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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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hier auf den ersten Blick in die Augen, sondern auch die Hand erkennt
man, die wohl gelernt, oder die Maschine, der man wohl aufgelegt hat,
ein Material nach Winkel und Maaß zu bearbeiten, aber nicht, ihm den
Schwung der belebten Form einzuhauchen. Ein anderer, ein runderer,
ein geistreicherer ist der Zug der Künstlerhand, der Strich seines Pinsels,
seines Modellirholzes, seines Bogens, der Klang seines Worts, aber auch
dem Künstler ist das nicht im Schlafe gegeben worden.

§. 518.

Auf der andern Seite ist diese erschwerende Natur des Materials ein1
Widerlager, das durch seine Gegenstemmung die Phantasie ebensosehr zur
Erfindung neuer Motive, die gerade den Hindernissen abgewonnen werden,
als zum Heraustritt aus der Innerlichkeit und muthigen Ringen mit den äußern
Schwierigkeiten reizt. Aber diese bestehen und es gilt, von vornen zu lernen2
und durch eine besondere Uebung aus der geistigen Welt der Phantasie und
der mechanischen, spielenden, verständigen Thätigkeit ein neues Drittes, die
künstlerische Technik, zu bilden.

1. Das Material in der Kunst hat dieselbe Bedeutung wie alles
Object als Nicht-Ich: durch seinen Gegenstoß setzt sich die Thätigkeit des
Ich überhaupt erst in Bewegung. Die Schranke selbst ist der Drang
ihrer Ueberwindung, der Kampf steigert den Kampfmuth, und im Feuer
desselben ruft der Geist dem schweren Stoffe zu: du sollst und mußt dich
zwingen lassen, deine Gesetze selbst, die ich kenne und achte, müssen meiner
Absicht dienen! Diese allgemeine Wahrheit bestimmt sich aber, wie in allen
Sphären der Thätigkeit, so auch in der künstlerischen, zu der besondern,
daß Reibung mit der strengen Ausschließlichkeit des Materials im Geiste des
ächten Arbeiters die Funken neuer Motive hervorschlägt. Zu diesem Satze,
der schon in der Lehre vom geistigen Theile der Vorarbeit zu §. 493, 1. nicht
zurückgehalten werden durfte und der nachher zu §. 504 noch einmal
berührt ist, wollen wir als Beispiel nur anführen, welcher Reichthum von
Schönheiten neuerdings in Baiern dem Backstein, auf den man durch den
Mangel an gewachsenem Stein in einem Theile dieses Landes angewiesen ist,
abgewonnen wurde, zu welcher Zierlichkeit es die Holzbaukunst (wiewohl sie
zur wahren monumentalen Kunsthöhe sich nie erheben kann) in steinarmen
Ländern gebracht hat; wir erinnern an die Fortschritte der Schnitzer- und
Dreher-Kunst in Geräthen u. s. w. in Gegenden, wo feine Thon-Erde
fehlt; in München hätte die Gießerkunst schwerlich die bekannte Höhe
erreicht, wenn der Marmor leichter zu beschaffen wäre; in der Malerei
hat der Auftrag auf Kalk die Mängel, die er mit sich führt, durch Größe

Vischer's Aesthetik. 3. Band. 7

hier auf den erſten Blick in die Augen, ſondern auch die Hand erkennt
man, die wohl gelernt, oder die Maſchine, der man wohl aufgelegt hat,
ein Material nach Winkel und Maaß zu bearbeiten, aber nicht, ihm den
Schwung der belebten Form einzuhauchen. Ein anderer, ein runderer,
ein geiſtreicherer iſt der Zug der Künſtlerhand, der Strich ſeines Pinſels,
ſeines Modellirholzes, ſeines Bogens, der Klang ſeines Worts, aber auch
dem Künſtler iſt das nicht im Schlafe gegeben worden.

§. 518.

Auf der andern Seite iſt dieſe erſchwerende Natur des Materials ein1
Widerlager, das durch ſeine Gegenſtemmung die Phantaſie ebenſoſehr zur
Erfindung neuer Motive, die gerade den Hinderniſſen abgewonnen werden,
als zum Heraustritt aus der Innerlichkeit und muthigen Ringen mit den äußern
Schwierigkeiten reizt. Aber dieſe beſtehen und es gilt, von vornen zu lernen2
und durch eine beſondere Uebung aus der geiſtigen Welt der Phantaſie und
der mechaniſchen, ſpielenden, verſtändigen Thätigkeit ein neues Drittes, die
künſtleriſche Technik, zu bilden.

1. Das Material in der Kunſt hat dieſelbe Bedeutung wie alles
Object als Nicht-Ich: durch ſeinen Gegenſtoß ſetzt ſich die Thätigkeit des
Ich überhaupt erſt in Bewegung. Die Schranke ſelbſt iſt der Drang
ihrer Ueberwindung, der Kampf ſteigert den Kampfmuth, und im Feuer
deſſelben ruft der Geiſt dem ſchweren Stoffe zu: du ſollſt und mußt dich
zwingen laſſen, deine Geſetze ſelbſt, die ich kenne und achte, müſſen meiner
Abſicht dienen! Dieſe allgemeine Wahrheit beſtimmt ſich aber, wie in allen
Sphären der Thätigkeit, ſo auch in der künſtleriſchen, zu der beſondern,
daß Reibung mit der ſtrengen Ausſchließlichkeit des Materials im Geiſte des
ächten Arbeiters die Funken neuer Motive hervorſchlägt. Zu dieſem Satze,
der ſchon in der Lehre vom geiſtigen Theile der Vorarbeit zu §. 493, 1. nicht
zurückgehalten werden durfte und der nachher zu §. 504 noch einmal
berührt iſt, wollen wir als Beiſpiel nur anführen, welcher Reichthum von
Schönheiten neuerdings in Baiern dem Backſtein, auf den man durch den
Mangel an gewachſenem Stein in einem Theile dieſes Landes angewieſen iſt,
abgewonnen wurde, zu welcher Zierlichkeit es die Holzbaukunſt (wiewohl ſie
zur wahren monumentalen Kunſthöhe ſich nie erheben kann) in ſteinarmen
Ländern gebracht hat; wir erinnern an die Fortſchritte der Schnitzer- und
Dreher-Kunſt in Geräthen u. ſ. w. in Gegenden, wo feine Thon-Erde
fehlt; in München hätte die Gießerkunſt ſchwerlich die bekannte Höhe
erreicht, wenn der Marmor leichter zu beſchaffen wäre; in der Malerei
hat der Auftrag auf Kalk die Mängel, die er mit ſich führt, durch Größe

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 7
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[97/0109] hier auf den erſten Blick in die Augen, ſondern auch die Hand erkennt man, die wohl gelernt, oder die Maſchine, der man wohl aufgelegt hat, ein Material nach Winkel und Maaß zu bearbeiten, aber nicht, ihm den Schwung der belebten Form einzuhauchen. Ein anderer, ein runderer, ein geiſtreicherer iſt der Zug der Künſtlerhand, der Strich ſeines Pinſels, ſeines Modellirholzes, ſeines Bogens, der Klang ſeines Worts, aber auch dem Künſtler iſt das nicht im Schlafe gegeben worden. §. 518. Auf der andern Seite iſt dieſe erſchwerende Natur des Materials ein Widerlager, das durch ſeine Gegenſtemmung die Phantaſie ebenſoſehr zur Erfindung neuer Motive, die gerade den Hinderniſſen abgewonnen werden, als zum Heraustritt aus der Innerlichkeit und muthigen Ringen mit den äußern Schwierigkeiten reizt. Aber dieſe beſtehen und es gilt, von vornen zu lernen und durch eine beſondere Uebung aus der geiſtigen Welt der Phantaſie und der mechaniſchen, ſpielenden, verſtändigen Thätigkeit ein neues Drittes, die künſtleriſche Technik, zu bilden. 1. Das Material in der Kunſt hat dieſelbe Bedeutung wie alles Object als Nicht-Ich: durch ſeinen Gegenſtoß ſetzt ſich die Thätigkeit des Ich überhaupt erſt in Bewegung. Die Schranke ſelbſt iſt der Drang ihrer Ueberwindung, der Kampf ſteigert den Kampfmuth, und im Feuer deſſelben ruft der Geiſt dem ſchweren Stoffe zu: du ſollſt und mußt dich zwingen laſſen, deine Geſetze ſelbſt, die ich kenne und achte, müſſen meiner Abſicht dienen! Dieſe allgemeine Wahrheit beſtimmt ſich aber, wie in allen Sphären der Thätigkeit, ſo auch in der künſtleriſchen, zu der beſondern, daß Reibung mit der ſtrengen Ausſchließlichkeit des Materials im Geiſte des ächten Arbeiters die Funken neuer Motive hervorſchlägt. Zu dieſem Satze, der ſchon in der Lehre vom geiſtigen Theile der Vorarbeit zu §. 493, 1. nicht zurückgehalten werden durfte und der nachher zu §. 504 noch einmal berührt iſt, wollen wir als Beiſpiel nur anführen, welcher Reichthum von Schönheiten neuerdings in Baiern dem Backſtein, auf den man durch den Mangel an gewachſenem Stein in einem Theile dieſes Landes angewieſen iſt, abgewonnen wurde, zu welcher Zierlichkeit es die Holzbaukunſt (wiewohl ſie zur wahren monumentalen Kunſthöhe ſich nie erheben kann) in ſteinarmen Ländern gebracht hat; wir erinnern an die Fortſchritte der Schnitzer- und Dreher-Kunſt in Geräthen u. ſ. w. in Gegenden, wo feine Thon-Erde fehlt; in München hätte die Gießerkunſt ſchwerlich die bekannte Höhe erreicht, wenn der Marmor leichter zu beſchaffen wäre; in der Malerei hat der Auftrag auf Kalk die Mängel, die er mit ſich führt, durch Größe Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 7

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/109>, abgerufen am 21.11.2024.