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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Nicht genug jedoch kann es den Künstlern an's Herz gelegt werden, sich
mit der Geschichte vertraut zu machen; wie wenig noch diese Fundgrube
benützt sei, ist schon zu §. 341 ausgesprochen worden. Nur die Geschichte
giebt die großen Stoffe, das rechte Mark für den Künstlergeist.

Die Ueberlieferung kann aber ihren Stoff bereits in eigentlich ästhe-
tischer Weise vorgebildet haben; es kann eine Kunst den Gegenstand von
einer andern Kunst oder einem andern Zweige, einer andern Bildungs-
stufe (Volkspoesie, Sage) derselben Kunst schon zubereitet übernehmen.
Dieß ist jedoch erst in der Lehre von den Künsten in Betrachtung zu
ziehen.

2. Es fragt sich schon bei dieser Vorstufe, wie weit die allgemeine
Phantasie mitgehe. Hier muß man nur nicht an die sinnlich abgestumpfte
Bildung der jetzigen Zeit, sondern an die lebendige Auffassung naturfrischer
Völker denken und dann ist keine Frage, daß sie jedenfalls in dieses Mo-
ment sich mitbewegt. Sie schaut die Naturschönheit; sie könnte dieß nicht,
wenn sie nicht auch das Gewöhnliche mit hellen Sinnen faßte, denn sie
unterscheidet jene von diesem. Aber an Kraft und Umfang hebt sich aller-
dings die begabte, besondere Phantasie hervor. Alle Griechen schauten hell
und frisch, aber die Volksdichter der homerischen Gesänge heller und frischer,
als alles Volk, und wunderbar steht in sinnlich stumpfer Zeit Göthe, der
uns alle hier aufgestellten Forderungen veranschaulicht. Die Unbefangen-
heit liebt er so auszudrücken: der Dichter soll das Object rein auf sich
wirken lassen. Es gibt kein schöneres Bild allseitiger, offener Empfäng-
lichkeit, als seine Jugend. Der Auserwählte der Phantasie soll aber viel
geschaut, viel erlebt haben. Von der Intuition, die Göthe in sich selbst
entdeckte, von dem Weltbilde, das die Ahnung schafft und die Erfahrung
wunderbar bestätigt, haben wir jetzt noch nicht zu reden, wohl aber vor-
zubauen, daß man nicht meine, es ersetze alle Erfahrung. Es ist nur
vergleichungsweise wenig, was dem Genius den Anhalt giebt, die großen
Kreise des Weltlebens prophetisch anzuschauen ohne sie wirklich angeschaut zu
haben; wer in Zellen und engem Kreise lebt, dem fehlt dieser Anhalt, auch
das sagt Göthe so schön im Tasso. Auch Schiller hatte nicht so wenig
gesehen, als man annimmt; er konnte die Brandung der See voll Wahr-
heit malen, ohne auch nur den Rheinfall, aber nicht, ohne wenigstens diesen
und jenen Wasserfall, großes Wehr u. s. w. mit offenem Auge gesehen
zu haben. Hatte er aber überhaupt immer noch zu wenig gesehen, so
hat darunter auch seine Poesie gelitten. Tieck sagt irgendwo, wer keine
Schlacht gesehen, könne eine solche poetisch besser darstellen, als wer eine ge-
sehen. Es mag sein, das Getümmel der Einzelnheiten und das Verstrickt-
sein in sie mag Freiheit und Ueberblick erschweren; aber wer nicht wenigstens
Solches, was dazu gehört, Krieger und ihr Wesen, Waffenspiele, Wunden,

Nicht genug jedoch kann es den Künſtlern an’s Herz gelegt werden, ſich
mit der Geſchichte vertraut zu machen; wie wenig noch dieſe Fundgrube
benützt ſei, iſt ſchon zu §. 341 ausgeſprochen worden. Nur die Geſchichte
giebt die großen Stoffe, das rechte Mark für den Künſtlergeiſt.

Die Ueberlieferung kann aber ihren Stoff bereits in eigentlich äſthe-
tiſcher Weiſe vorgebildet haben; es kann eine Kunſt den Gegenſtand von
einer andern Kunſt oder einem andern Zweige, einer andern Bildungs-
ſtufe (Volkspoeſie, Sage) derſelben Kunſt ſchon zubereitet übernehmen.
Dieß iſt jedoch erſt in der Lehre von den Künſten in Betrachtung zu
ziehen.

2. Es fragt ſich ſchon bei dieſer Vorſtufe, wie weit die allgemeine
Phantaſie mitgehe. Hier muß man nur nicht an die ſinnlich abgeſtumpfte
Bildung der jetzigen Zeit, ſondern an die lebendige Auffaſſung naturfriſcher
Völker denken und dann iſt keine Frage, daß ſie jedenfalls in dieſes Mo-
ment ſich mitbewegt. Sie ſchaut die Naturſchönheit; ſie könnte dieß nicht,
wenn ſie nicht auch das Gewöhnliche mit hellen Sinnen faßte, denn ſie
unterſcheidet jene von dieſem. Aber an Kraft und Umfang hebt ſich aller-
dings die begabte, beſondere Phantaſie hervor. Alle Griechen ſchauten hell
und friſch, aber die Volksdichter der homeriſchen Geſänge heller und friſcher,
als alles Volk, und wunderbar ſteht in ſinnlich ſtumpfer Zeit Göthe, der
uns alle hier aufgeſtellten Forderungen veranſchaulicht. Die Unbefangen-
heit liebt er ſo auszudrücken: der Dichter ſoll das Object rein auf ſich
wirken laſſen. Es gibt kein ſchöneres Bild allſeitiger, offener Empfäng-
lichkeit, als ſeine Jugend. Der Auserwählte der Phantaſie ſoll aber viel
geſchaut, viel erlebt haben. Von der Intuition, die Göthe in ſich ſelbſt
entdeckte, von dem Weltbilde, das die Ahnung ſchafft und die Erfahrung
wunderbar beſtätigt, haben wir jetzt noch nicht zu reden, wohl aber vor-
zubauen, daß man nicht meine, es erſetze alle Erfahrung. Es iſt nur
vergleichungsweiſe wenig, was dem Genius den Anhalt giebt, die großen
Kreiſe des Weltlebens prophetiſch anzuſchauen ohne ſie wirklich angeſchaut zu
haben; wer in Zellen und engem Kreiſe lebt, dem fehlt dieſer Anhalt, auch
das ſagt Göthe ſo ſchön im Taſſo. Auch Schiller hatte nicht ſo wenig
geſehen, als man annimmt; er konnte die Brandung der See voll Wahr-
heit malen, ohne auch nur den Rheinfall, aber nicht, ohne wenigſtens dieſen
und jenen Waſſerfall, großes Wehr u. ſ. w. mit offenem Auge geſehen
zu haben. Hatte er aber überhaupt immer noch zu wenig geſehen, ſo
hat darunter auch ſeine Poeſie gelitten. Tieck ſagt irgendwo, wer keine
Schlacht geſehen, könne eine ſolche poetiſch beſſer darſtellen, als wer eine ge-
ſehen. Es mag ſein, das Getümmel der Einzelnheiten und das Verſtrickt-
ſein in ſie mag Freiheit und Ueberblick erſchweren; aber wer nicht wenigſtens
Solches, was dazu gehört, Krieger und ihr Weſen, Waffenſpiele, Wunden,

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[319/0033] Nicht genug jedoch kann es den Künſtlern an’s Herz gelegt werden, ſich mit der Geſchichte vertraut zu machen; wie wenig noch dieſe Fundgrube benützt ſei, iſt ſchon zu §. 341 ausgeſprochen worden. Nur die Geſchichte giebt die großen Stoffe, das rechte Mark für den Künſtlergeiſt. Die Ueberlieferung kann aber ihren Stoff bereits in eigentlich äſthe- tiſcher Weiſe vorgebildet haben; es kann eine Kunſt den Gegenſtand von einer andern Kunſt oder einem andern Zweige, einer andern Bildungs- ſtufe (Volkspoeſie, Sage) derſelben Kunſt ſchon zubereitet übernehmen. Dieß iſt jedoch erſt in der Lehre von den Künſten in Betrachtung zu ziehen. 2. Es fragt ſich ſchon bei dieſer Vorſtufe, wie weit die allgemeine Phantaſie mitgehe. Hier muß man nur nicht an die ſinnlich abgeſtumpfte Bildung der jetzigen Zeit, ſondern an die lebendige Auffaſſung naturfriſcher Völker denken und dann iſt keine Frage, daß ſie jedenfalls in dieſes Mo- ment ſich mitbewegt. Sie ſchaut die Naturſchönheit; ſie könnte dieß nicht, wenn ſie nicht auch das Gewöhnliche mit hellen Sinnen faßte, denn ſie unterſcheidet jene von dieſem. Aber an Kraft und Umfang hebt ſich aller- dings die begabte, beſondere Phantaſie hervor. Alle Griechen ſchauten hell und friſch, aber die Volksdichter der homeriſchen Geſänge heller und friſcher, als alles Volk, und wunderbar ſteht in ſinnlich ſtumpfer Zeit Göthe, der uns alle hier aufgeſtellten Forderungen veranſchaulicht. Die Unbefangen- heit liebt er ſo auszudrücken: der Dichter ſoll das Object rein auf ſich wirken laſſen. Es gibt kein ſchöneres Bild allſeitiger, offener Empfäng- lichkeit, als ſeine Jugend. Der Auserwählte der Phantaſie ſoll aber viel geſchaut, viel erlebt haben. Von der Intuition, die Göthe in ſich ſelbſt entdeckte, von dem Weltbilde, das die Ahnung ſchafft und die Erfahrung wunderbar beſtätigt, haben wir jetzt noch nicht zu reden, wohl aber vor- zubauen, daß man nicht meine, es erſetze alle Erfahrung. Es iſt nur vergleichungsweiſe wenig, was dem Genius den Anhalt giebt, die großen Kreiſe des Weltlebens prophetiſch anzuſchauen ohne ſie wirklich angeſchaut zu haben; wer in Zellen und engem Kreiſe lebt, dem fehlt dieſer Anhalt, auch das ſagt Göthe ſo ſchön im Taſſo. Auch Schiller hatte nicht ſo wenig geſehen, als man annimmt; er konnte die Brandung der See voll Wahr- heit malen, ohne auch nur den Rheinfall, aber nicht, ohne wenigſtens dieſen und jenen Waſſerfall, großes Wehr u. ſ. w. mit offenem Auge geſehen zu haben. Hatte er aber überhaupt immer noch zu wenig geſehen, ſo hat darunter auch ſeine Poeſie gelitten. Tieck ſagt irgendwo, wer keine Schlacht geſehen, könne eine ſolche poetiſch beſſer darſtellen, als wer eine ge- ſehen. Es mag ſein, das Getümmel der Einzelnheiten und das Verſtrickt- ſein in ſie mag Freiheit und Ueberblick erſchweren; aber wer nicht wenigſtens Solches, was dazu gehört, Krieger und ihr Weſen, Waffenſpiele, Wunden,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/33>, abgerufen am 21.11.2024.