Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
tasie in Thätigkeit gesetzt wird: alle diese Erscheinungen vollenden und zerstören Im fünfzehnten Jahrhundert nimmt die Landschaft immer ausge-
taſie in Thätigkeit geſetzt wird: alle dieſe Erſcheinungen vollenden und zerſtören Im fünfzehnten Jahrhundert nimmt die Landſchaft immer ausge- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#fr"><pb facs="#f0212" n="498"/> taſie in Thätigkeit geſetzt wird: alle dieſe Erſcheinungen vollenden und zerſtören<lb/> zugleich das Ideal des Mittelalters (vergl. §. 63).</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Im fünfzehnten Jahrhundert nimmt die Landſchaft immer ausge-<lb/> dehnteren Raum in mythiſchen Darſtellungen ein, zum Beweiſe, daß der<lb/> mythiſche Auszug aus der Natur allmählich einer directen Uebertragung<lb/> des geiſtigen Gehalts, der Seelenſtimmungen auf die weite Welt weichen<lb/> muß; die Thierwelt regt ſich, doch reicht es noch nicht zu ſelbſtändigen<lb/> Darſtellungen, ſie bleibt Staffage; das Porträt, die unbefangenen menſch-<lb/> lichen Thätigkeiten im Gebiete des Zweckmäßigen, aber auch der hiſtoriſche<lb/> Menſch in ſeiner markigen Objectivität, die großen Herrſcher, Krieger,<lb/> Staatsmänner, Gelehrten rücken in das Ideal herein, freilich in dem<lb/> unorganiſchen Verhältniſſe, daß ſie als unbeſchäftigte Zuſchauer um einen<lb/> mythiſchen Vorgang verſammelt werden, daß ganz empiriſch geſchichtliche<lb/> Stoffe in die Ritterſagen eindringen, oder daß man die Welt im Himmel<lb/> oder in der Hölle ſuchen muß, wie ſchon bei Dante, deſſen größte Stellen<lb/> die großen Scenen aus den Kämpfen des Städtelebens im Mittelalter<lb/> ſind. Noch Raphael wagt keinen geſchichtlichen Stoff ohne Wunder<lb/> darzuſtellen, wie die Stanzen zeigen. Zugleich fängt die Aſceſe, ihr Aus-<lb/> druck, ihre Motive im weiteſten Sinn zu ſchwinden an; man wagt es,<lb/> den ſchönen Genuß in freier Grazie darzuſtellen, unbefangen und heiter,<lb/> ja ſubjectiv wärmer, als die Alten. Selbſt das Nackte wird wieder ſtu-<lb/> dirt und anfangs ſchüchtern, in Deutſchland immer ſteif, aber vorurtheils-<lb/> los aufgenommen. Dieſe Einführung der urſprünglichen Stoffwelt iſt nun<lb/> zugleich nothwendig Ueberwindung des Typus in der Form. Da übrigens nicht<lb/> alle Härte der Form nur durch die Macht des Typus feſtgehalten, ſondern ein<lb/> guter Theil derſelben durch den germaniſchen Volksgeiſt bedingt iſt, ſo geſchieht<lb/> in der deutſchen Phantaſie die Befreiung bei fortdauernd überall eckiger Form<lb/> auf dem Wege, daß die Individualität mit einer Beſtimmtheit und Energie ein-<lb/> geführt wird, welche ſich als Charakter auf die eigenen Füße ſtellt, ſo daß der<lb/> ganze Ausdruck, ſelbſt ohne Abſicht, ſagt, daß dieſe markigen Menſchen den<lb/> Schwerpunkt nicht mehr außer ſich als mythiſches Spiegelbild, ſondern<lb/> in ſich ſelbſt tragen, daß ferner hier namentlich die Landſchaft und die<lb/> gemüthlichen Sphären des profanen Menſchen (das Genreartige) in wach-<lb/> ſender Ausdehnung eingeführt werden. Man erkennt: der Menſch fängt<lb/> an, <hi rendition="#g">auf der Welt zu Hauſe zu ſein</hi>. Auf andere Weiſe wohnen<lb/> ſich die romaniſchen Völker in der Welt ein; von Stoffen fällt ihnen auch<lb/> die Landſchaft, doch dieſe unter Einwirkung der Deutſchen, das Porträt,<lb/> der politiſche Menſch zu, aber eigener iſt ihnen die Sphäre der freien Sinn-<lb/> lichkeit, vorzüglich den Italienern, welche die Aufgabe haben, das Ideal<lb/> des Mittelalters zu voller Reife zu bringen. Wie ſie nun für dieſe<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [498/0212]
taſie in Thätigkeit geſetzt wird: alle dieſe Erſcheinungen vollenden und zerſtören
zugleich das Ideal des Mittelalters (vergl. §. 63).
Im fünfzehnten Jahrhundert nimmt die Landſchaft immer ausge-
dehnteren Raum in mythiſchen Darſtellungen ein, zum Beweiſe, daß der
mythiſche Auszug aus der Natur allmählich einer directen Uebertragung
des geiſtigen Gehalts, der Seelenſtimmungen auf die weite Welt weichen
muß; die Thierwelt regt ſich, doch reicht es noch nicht zu ſelbſtändigen
Darſtellungen, ſie bleibt Staffage; das Porträt, die unbefangenen menſch-
lichen Thätigkeiten im Gebiete des Zweckmäßigen, aber auch der hiſtoriſche
Menſch in ſeiner markigen Objectivität, die großen Herrſcher, Krieger,
Staatsmänner, Gelehrten rücken in das Ideal herein, freilich in dem
unorganiſchen Verhältniſſe, daß ſie als unbeſchäftigte Zuſchauer um einen
mythiſchen Vorgang verſammelt werden, daß ganz empiriſch geſchichtliche
Stoffe in die Ritterſagen eindringen, oder daß man die Welt im Himmel
oder in der Hölle ſuchen muß, wie ſchon bei Dante, deſſen größte Stellen
die großen Scenen aus den Kämpfen des Städtelebens im Mittelalter
ſind. Noch Raphael wagt keinen geſchichtlichen Stoff ohne Wunder
darzuſtellen, wie die Stanzen zeigen. Zugleich fängt die Aſceſe, ihr Aus-
druck, ihre Motive im weiteſten Sinn zu ſchwinden an; man wagt es,
den ſchönen Genuß in freier Grazie darzuſtellen, unbefangen und heiter,
ja ſubjectiv wärmer, als die Alten. Selbſt das Nackte wird wieder ſtu-
dirt und anfangs ſchüchtern, in Deutſchland immer ſteif, aber vorurtheils-
los aufgenommen. Dieſe Einführung der urſprünglichen Stoffwelt iſt nun
zugleich nothwendig Ueberwindung des Typus in der Form. Da übrigens nicht
alle Härte der Form nur durch die Macht des Typus feſtgehalten, ſondern ein
guter Theil derſelben durch den germaniſchen Volksgeiſt bedingt iſt, ſo geſchieht
in der deutſchen Phantaſie die Befreiung bei fortdauernd überall eckiger Form
auf dem Wege, daß die Individualität mit einer Beſtimmtheit und Energie ein-
geführt wird, welche ſich als Charakter auf die eigenen Füße ſtellt, ſo daß der
ganze Ausdruck, ſelbſt ohne Abſicht, ſagt, daß dieſe markigen Menſchen den
Schwerpunkt nicht mehr außer ſich als mythiſches Spiegelbild, ſondern
in ſich ſelbſt tragen, daß ferner hier namentlich die Landſchaft und die
gemüthlichen Sphären des profanen Menſchen (das Genreartige) in wach-
ſender Ausdehnung eingeführt werden. Man erkennt: der Menſch fängt
an, auf der Welt zu Hauſe zu ſein. Auf andere Weiſe wohnen
ſich die romaniſchen Völker in der Welt ein; von Stoffen fällt ihnen auch
die Landſchaft, doch dieſe unter Einwirkung der Deutſchen, das Porträt,
der politiſche Menſch zu, aber eigener iſt ihnen die Sphäre der freien Sinn-
lichkeit, vorzüglich den Italienern, welche die Aufgabe haben, das Ideal
des Mittelalters zu voller Reife zu bringen. Wie ſie nun für dieſe
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