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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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die eigentliche Phantasie zu anticipiren, denn dieser Act findet ungeläutert
auch vor und außer derselben Statt, die Phantasie läutert mit dem Stoffe
diesen Act selbst.

2. Das Hinausschieben war, um es hier, am eigentlichen Orte,
noch einmal streng auszusprechen, schlechtweg eine wissenschaftliche Noth-
wendigkeit. Ehe ich das Subject einführe, muß es seinen Boden, Stoff,
Ausgangspunkt haben, ich darf es nicht in einen leeren Raum stellen, daß
es aus dem Blauen stofflose Bilder spinne. Es ist Schein, als sey das
Schöne ein Gegebenes, aber dieser Schein ist das Erste, ist nothwendig.
Dieser Schein heißt im § erster Schein. Das wahrhaft Schöne selbst
nämlich ist Schein, reiner Schein (s. § 54. 55.); zuerst nun scheint es,
als sey dieses Scheinwesen ein wirkliches, in der Natur ohne Zuthun des
Subjects vorhandenes: dieß ist erster Schein oder Schein des Scheins.
Das schaffende Subject bedarf dieses ersten Scheins, um den zweiten, den
von der Phantasie frei geschaffenen Schein darauf zu bauen, daraus zu
entwickeln. Man könnte nun wohl sagen, die Aesthetik könne auch so aus
dem Subjecte construirt werden, in folgendem Gange nämlich: ausge-
gangen wird von der Phantasie und zuerst in abstract allgemeinen Zügen
ihr Werk, das Schöne, entwickelt, dann wird die subjective Nothwendigkeit
abgeleitet, daß sie sich zuerst den Schein entgegentreten lasse, als sey das
Schöne ohne sie in der Natur gegeben, hierauf dieser Schein aufgelöst
und das freie Schaffen der Phantasie dargestellt. Allein so fällt immer
der ganze unentbehrliche Theil aus dem Systeme weg, der die Reiche der
Welt durchwandelt mit der Frage, wo und unter welchen Bedingungen in
ihr das Schöne (das freilich nie schlechtweg schön ist) sich ausbildet; man
kann dann nie ein Kunstwerk darauf ansehen, ob es einen günstigen oder
ungünstigen Stoff behandle, denn jeder Stoff ist gleich. Wir haben seines
Orts diesen Hauptpunkt noch einmal aufzufassen. Zunächst berufen wir
uns überhaupt auf den Satz, daß in einem Systeme dasjenige, was die
Wahrheit des Vorhergehenden ist, darum nicht vor dasselbe gestellt werden
darf. Das Subject ist uns jetzt das Erste geworden, das naturschöne
Object das Zweite, dem Werthe nach nämlich, denn der Zeit nach bleibt
das Object das Erste, das Subject das Zweite. Das Werthverhältniß
kehrt das Zeitverhältniß um; allein dieses bleibt immer das Vorausgesetzte
und ist selbst ein Begriffs-Verhältniß, denn es liegt in der Sache, daß die
Phantasie immer erst einen Stoff sich geben lasse.


die eigentliche Phantaſie zu anticipiren, denn dieſer Act findet ungeläutert
auch vor und außer derſelben Statt, die Phantaſie läutert mit dem Stoffe
dieſen Act ſelbſt.

2. Das Hinausſchieben war, um es hier, am eigentlichen Orte,
noch einmal ſtreng auszuſprechen, ſchlechtweg eine wiſſenſchaftliche Noth-
wendigkeit. Ehe ich das Subject einführe, muß es ſeinen Boden, Stoff,
Ausgangspunkt haben, ich darf es nicht in einen leeren Raum ſtellen, daß
es aus dem Blauen ſtoffloſe Bilder ſpinne. Es iſt Schein, als ſey das
Schöne ein Gegebenes, aber dieſer Schein iſt das Erſte, iſt nothwendig.
Dieſer Schein heißt im § erſter Schein. Das wahrhaft Schöne ſelbſt
nämlich iſt Schein, reiner Schein (ſ. § 54. 55.); zuerſt nun ſcheint es,
als ſey dieſes Scheinweſen ein wirkliches, in der Natur ohne Zuthun des
Subjects vorhandenes: dieß iſt erſter Schein oder Schein des Scheins.
Das ſchaffende Subject bedarf dieſes erſten Scheins, um den zweiten, den
von der Phantaſie frei geſchaffenen Schein darauf zu bauen, daraus zu
entwickeln. Man könnte nun wohl ſagen, die Aeſthetik könne auch ſo aus
dem Subjecte conſtruirt werden, in folgendem Gange nämlich: ausge-
gangen wird von der Phantaſie und zuerſt in abſtract allgemeinen Zügen
ihr Werk, das Schöne, entwickelt, dann wird die ſubjective Nothwendigkeit
abgeleitet, daß ſie ſich zuerſt den Schein entgegentreten laſſe, als ſey das
Schöne ohne ſie in der Natur gegeben, hierauf dieſer Schein aufgelöst
und das freie Schaffen der Phantaſie dargeſtellt. Allein ſo fällt immer
der ganze unentbehrliche Theil aus dem Syſteme weg, der die Reiche der
Welt durchwandelt mit der Frage, wo und unter welchen Bedingungen in
ihr das Schöne (das freilich nie ſchlechtweg ſchön iſt) ſich ausbildet; man
kann dann nie ein Kunſtwerk darauf anſehen, ob es einen günſtigen oder
ungünſtigen Stoff behandle, denn jeder Stoff iſt gleich. Wir haben ſeines
Orts dieſen Hauptpunkt noch einmal aufzufaſſen. Zunächſt berufen wir
uns überhaupt auf den Satz, daß in einem Syſteme dasjenige, was die
Wahrheit des Vorhergehenden iſt, darum nicht vor daſſelbe geſtellt werden
darf. Das Subject iſt uns jetzt das Erſte geworden, das naturſchöne
Object das Zweite, dem Werthe nach nämlich, denn der Zeit nach bleibt
das Object das Erſte, das Subject das Zweite. Das Werthverhältniß
kehrt das Zeitverhältniß um; allein dieſes bleibt immer das Vorausgeſetzte
und iſt ſelbſt ein Begriffs-Verhältniß, denn es liegt in der Sache, daß die
Phantaſie immer erſt einen Stoff ſich geben laſſe.


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[314/0028] die eigentliche Phantaſie zu anticipiren, denn dieſer Act findet ungeläutert auch vor und außer derſelben Statt, die Phantaſie läutert mit dem Stoffe dieſen Act ſelbſt. 2. Das Hinausſchieben war, um es hier, am eigentlichen Orte, noch einmal ſtreng auszuſprechen, ſchlechtweg eine wiſſenſchaftliche Noth- wendigkeit. Ehe ich das Subject einführe, muß es ſeinen Boden, Stoff, Ausgangspunkt haben, ich darf es nicht in einen leeren Raum ſtellen, daß es aus dem Blauen ſtoffloſe Bilder ſpinne. Es iſt Schein, als ſey das Schöne ein Gegebenes, aber dieſer Schein iſt das Erſte, iſt nothwendig. Dieſer Schein heißt im § erſter Schein. Das wahrhaft Schöne ſelbſt nämlich iſt Schein, reiner Schein (ſ. § 54. 55.); zuerſt nun ſcheint es, als ſey dieſes Scheinweſen ein wirkliches, in der Natur ohne Zuthun des Subjects vorhandenes: dieß iſt erſter Schein oder Schein des Scheins. Das ſchaffende Subject bedarf dieſes erſten Scheins, um den zweiten, den von der Phantaſie frei geſchaffenen Schein darauf zu bauen, daraus zu entwickeln. Man könnte nun wohl ſagen, die Aeſthetik könne auch ſo aus dem Subjecte conſtruirt werden, in folgendem Gange nämlich: ausge- gangen wird von der Phantaſie und zuerſt in abſtract allgemeinen Zügen ihr Werk, das Schöne, entwickelt, dann wird die ſubjective Nothwendigkeit abgeleitet, daß ſie ſich zuerſt den Schein entgegentreten laſſe, als ſey das Schöne ohne ſie in der Natur gegeben, hierauf dieſer Schein aufgelöst und das freie Schaffen der Phantaſie dargeſtellt. Allein ſo fällt immer der ganze unentbehrliche Theil aus dem Syſteme weg, der die Reiche der Welt durchwandelt mit der Frage, wo und unter welchen Bedingungen in ihr das Schöne (das freilich nie ſchlechtweg ſchön iſt) ſich ausbildet; man kann dann nie ein Kunſtwerk darauf anſehen, ob es einen günſtigen oder ungünſtigen Stoff behandle, denn jeder Stoff iſt gleich. Wir haben ſeines Orts dieſen Hauptpunkt noch einmal aufzufaſſen. Zunächſt berufen wir uns überhaupt auf den Satz, daß in einem Syſteme dasjenige, was die Wahrheit des Vorhergehenden iſt, darum nicht vor daſſelbe geſtellt werden darf. Das Subject iſt uns jetzt das Erſte geworden, das naturſchöne Object das Zweite, dem Werthe nach nämlich, denn der Zeit nach bleibt das Object das Erſte, das Subject das Zweite. Das Werthverhältniß kehrt das Zeitverhältniß um; allein dieſes bleibt immer das Vorausgeſetzte und iſt ſelbſt ein Begriffs-Verhältniß, denn es liegt in der Sache, daß die Phantaſie immer erſt einen Stoff ſich geben laſſe.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/28>, abgerufen am 23.11.2024.