Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
tasie die mythischen Stoffe absolut aufzugeben habe. Wie die Phantasie §. 467. Dieser unendliche Verlust ist ein unendlicher Gewinn, denn wie das mün-
taſie die mythiſchen Stoffe abſolut aufzugeben habe. Wie die Phantaſie §. 467. Dieſer unendliche Verluſt iſt ein unendlicher Gewinn, denn wie das mün- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0216" n="502"/> taſie die mythiſchen Stoffe abſolut aufzugeben habe. Wie die Phantaſie<lb/> überhaupt nicht ſyſtematiſch und philoſophiſch, ſondern auf Zufall geſtellt<lb/> und naiv iſt, ſo mag ſie vereinzelt und vorübergehend, auf eigenen An-<lb/> trieb oder auf Beſtellung, den Prozeß erneuern, wodurch Mythen ent-<lb/> ſtanden ſind, indem ſie eine mythiſch überlieferte Geſtalt mit ihrem Hauche<lb/> noch einmal beſeelt; ſie mag es <hi rendition="#g">unter Anderem</hi>, aber ſobald ſie es<lb/> grundſätzlich thut und zum Geſetze erheben will, ſo ſtrafen ſie nicht nur<lb/> ihre eigenen todten Geburten Lügen, ſo ſteht ſie nicht blos entwurzelt<lb/> außer der Zeit, ſondern ſie tödtet ſich ſelbſt, indem ſie ihr Grundgeſetz,<lb/> Unbefangenheit, reine Menſchlichkeit und Naivetät in Abſichtlichkeit, doc-<lb/> trinäre Schulmeiſterei, Fanatiſmus verkehrt. Sie kann ferner den gan-<lb/> zen Kreis des Wunderbaren komiſch behandeln durch eine Art von kühner<lb/> Parabaſe, welche die freie Selbſtändigkeit des Bewußtſeins, das ihn eigent-<lb/> lich geſtürzt hat, als ironiſche Bewegung in ſeine Geſtalten ſelbſt, als<lb/> lebten ſie noch, einführt. Mit den alten Göttern läßt ſich dieß komiſche<lb/> Spiel ohne Anſtand vornehmen, das ſchon Lucian wagen durfte; bei<lb/> denen des Mittelalters iſt Rückſicht auf die Wurzeln, die ſie noch im Be-<lb/> wußtſein Vieler haben, nothwendig; doch mit einem Theile derſelben,<lb/> z. B. den Teufeln, macht ſogar dieß Bewußtſein ſelbſt wenig Umſtände.<lb/> So hat nun z. B. Göthe den Satan in ſeinem Fauſt ironiſch behandelt;<lb/> Mephiſtopheles ſagt Vieles, wodurch er unverholen ausſpricht, daß es<lb/> keinen Teufel braucht, das Böſe zu erklären. Ferner hat das, was zu<lb/> entſeelt iſt, um den Mittelpunkt eines ſchönen Ganzen zu bilden, noch<lb/> Recht auf den Platz eines nachhelfenden Beiwerks, wie wir dieß zu §.<lb/> 444 von der Allegorie ſagten, beſonders in den ſtummen Werken der<lb/> bildenden Phantaſie, aber auch in der dichtenden: Luna, Amor mag als<lb/> kurze Bezeichnung gelegentlich einmal ſtehen. Das aber verſteht ſich, daß<lb/> es ein ganz Anderes iſt, wenn nicht das, was die unfreie Phantaſie<lb/> glaubt, ſondern der Glaube ſelbſt als inneres Wunder zum Stoffe ge-<lb/> nommen wird; dies gehört einfach zur urſprünglichen Stoffwelt. So ſteht<lb/> Tieck außer der Zeit, wenn er Teufel und Hexen einführt, als hätten<lb/> ſolche Weſen noch ein Leben in unſerem Bewußtſein, keineswegs aber,<lb/> wenn er in ſeiner Novelle Hexenſabbath das Anſchwellen eines allgemei-<lb/> nen wahnſinnigen Aberglaubens mit Meiſterzügen darſtellt.</hi> </p> </div><lb/> <div n="5"> <head>§. 467.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Dieſer unendliche Verluſt iſt ein unendlicher Gewinn, denn wie das mün-<lb/> dig gewordene Subject erſt ſich in der Welt zu Hauſe fühlt, ſein inneres Leben<lb/> als wirkliche Freiheit in ihr durchführt, ſo iſt der Phantaſie die ganze urſprüng-<lb/> liche Stoffwelt wiedergegeben. Dieß Wiederſinden ihrer reinen Stoffe iſt zu-<lb/> gleich eine Tilgung des unäſthetiſchen Bruchs zwiſchen Inhalt und Form (§. 456).<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [502/0216]
taſie die mythiſchen Stoffe abſolut aufzugeben habe. Wie die Phantaſie
überhaupt nicht ſyſtematiſch und philoſophiſch, ſondern auf Zufall geſtellt
und naiv iſt, ſo mag ſie vereinzelt und vorübergehend, auf eigenen An-
trieb oder auf Beſtellung, den Prozeß erneuern, wodurch Mythen ent-
ſtanden ſind, indem ſie eine mythiſch überlieferte Geſtalt mit ihrem Hauche
noch einmal beſeelt; ſie mag es unter Anderem, aber ſobald ſie es
grundſätzlich thut und zum Geſetze erheben will, ſo ſtrafen ſie nicht nur
ihre eigenen todten Geburten Lügen, ſo ſteht ſie nicht blos entwurzelt
außer der Zeit, ſondern ſie tödtet ſich ſelbſt, indem ſie ihr Grundgeſetz,
Unbefangenheit, reine Menſchlichkeit und Naivetät in Abſichtlichkeit, doc-
trinäre Schulmeiſterei, Fanatiſmus verkehrt. Sie kann ferner den gan-
zen Kreis des Wunderbaren komiſch behandeln durch eine Art von kühner
Parabaſe, welche die freie Selbſtändigkeit des Bewußtſeins, das ihn eigent-
lich geſtürzt hat, als ironiſche Bewegung in ſeine Geſtalten ſelbſt, als
lebten ſie noch, einführt. Mit den alten Göttern läßt ſich dieß komiſche
Spiel ohne Anſtand vornehmen, das ſchon Lucian wagen durfte; bei
denen des Mittelalters iſt Rückſicht auf die Wurzeln, die ſie noch im Be-
wußtſein Vieler haben, nothwendig; doch mit einem Theile derſelben,
z. B. den Teufeln, macht ſogar dieß Bewußtſein ſelbſt wenig Umſtände.
So hat nun z. B. Göthe den Satan in ſeinem Fauſt ironiſch behandelt;
Mephiſtopheles ſagt Vieles, wodurch er unverholen ausſpricht, daß es
keinen Teufel braucht, das Böſe zu erklären. Ferner hat das, was zu
entſeelt iſt, um den Mittelpunkt eines ſchönen Ganzen zu bilden, noch
Recht auf den Platz eines nachhelfenden Beiwerks, wie wir dieß zu §.
444 von der Allegorie ſagten, beſonders in den ſtummen Werken der
bildenden Phantaſie, aber auch in der dichtenden: Luna, Amor mag als
kurze Bezeichnung gelegentlich einmal ſtehen. Das aber verſteht ſich, daß
es ein ganz Anderes iſt, wenn nicht das, was die unfreie Phantaſie
glaubt, ſondern der Glaube ſelbſt als inneres Wunder zum Stoffe ge-
nommen wird; dies gehört einfach zur urſprünglichen Stoffwelt. So ſteht
Tieck außer der Zeit, wenn er Teufel und Hexen einführt, als hätten
ſolche Weſen noch ein Leben in unſerem Bewußtſein, keineswegs aber,
wenn er in ſeiner Novelle Hexenſabbath das Anſchwellen eines allgemei-
nen wahnſinnigen Aberglaubens mit Meiſterzügen darſtellt.
§. 467.
Dieſer unendliche Verluſt iſt ein unendlicher Gewinn, denn wie das mün-
dig gewordene Subject erſt ſich in der Welt zu Hauſe fühlt, ſein inneres Leben
als wirkliche Freiheit in ihr durchführt, ſo iſt der Phantaſie die ganze urſprüng-
liche Stoffwelt wiedergegeben. Dieß Wiederſinden ihrer reinen Stoffe iſt zu-
gleich eine Tilgung des unäſthetiſchen Bruchs zwiſchen Inhalt und Form (§. 456).
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