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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Anlage getränkter Zustände, großer Momente der Geschichte und bewe-
gungsvoll malerischer Darstellung derselben. Vereinzelter, nachdenklicher,
die psychologisch behandelte ruhige Situation der bewegten Handlung vor-
ziehend folgten die Deutschen, namentlich Lessing. Ihnen fehlt noch vor
Allem der Sinn für die Spitze und Schneide des Moments und der Le-
benswärme. Beides fließt daraus, daß sie das Mythische nicht lassen
wollen, durch dessen Einmischung selbst Kaulbach großartig empfangene
weltgeschichtliche Stoffe verderbt.

§. 484.

Nachdem die empfindende Phantasie in mächtigen Klängen das Ringen
des neuen Geistes ausgesprochen, dann in Prunk und Wirkung auf Effect ver-
sunken, hat die dichtende vorzüglich in ihrer bildenden Form durch den engli-
schen, deutschen, französischen Geist das soziale Leben im Sinne des modernen
Ideals ergriffen, in ihre übrigen Formen aber hat sich, mit Ausnahme glück-
lichen komischen Talents im französischen Volke, besonders sichtbar dasjenige
eingedrängt, was übrigens aller Thätigkeit der Phantasie in einer unruhig stre-
benden Zeit nahe liegt, die Tendenz: eine ästhetisch unzulässige Auffassung
im Sinne des Interesses (vergl. §. 56 -- 60. 75. 76).

Die romantische Schule hatte freilich auch ihren großen Musiker;
wir heben aber einzelne Erscheinungen nur da hervor, wo es der
bezeichnenden wenige gibt, und so mußte hier Beethoven, dieser musika-
lische Prophet, angedeutet werden. Leere Süßigkeit, Lärm, Knalleffect,
Prahlerei wird hierauf von glänzenden italienischen und französischen Ta-
lenten eingeführt. In der dichtenden Phantasie war es der bildenden Art
(dem Roman) am leichtesten, ächt moderne Richtung zu nehmen; der
historische, der soziale Roman ist von großen Talenten angebaut worden.
Statt die englischen, deutschen, französischen Talente zu zählen, nennen
wir nur die edle G. Sand. Ehe wir nun von der Tendenz sprechen,
welche freilich in alle Arten der Phantasie, selbst in die bildende (Hüb-
ners Tendenzbilder), vorzüglich aber in die subjectiv bewegten Formen
der dichtenden, die lyrische und dramatische, sich eindrängen mußte, ist
als ganze und ächt ästhetische Erscheinung das komödische Talent der
Franzosen zu erwähnen, zwar abstract in der Charakterbildung, aber voll
Kraft, eine gesellige Lebensfrage mit raschem Blick zu erfassen, zu leb-
hafter Wirkung zu spannen. Daß übrigens in den verschiedensten Sphären
die unorganisch komische Form, die Satyre, zeitgemäß wirken kann und
muß, ja besonders fetten Boden hat in kritischer Zeit, dieß folgt von
selbst aus dem, was über ihre Natur schon gesagt ist. Die Tendenz-

Anlage getränkter Zuſtände, großer Momente der Geſchichte und bewe-
gungsvoll maleriſcher Darſtellung derſelben. Vereinzelter, nachdenklicher,
die pſychologiſch behandelte ruhige Situation der bewegten Handlung vor-
ziehend folgten die Deutſchen, namentlich Leſſing. Ihnen fehlt noch vor
Allem der Sinn für die Spitze und Schneide des Moments und der Le-
benswärme. Beides fließt daraus, daß ſie das Mythiſche nicht laſſen
wollen, durch deſſen Einmiſchung ſelbſt Kaulbach großartig empfangene
weltgeſchichtliche Stoffe verderbt.

§. 484.

Nachdem die empfindende Phantaſie in mächtigen Klängen das Ringen
des neuen Geiſtes ausgeſprochen, dann in Prunk und Wirkung auf Effect ver-
ſunken, hat die dichtende vorzüglich in ihrer bildenden Form durch den engli-
ſchen, deutſchen, franzöſiſchen Geiſt das ſoziale Leben im Sinne des modernen
Ideals ergriffen, in ihre übrigen Formen aber hat ſich, mit Ausnahme glück-
lichen komiſchen Talents im franzöſiſchen Volke, beſonders ſichtbar dasjenige
eingedrängt, was übrigens aller Thätigkeit der Phantaſie in einer unruhig ſtre-
benden Zeit nahe liegt, die Tendenz: eine äſthetiſch unzuläſſige Auffaſſung
im Sinne des Intereſſes (vergl. §. 56 — 60. 75. 76).

Die romantiſche Schule hatte freilich auch ihren großen Muſiker;
wir heben aber einzelne Erſcheinungen nur da hervor, wo es der
bezeichnenden wenige gibt, und ſo mußte hier Beethoven, dieſer muſika-
liſche Prophet, angedeutet werden. Leere Süßigkeit, Lärm, Knalleffect,
Prahlerei wird hierauf von glänzenden italieniſchen und franzöſiſchen Ta-
lenten eingeführt. In der dichtenden Phantaſie war es der bildenden Art
(dem Roman) am leichteſten, ächt moderne Richtung zu nehmen; der
hiſtoriſche, der ſoziale Roman iſt von großen Talenten angebaut worden.
Statt die engliſchen, deutſchen, franzöſiſchen Talente zu zählen, nennen
wir nur die edle G. Sand. Ehe wir nun von der Tendenz ſprechen,
welche freilich in alle Arten der Phantaſie, ſelbſt in die bildende (Hüb-
ners Tendenzbilder), vorzüglich aber in die ſubjectiv bewegten Formen
der dichtenden, die lyriſche und dramatiſche, ſich eindrängen mußte, iſt
als ganze und ächt äſthetiſche Erſcheinung das komödiſche Talent der
Franzoſen zu erwähnen, zwar abſtract in der Charakterbildung, aber voll
Kraft, eine geſellige Lebensfrage mit raſchem Blick zu erfaſſen, zu leb-
hafter Wirkung zu ſpannen. Daß übrigens in den verſchiedenſten Sphären
die unorganiſch komiſche Form, die Satyre, zeitgemäß wirken kann und
muß, ja beſonders fetten Boden hat in kritiſcher Zeit, dieß folgt von
ſelbſt aus dem, was über ihre Natur ſchon geſagt iſt. Die Tendenz-

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[523/0237] Anlage getränkter Zuſtände, großer Momente der Geſchichte und bewe- gungsvoll maleriſcher Darſtellung derſelben. Vereinzelter, nachdenklicher, die pſychologiſch behandelte ruhige Situation der bewegten Handlung vor- ziehend folgten die Deutſchen, namentlich Leſſing. Ihnen fehlt noch vor Allem der Sinn für die Spitze und Schneide des Moments und der Le- benswärme. Beides fließt daraus, daß ſie das Mythiſche nicht laſſen wollen, durch deſſen Einmiſchung ſelbſt Kaulbach großartig empfangene weltgeſchichtliche Stoffe verderbt. §. 484. Nachdem die empfindende Phantaſie in mächtigen Klängen das Ringen des neuen Geiſtes ausgeſprochen, dann in Prunk und Wirkung auf Effect ver- ſunken, hat die dichtende vorzüglich in ihrer bildenden Form durch den engli- ſchen, deutſchen, franzöſiſchen Geiſt das ſoziale Leben im Sinne des modernen Ideals ergriffen, in ihre übrigen Formen aber hat ſich, mit Ausnahme glück- lichen komiſchen Talents im franzöſiſchen Volke, beſonders ſichtbar dasjenige eingedrängt, was übrigens aller Thätigkeit der Phantaſie in einer unruhig ſtre- benden Zeit nahe liegt, die Tendenz: eine äſthetiſch unzuläſſige Auffaſſung im Sinne des Intereſſes (vergl. §. 56 — 60. 75. 76). Die romantiſche Schule hatte freilich auch ihren großen Muſiker; wir heben aber einzelne Erſcheinungen nur da hervor, wo es der bezeichnenden wenige gibt, und ſo mußte hier Beethoven, dieſer muſika- liſche Prophet, angedeutet werden. Leere Süßigkeit, Lärm, Knalleffect, Prahlerei wird hierauf von glänzenden italieniſchen und franzöſiſchen Ta- lenten eingeführt. In der dichtenden Phantaſie war es der bildenden Art (dem Roman) am leichteſten, ächt moderne Richtung zu nehmen; der hiſtoriſche, der ſoziale Roman iſt von großen Talenten angebaut worden. Statt die engliſchen, deutſchen, franzöſiſchen Talente zu zählen, nennen wir nur die edle G. Sand. Ehe wir nun von der Tendenz ſprechen, welche freilich in alle Arten der Phantaſie, ſelbſt in die bildende (Hüb- ners Tendenzbilder), vorzüglich aber in die ſubjectiv bewegten Formen der dichtenden, die lyriſche und dramatiſche, ſich eindrängen mußte, iſt als ganze und ächt äſthetiſche Erſcheinung das komödiſche Talent der Franzoſen zu erwähnen, zwar abſtract in der Charakterbildung, aber voll Kraft, eine geſellige Lebensfrage mit raſchem Blick zu erfaſſen, zu leb- hafter Wirkung zu ſpannen. Daß übrigens in den verſchiedenſten Sphären die unorganiſch komiſche Form, die Satyre, zeitgemäß wirken kann und muß, ja beſonders fetten Boden hat in kritiſcher Zeit, dieß folgt von ſelbſt aus dem, was über ihre Natur ſchon geſagt iſt. Die Tendenz-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 523. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/237>, abgerufen am 23.11.2024.