein
Flüchtigkeit faſſen. Bald iſt die Perſönlichkeit vom vollen Bewußtſein <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0017" n="303"/> Flüchtigkeit faſſen. Bald iſt die Perſönlichkeit vom vollen Bewußtſein<lb/> ihres ſittlichen Zweckes erfüllt, erſcheint ganz als ſie ſelbſt und iſt ſchön<lb/> im tiefſten Sinne des Worts; bald aber treibt ſie etwas, was nur mittel-<lb/> bar zum Zwecke gehört und wobei ihr Ausdruck nicht ihren wahren Ge-<lb/> halt zeigt, bald gar etwas, was ihr nur die Noth des Lebens aufzwängt,<lb/> wobei unter Gleichgültigkeit und Verdrießlichkeit aller höhere Ausdruck<lb/> verſchüttet liegt. So iſt es aber in allen Bewegungen, Thätigkeiten,<lb/> mögen ſie dem ſittlichen Gebiete angehören oder nicht. Jetzt lebt Alles<lb/> an dieſem Pferde, die Ohren ſind geſpitzt, der Hals richtet ſich auf und<lb/> biegt ſich ſchlank, wie belebter Stahl, die Nüſter ſchnauben, die Augen<lb/> ſprühen Feuer, die Füße tanzen, der Schweif wallt hoch getragen; im<lb/> nächſten Augenblick läßt es Alles hängen. Dieſe Gruppe kämpfender<lb/> Krieger bewegt und baut ſich, als wäre ſie vom flammenden Kriegsgott<lb/> befeuert, aber im nächſten Augenblicke iſt ſie zerſtoben oder werden die<lb/> Bewegungen unſchön, rafft fernes Geſchoß den Muthigſten weg. Dieſe<lb/> Krieger ſind ja kein <hi rendition="#aq">tableau vivant</hi>; ſie ſtehen nicht unſerem Auge Modell,<lb/> was ſie wollen, iſt der Kampf, nicht ſeine Erſcheinung. So ſehr iſt das<lb/> Nichtgewolltſein Weſen des Naturſchönen, daß nichts widerlicher iſt, als<lb/> wenn in ſeiner Sphäre eine Abſicht auf das Schöne als ſolches ſichtbar iſt.<lb/> Schönheit, die von ſich weiß und auf die es angelegt, die vor dem Spiegel<lb/> einſtudirt iſt, iſt eitel, d. h. nichtig. Die Affectation der Schönheit im<lb/> Sein iſt das Gegentheil der wahren Grazie und es wird ſich zeigen, daß<lb/> in der Kunſt, welche umgekehrt das Schöne mit Abſicht hervorbringt, dieſe<lb/> Unabſichtlichkeit dennoch in doppeltem Sinne ſich fortbehaupten muß: als<lb/> Ausdruck der Unabſichtlichkeit eben im dargeſtellten Gegenſtande, denn dieſer<lb/> verliert alle wahre Wirkung, wenn man ihm anſieht, daß er auch vor<lb/> und außer dieſem Verhältniß zum Zuſchauer es auf dieſe Wirkung berech-<lb/> net habe und um ſich wiſſe; ferner als Unabſichtlichkeit in der Abſicht<lb/> des Künſtlers ſelbſt, als Einheit des bewußtlos nothwendigen und des<lb/> bewußten freien Thuns. Die Zufälligkeit, das Nichtwiſſen um ſich iſt<lb/> ſo ſehr zwar der Todeskeim, aber auch der Reiz des Naturſchönen, daß<lb/> in der Sphäre, wo Bewußtſein iſt, das Schöne in dem Momente zu<lb/> Grund geht, wo es geſehen wird, wo man ihm ſagt, daß es ſchön ſei,<lb/> wo es ſich im Spiegel ſieht. Sobald die Naturvölker von der modernen<lb/> Civiliſation entdeckt werden, iſt es aus mit ihrer Naivetät; ihre Volks-<lb/> lieder verſchwinden, wenn man ſie ſammelt, ihre Tracht kommt ihnen weit<lb/> nicht ſo ſchön vor, wie der kokette Frack des Malers, der ſie um jene<lb/> beneidet und gekommen iſt, ſie zu ſtudiren; nimmt die Civiliſation ſie<lb/> auf und ſucht ſie zu befeſtigen, z. B. als Uniform, wie die ungariſche,<lb/> bergſchottiſche Tracht, ſo nützt das nichts, ſie iſt bereits Maſke geworden<lb/> und das Volk ſelbſt gibt ſie auf; die treuherzige Sitte, das Du in der<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [303/0017]
Flüchtigkeit faſſen. Bald iſt die Perſönlichkeit vom vollen Bewußtſein
ihres ſittlichen Zweckes erfüllt, erſcheint ganz als ſie ſelbſt und iſt ſchön
im tiefſten Sinne des Worts; bald aber treibt ſie etwas, was nur mittel-
bar zum Zwecke gehört und wobei ihr Ausdruck nicht ihren wahren Ge-
halt zeigt, bald gar etwas, was ihr nur die Noth des Lebens aufzwängt,
wobei unter Gleichgültigkeit und Verdrießlichkeit aller höhere Ausdruck
verſchüttet liegt. So iſt es aber in allen Bewegungen, Thätigkeiten,
mögen ſie dem ſittlichen Gebiete angehören oder nicht. Jetzt lebt Alles
an dieſem Pferde, die Ohren ſind geſpitzt, der Hals richtet ſich auf und
biegt ſich ſchlank, wie belebter Stahl, die Nüſter ſchnauben, die Augen
ſprühen Feuer, die Füße tanzen, der Schweif wallt hoch getragen; im
nächſten Augenblick läßt es Alles hängen. Dieſe Gruppe kämpfender
Krieger bewegt und baut ſich, als wäre ſie vom flammenden Kriegsgott
befeuert, aber im nächſten Augenblicke iſt ſie zerſtoben oder werden die
Bewegungen unſchön, rafft fernes Geſchoß den Muthigſten weg. Dieſe
Krieger ſind ja kein tableau vivant; ſie ſtehen nicht unſerem Auge Modell,
was ſie wollen, iſt der Kampf, nicht ſeine Erſcheinung. So ſehr iſt das
Nichtgewolltſein Weſen des Naturſchönen, daß nichts widerlicher iſt, als
wenn in ſeiner Sphäre eine Abſicht auf das Schöne als ſolches ſichtbar iſt.
Schönheit, die von ſich weiß und auf die es angelegt, die vor dem Spiegel
einſtudirt iſt, iſt eitel, d. h. nichtig. Die Affectation der Schönheit im
Sein iſt das Gegentheil der wahren Grazie und es wird ſich zeigen, daß
in der Kunſt, welche umgekehrt das Schöne mit Abſicht hervorbringt, dieſe
Unabſichtlichkeit dennoch in doppeltem Sinne ſich fortbehaupten muß: als
Ausdruck der Unabſichtlichkeit eben im dargeſtellten Gegenſtande, denn dieſer
verliert alle wahre Wirkung, wenn man ihm anſieht, daß er auch vor
und außer dieſem Verhältniß zum Zuſchauer es auf dieſe Wirkung berech-
net habe und um ſich wiſſe; ferner als Unabſichtlichkeit in der Abſicht
des Künſtlers ſelbſt, als Einheit des bewußtlos nothwendigen und des
bewußten freien Thuns. Die Zufälligkeit, das Nichtwiſſen um ſich iſt
ſo ſehr zwar der Todeskeim, aber auch der Reiz des Naturſchönen, daß
in der Sphäre, wo Bewußtſein iſt, das Schöne in dem Momente zu
Grund geht, wo es geſehen wird, wo man ihm ſagt, daß es ſchön ſei,
wo es ſich im Spiegel ſieht. Sobald die Naturvölker von der modernen
Civiliſation entdeckt werden, iſt es aus mit ihrer Naivetät; ihre Volks-
lieder verſchwinden, wenn man ſie ſammelt, ihre Tracht kommt ihnen weit
nicht ſo ſchön vor, wie der kokette Frack des Malers, der ſie um jene
beneidet und gekommen iſt, ſie zu ſtudiren; nimmt die Civiliſation ſie
auf und ſucht ſie zu befeſtigen, z. B. als Uniform, wie die ungariſche,
bergſchottiſche Tracht, ſo nützt das nichts, ſie iſt bereits Maſke geworden
und das Volk ſelbſt gibt ſie auf; die treuherzige Sitte, das Du in der
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |