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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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schon so weit, den Uebergang vom innern Ideale zum Kunstwerk anzu-
treten, so wäre Alles mit dem einen Worte gesagt, daß diese Form der
Phantasie in keinem andern Materiale, als dem der Phantasie (des Zu-
hörers) arbeitet, also nicht aus der Phantasie in die Welt der äußeren Ge-
staltbildung übergeht, oder richtiger, daß sie sich von dieser in die rein innere
Gestaltbildung zurücknimmt. Allein so viel folgt schon hier, daß damit
eine Form der Phantasie gegeben ist, die, weil sie sich in keines der ein-
seitigen Momente legt, alle anderen Formen auf geistige Weise in sich
vereinigt. Sie zeichnet also innerlich wie die auf das Auge organisirte
Phantasie, aber da sie ebensosehr die auf das Ohr organisirte empfindende
in sich schließt, diese aber Alles als ein von innen heraus Bewegtes und
das Gemüth Bewegendes auffaßt, so führt sie ihre Gestaltenwelt im vollen
Fluße der geistigen Bewegung vorüber. Nun können aber auch die üb-
rigen untergeordneten Sinne, Geschmack, Geruch mitwirken, denn ihre
stoffartige Spitze ist gebrochen, indem sie in dem Ganzen der so ideal
gesetzten Sinnlichkeit nur mitwirken. Hier ist denn die Poesie vorge-
zeichnet. Da nun diese Phantasie alle anderen hier vorliegenden Arten
in sich vereinigt, so ist sogleich klar, daß sie die Standpunkte der letzteren
in sich wiederholt, und so ist bereits die epische Poesie als entsprechend
der bildenden, die lyrische als entsprechend der empfindenden, die drama-
tische als Rückkehr der dichtenden zu sich selbst vorgezeichnet. Hiemit ist
auch schon gesagt, daß die dichtende Phantasie mit allen Arten von Phan-
tasie, die nach den Sphären des Stoffes, ebenso mit allen Arten, die
aus den Grundformen des einfach Schönen u. s. w. sich bildeten, auf
die vielfachste und ungehemmteste Weise sich verschmelzen kann.

Im Vorhergehenden haben wir die Verbindungen, welche die durch
die jetzige Eintheilung gegebenen Arten der Phantasie mit den Arten der
vorh. §§. eingehen können, bereits angedeutet, aber nur von der dichten-
den hervorgehoben, wie sie sich durch Wiederholung der bildenden und em-
pfindenden innerhalb ihres Standpunkts gliedert. Wie auch die andern Arten
die Weise der übrigen in sich aufnehmen, kann hier nur mit Wenigem an-
gegeben werden. Am schwersten natürlich kann die Phantasie des messenden
Auges übergreifen in die benachbarten Formen, die plastische, die malerische;
doch läßt sich in gewissem Sinne sagen, daß die orientalische Architektur streng
blos messend, die griechische plastisch, die gothische malerisch sei. Hier
also würden aus diesem Uebergreifen nicht verschiedene Zweige, sondern histo-
rische Style entstehen. Die Phantasie des tastend sehenden Auges, die plastische,
kann in gewissem Sinne eine architektonische oder eine malerisch bewegte
Anschauung sich zu Grunde legen, ohne ihre Grenzen zu verlassen; von
den eigentlichen Fehlgriffen nämlich reden wir hier überhaupt noch nicht.
Dieß kann nun in doppeltem Sinne geschehen; entweder Zweige begrün-

ſchon ſo weit, den Uebergang vom innern Ideale zum Kunſtwerk anzu-
treten, ſo wäre Alles mit dem einen Worte geſagt, daß dieſe Form der
Phantaſie in keinem andern Materiale, als dem der Phantaſie (des Zu-
hörers) arbeitet, alſo nicht aus der Phantaſie in die Welt der äußeren Ge-
ſtaltbildung übergeht, oder richtiger, daß ſie ſich von dieſer in die rein innere
Geſtaltbildung zurücknimmt. Allein ſo viel folgt ſchon hier, daß damit
eine Form der Phantaſie gegeben iſt, die, weil ſie ſich in keines der ein-
ſeitigen Momente legt, alle anderen Formen auf geiſtige Weiſe in ſich
vereinigt. Sie zeichnet alſo innerlich wie die auf das Auge organiſirte
Phantaſie, aber da ſie ebenſoſehr die auf das Ohr organiſirte empfindende
in ſich ſchließt, dieſe aber Alles als ein von innen heraus Bewegtes und
das Gemüth Bewegendes auffaßt, ſo führt ſie ihre Geſtaltenwelt im vollen
Fluße der geiſtigen Bewegung vorüber. Nun können aber auch die üb-
rigen untergeordneten Sinne, Geſchmack, Geruch mitwirken, denn ihre
ſtoffartige Spitze iſt gebrochen, indem ſie in dem Ganzen der ſo ideal
geſetzten Sinnlichkeit nur mitwirken. Hier iſt denn die Poeſie vorge-
zeichnet. Da nun dieſe Phantaſie alle anderen hier vorliegenden Arten
in ſich vereinigt, ſo iſt ſogleich klar, daß ſie die Standpunkte der letzteren
in ſich wiederholt, und ſo iſt bereits die epiſche Poeſie als entſprechend
der bildenden, die lyriſche als entſprechend der empfindenden, die drama-
tiſche als Rückkehr der dichtenden zu ſich ſelbſt vorgezeichnet. Hiemit iſt
auch ſchon geſagt, daß die dichtende Phantaſie mit allen Arten von Phan-
taſie, die nach den Sphären des Stoffes, ebenſo mit allen Arten, die
aus den Grundformen des einfach Schönen u. ſ. w. ſich bildeten, auf
die vielfachſte und ungehemmteſte Weiſe ſich verſchmelzen kann.

Im Vorhergehenden haben wir die Verbindungen, welche die durch
die jetzige Eintheilung gegebenen Arten der Phantaſie mit den Arten der
vorh. §§. eingehen können, bereits angedeutet, aber nur von der dichten-
den hervorgehoben, wie ſie ſich durch Wiederholung der bildenden und em-
pfindenden innerhalb ihres Standpunkts gliedert. Wie auch die andern Arten
die Weiſe der übrigen in ſich aufnehmen, kann hier nur mit Wenigem an-
gegeben werden. Am ſchwerſten natürlich kann die Phantaſie des meſſenden
Auges übergreifen in die benachbarten Formen, die plaſtiſche, die maleriſche;
doch läßt ſich in gewiſſem Sinne ſagen, daß die orientaliſche Architektur ſtreng
blos meſſend, die griechiſche plaſtiſch, die gothiſche maleriſch ſei. Hier
alſo würden aus dieſem Uebergreifen nicht verſchiedene Zweige, ſondern hiſto-
riſche Style entſtehen. Die Phantaſie des taſtend ſehenden Auges, die plaſtiſche,
kann in gewiſſem Sinne eine architektoniſche oder eine maleriſch bewegte
Anſchauung ſich zu Grunde legen, ohne ihre Grenzen zu verlaſſen; von
den eigentlichen Fehlgriffen nämlich reden wir hier überhaupt noch nicht.
Dieß kann nun in doppeltem Sinne geſchehen; entweder Zweige begrün-

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[382/0096] ſchon ſo weit, den Uebergang vom innern Ideale zum Kunſtwerk anzu- treten, ſo wäre Alles mit dem einen Worte geſagt, daß dieſe Form der Phantaſie in keinem andern Materiale, als dem der Phantaſie (des Zu- hörers) arbeitet, alſo nicht aus der Phantaſie in die Welt der äußeren Ge- ſtaltbildung übergeht, oder richtiger, daß ſie ſich von dieſer in die rein innere Geſtaltbildung zurücknimmt. Allein ſo viel folgt ſchon hier, daß damit eine Form der Phantaſie gegeben iſt, die, weil ſie ſich in keines der ein- ſeitigen Momente legt, alle anderen Formen auf geiſtige Weiſe in ſich vereinigt. Sie zeichnet alſo innerlich wie die auf das Auge organiſirte Phantaſie, aber da ſie ebenſoſehr die auf das Ohr organiſirte empfindende in ſich ſchließt, dieſe aber Alles als ein von innen heraus Bewegtes und das Gemüth Bewegendes auffaßt, ſo führt ſie ihre Geſtaltenwelt im vollen Fluße der geiſtigen Bewegung vorüber. Nun können aber auch die üb- rigen untergeordneten Sinne, Geſchmack, Geruch mitwirken, denn ihre ſtoffartige Spitze iſt gebrochen, indem ſie in dem Ganzen der ſo ideal geſetzten Sinnlichkeit nur mitwirken. Hier iſt denn die Poeſie vorge- zeichnet. Da nun dieſe Phantaſie alle anderen hier vorliegenden Arten in ſich vereinigt, ſo iſt ſogleich klar, daß ſie die Standpunkte der letzteren in ſich wiederholt, und ſo iſt bereits die epiſche Poeſie als entſprechend der bildenden, die lyriſche als entſprechend der empfindenden, die drama- tiſche als Rückkehr der dichtenden zu ſich ſelbſt vorgezeichnet. Hiemit iſt auch ſchon geſagt, daß die dichtende Phantaſie mit allen Arten von Phan- taſie, die nach den Sphären des Stoffes, ebenſo mit allen Arten, die aus den Grundformen des einfach Schönen u. ſ. w. ſich bildeten, auf die vielfachſte und ungehemmteſte Weiſe ſich verſchmelzen kann. Im Vorhergehenden haben wir die Verbindungen, welche die durch die jetzige Eintheilung gegebenen Arten der Phantaſie mit den Arten der vorh. §§. eingehen können, bereits angedeutet, aber nur von der dichten- den hervorgehoben, wie ſie ſich durch Wiederholung der bildenden und em- pfindenden innerhalb ihres Standpunkts gliedert. Wie auch die andern Arten die Weiſe der übrigen in ſich aufnehmen, kann hier nur mit Wenigem an- gegeben werden. Am ſchwerſten natürlich kann die Phantaſie des meſſenden Auges übergreifen in die benachbarten Formen, die plaſtiſche, die maleriſche; doch läßt ſich in gewiſſem Sinne ſagen, daß die orientaliſche Architektur ſtreng blos meſſend, die griechiſche plaſtiſch, die gothiſche maleriſch ſei. Hier alſo würden aus dieſem Uebergreifen nicht verſchiedene Zweige, ſondern hiſto- riſche Style entſtehen. Die Phantaſie des taſtend ſehenden Auges, die plaſtiſche, kann in gewiſſem Sinne eine architektoniſche oder eine maleriſch bewegte Anſchauung ſich zu Grunde legen, ohne ihre Grenzen zu verlaſſen; von den eigentlichen Fehlgriffen nämlich reden wir hier überhaupt noch nicht. Dieß kann nun in doppeltem Sinne geſchehen; entweder Zweige begrün-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/96>, abgerufen am 23.11.2024.