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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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in wortlos harter Festigkeit auf sich zu nehmen. Fortrückend nimmt die
Sage Personen und Verhältnisse der Völkerwanderung, Christliches, spä-
tere Stoffe, Stimmungen, Formen der Ritterzeit in sich auf, aber der
heidnische Kern ist unverwüstlich, ja indem das Einwirken von Göttern
und Naturgeistern mehr und mehr an den Saum gedrängt, das Christ-
liche aber nur als Ritus eingewoben wird, wachsen die Charaktere noch
an Selbständigkeit, an schroffer Größe und Strammheit und doch zugleich
durch einen Zug herzlicher Innigkeit, der wie eine Blume am rauhen
Felsen blüht, an Milde und Süßigkeit. Dieser Zug ist vorzüglich der
Gudrun-Sage eigen.

Dagegen nimmt nun die fränkische Carls-Sage schon frühe jenen
Weihrauchgeruch an, der ein Zeichen von Verschmelzung des Christlichen,
also Universellen, und, da doch die Grundlage noch rauh, groß und
reckenmäßig bleibt, des Germanischen ist. Dieses Amalgam ist zugleich
ein Zusammenfluß von deutschen und romanischen Beiträgen, diese Sage
wandert durch die Phantasie aller europäischen Völker, ergreift auch die
Geschichte der Ahnen Karls des Großen und verarbeitet sie zu einem
fruchtbaren Kreise von einzelnen Zweig-Sagen. Am reinsten deutsch bleibt
der Zweig von den Haimonskindern, in welchem (wie vorzüglich auch in
der lombardischen Sage von Rother, von Otnit, Hugdieterich und Wolf-
dieterich) die Feudal-Kämpfe mehr, als dieß sonst mit der ursprünglichen
Stoffwelt der Fall ist, eine Rolle spielen. Wie aber Karl mit seinen
Recken schon ein Glaubensheld wird, so werden andere Zweige (Flos
und Blankflos, Octavian, Genovefa u. s. w.) vom ritterlich erotischen
Geiste in Besitz genommen. Vom Romanischen, das hier besonders ein-
wirkt, kommt aber der Ausdruck romantisch.

§. 460.

Während diese Sagen orientalischer und germanischer Abkunft die dich-1
tende Phantasie, welche mehr erst auf dem Standpunkte der bildenden, als der,
diesem Ideal gemäßen, empfindenden Auffassung steht, beschäftigen, dringt von
der andern Seite allmählich auch die antike Heldensage mit ein. Mehr aber
noch, als durch diese Hinterlassenschaft auf die dichtende, wirkt das objective Ideal
auf die eigentlich bildende Phantasie und beherrscht sie durch seine gesunkenen For-
men, welche zunächst vollends zu leblosen Typen verhärten und langsam sich am neuen
Geiste wieder erwärmen. Zugleich hilft sich die noch arme Phantasie mit Bildern,2
die zwischen dem Symbol und der Allegorie, welche, zunächst überall ein Zei-
chen des Verfalls, in die Anfänge eines neuen Ideals als Zeichen der Unreife
herübergenommen wird, geheimnißvoll schweben.

1. Seine Bestimmung, Alles im Geiste der empfindenden Phantasie
zu behandeln, kann das Mittelalter anfänglich noch nicht erfüllen. Die

Vischer's Aesthetik. 2. Bd. 32

in wortlos harter Feſtigkeit auf ſich zu nehmen. Fortrückend nimmt die
Sage Perſonen und Verhältniſſe der Völkerwanderung, Chriſtliches, ſpä-
tere Stoffe, Stimmungen, Formen der Ritterzeit in ſich auf, aber der
heidniſche Kern iſt unverwüſtlich, ja indem das Einwirken von Göttern
und Naturgeiſtern mehr und mehr an den Saum gedrängt, das Chriſt-
liche aber nur als Ritus eingewoben wird, wachſen die Charaktere noch
an Selbſtändigkeit, an ſchroffer Größe und Strammheit und doch zugleich
durch einen Zug herzlicher Innigkeit, der wie eine Blume am rauhen
Felſen blüht, an Milde und Süßigkeit. Dieſer Zug iſt vorzüglich der
Gudrun-Sage eigen.

Dagegen nimmt nun die fränkiſche Carls-Sage ſchon frühe jenen
Weihrauchgeruch an, der ein Zeichen von Verſchmelzung des Chriſtlichen,
alſo Univerſellen, und, da doch die Grundlage noch rauh, groß und
reckenmäßig bleibt, des Germaniſchen iſt. Dieſes Amalgam iſt zugleich
ein Zuſammenfluß von deutſchen und romaniſchen Beiträgen, dieſe Sage
wandert durch die Phantaſie aller europäiſchen Völker, ergreift auch die
Geſchichte der Ahnen Karls des Großen und verarbeitet ſie zu einem
fruchtbaren Kreiſe von einzelnen Zweig-Sagen. Am reinſten deutſch bleibt
der Zweig von den Haimonskindern, in welchem (wie vorzüglich auch in
der lombardiſchen Sage von Rother, von Otnit, Hugdieterich und Wolf-
dieterich) die Feudal-Kämpfe mehr, als dieß ſonſt mit der urſprünglichen
Stoffwelt der Fall iſt, eine Rolle ſpielen. Wie aber Karl mit ſeinen
Recken ſchon ein Glaubensheld wird, ſo werden andere Zweige (Flos
und Blankflos, Octavian, Genovefa u. ſ. w.) vom ritterlich erotiſchen
Geiſte in Beſitz genommen. Vom Romaniſchen, das hier beſonders ein-
wirkt, kommt aber der Ausdruck romantiſch.

§. 460.

Während dieſe Sagen orientaliſcher und germaniſcher Abkunft die dich-1
tende Phantaſie, welche mehr erſt auf dem Standpunkte der bildenden, als der,
dieſem Ideal gemäßen, empfindenden Auffaſſung ſteht, beſchäftigen, dringt von
der andern Seite allmählich auch die antike Heldenſage mit ein. Mehr aber
noch, als durch dieſe Hinterlaſſenſchaft auf die dichtende, wirkt das objective Ideal
auf die eigentlich bildende Phantaſie und beherrſcht ſie durch ſeine geſunkenen For-
men, welche zunächſt vollends zu lebloſen Typen verhärten und langſam ſich am neuen
Geiſte wieder erwärmen. Zugleich hilft ſich die noch arme Phantaſie mit Bildern,2
die zwiſchen dem Symbol und der Allegorie, welche, zunächſt überall ein Zei-
chen des Verfalls, in die Anfänge eines neuen Ideals als Zeichen der Unreife
herübergenommen wird, geheimnißvoll ſchweben.

1. Seine Beſtimmung, Alles im Geiſte der empfindenden Phantaſie
zu behandeln, kann das Mittelalter anfänglich noch nicht erfüllen. Die

Viſcher’s Aeſthetik. 2. Bd. 32
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[491/0205] in wortlos harter Feſtigkeit auf ſich zu nehmen. Fortrückend nimmt die Sage Perſonen und Verhältniſſe der Völkerwanderung, Chriſtliches, ſpä- tere Stoffe, Stimmungen, Formen der Ritterzeit in ſich auf, aber der heidniſche Kern iſt unverwüſtlich, ja indem das Einwirken von Göttern und Naturgeiſtern mehr und mehr an den Saum gedrängt, das Chriſt- liche aber nur als Ritus eingewoben wird, wachſen die Charaktere noch an Selbſtändigkeit, an ſchroffer Größe und Strammheit und doch zugleich durch einen Zug herzlicher Innigkeit, der wie eine Blume am rauhen Felſen blüht, an Milde und Süßigkeit. Dieſer Zug iſt vorzüglich der Gudrun-Sage eigen. Dagegen nimmt nun die fränkiſche Carls-Sage ſchon frühe jenen Weihrauchgeruch an, der ein Zeichen von Verſchmelzung des Chriſtlichen, alſo Univerſellen, und, da doch die Grundlage noch rauh, groß und reckenmäßig bleibt, des Germaniſchen iſt. Dieſes Amalgam iſt zugleich ein Zuſammenfluß von deutſchen und romaniſchen Beiträgen, dieſe Sage wandert durch die Phantaſie aller europäiſchen Völker, ergreift auch die Geſchichte der Ahnen Karls des Großen und verarbeitet ſie zu einem fruchtbaren Kreiſe von einzelnen Zweig-Sagen. Am reinſten deutſch bleibt der Zweig von den Haimonskindern, in welchem (wie vorzüglich auch in der lombardiſchen Sage von Rother, von Otnit, Hugdieterich und Wolf- dieterich) die Feudal-Kämpfe mehr, als dieß ſonſt mit der urſprünglichen Stoffwelt der Fall iſt, eine Rolle ſpielen. Wie aber Karl mit ſeinen Recken ſchon ein Glaubensheld wird, ſo werden andere Zweige (Flos und Blankflos, Octavian, Genovefa u. ſ. w.) vom ritterlich erotiſchen Geiſte in Beſitz genommen. Vom Romaniſchen, das hier beſonders ein- wirkt, kommt aber der Ausdruck romantiſch. §. 460. Während dieſe Sagen orientaliſcher und germaniſcher Abkunft die dich- tende Phantaſie, welche mehr erſt auf dem Standpunkte der bildenden, als der, dieſem Ideal gemäßen, empfindenden Auffaſſung ſteht, beſchäftigen, dringt von der andern Seite allmählich auch die antike Heldenſage mit ein. Mehr aber noch, als durch dieſe Hinterlaſſenſchaft auf die dichtende, wirkt das objective Ideal auf die eigentlich bildende Phantaſie und beherrſcht ſie durch ſeine geſunkenen For- men, welche zunächſt vollends zu lebloſen Typen verhärten und langſam ſich am neuen Geiſte wieder erwärmen. Zugleich hilft ſich die noch arme Phantaſie mit Bildern, die zwiſchen dem Symbol und der Allegorie, welche, zunächſt überall ein Zei- chen des Verfalls, in die Anfänge eines neuen Ideals als Zeichen der Unreife herübergenommen wird, geheimnißvoll ſchweben. 1. Seine Beſtimmung, Alles im Geiſte der empfindenden Phantaſie zu behandeln, kann das Mittelalter anfänglich noch nicht erfüllen. Die Viſcher’s Aeſthetik. 2. Bd. 32

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 491. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/205>, abgerufen am 23.11.2024.