Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

Bild:
<< vorherige Seite

unwillkührlich zur Dressur werden. Sieht man davon ab oder läugnet
man es und sagt, da die Lehrer selbst Künstler seien, so wirken sie ja
persönlich wie der Meister in jener familiären Erziehungsform, so geräth
man auf die neue Schwierigkeit, daß, da für die verschiedenen Zweige
des Unterrichts verschiedene Lehrer angestellt sind, jene Einheit des Geistes
verschwinden muß, die auf die Lehrlinge eines Meisters zwar einerseits
fesselnd wirkt, aus der sie sich aber, wenn der eigene Geist die Flügel
regt, auch leichter emanzipiren, eben weil es Ein erkennbarer Typus ist,
gegen den der erwachte freie Geist sich in klare und einfache Opposition
stellen kann. Geschichtlich aber hat sich dieß weitere Uebel der Verschie-
denheit des Geistes im Unterricht verschiedener Lehrer in das andere verkehrt,
daß eine lange Zeit hindurch der eingewurzelte Geist der Abstraction auch
den geistig freien Theil der Technik schlechthin unter den Begriff des exact
Lehrbaren subsumirte und Alles, selbst die Composition, in das steife Maaß
der conventionellen Regel gespannt wurde, worin denn dem Geiste der
Zeit gemäß die verschiedenen Lehrer so übereinstimmten, daß sie alle nach
Einem Rezept Anweisung gaben. Nachdem nun der Mechanismus, der
zunächst den Akademien an sich nur nahe liegt, historisch sich ausgebildet
hatte, drang er auch in der Weise in den Unterricht ein, daß der ver-
nünftige Grundsatz der längeren Wiederholung einer und derselben Uebung
bis zur Abstumpfung übertrieben wurde: ewiges Copiren, ewiges Actzeich-
nen u. s. w. gab statt der Sicherheit, welche ein richtiges Maaß fortgesetzter
Uebung verleiht, der Anschauung und der Phantasie den Tod. Man
betrachte z. B. die Concurrenzarbeiten, wie sie in der Akademie S. Luca zu
Rom seit Jahrhunderten gesammelt sind: überall Sicherheit der Faust,
aber durchgängig auch ein todtenhafter, Präparaten-artiger, Schablonen-
mäßiger Charakter des Gemachten. Nun ist es allerdings die Zeit der
Herrschaft der Manier, in die uns unsere Erörterung geführt hat, allein
es waren namentlich eben die Akademieen, welche diese Schulmeisterung
der Natur durch die selbstgefällige Geschicklichkeit des Subjects, die stehen-
den Griffe und Pfiffe, die obligaten Effecte, das Hinrücken der Gegenstände
in einen verkünstelten Beleuchtungsstandpunct, das Renommiren mit
wunderbaren Stellungen, Verkürzungen, Licht- und Schatten-Contrasten,
die repoussoirs, die Charlatanerie der Composition, die geleckte Süßigkeit und
die eisenfresserische Gewaltsamkeit der Auffassung genährt haben, und eben-
dieß lag ihnen ihrem Wesen gemäß nahe. Wenn wir nun behaupten,
daß in der akademischen Einrichtung an sich diese Gefahr liegt und sie
doch für unentbehrlich und nützlich erklären, so müssen wir die Mittel
suchen, wodurch der Gefahr gesteuert wird. Davon im nächsten §. Zuvor
ist nur noch auf das Concurrenzwesen hinzuweisen, welches hier nicht, wie
§. 507, 2. als Förderungsmittel der Kunst durch Anspornung reifer Künstler,

unwillkührlich zur Dreſſur werden. Sieht man davon ab oder läugnet
man es und ſagt, da die Lehrer ſelbſt Künſtler ſeien, ſo wirken ſie ja
perſönlich wie der Meiſter in jener familiären Erziehungsform, ſo geräth
man auf die neue Schwierigkeit, daß, da für die verſchiedenen Zweige
des Unterrichts verſchiedene Lehrer angeſtellt ſind, jene Einheit des Geiſtes
verſchwinden muß, die auf die Lehrlinge eines Meiſters zwar einerſeits
feſſelnd wirkt, aus der ſie ſich aber, wenn der eigene Geiſt die Flügel
regt, auch leichter emanzipiren, eben weil es Ein erkennbarer Typus iſt,
gegen den der erwachte freie Geiſt ſich in klare und einfache Oppoſition
ſtellen kann. Geſchichtlich aber hat ſich dieß weitere Uebel der Verſchie-
denheit des Geiſtes im Unterricht verſchiedener Lehrer in das andere verkehrt,
daß eine lange Zeit hindurch der eingewurzelte Geiſt der Abſtraction auch
den geiſtig freien Theil der Technik ſchlechthin unter den Begriff des exact
Lehrbaren ſubſumirte und Alles, ſelbſt die Compoſition, in das ſteife Maaß
der conventionellen Regel geſpannt wurde, worin denn dem Geiſte der
Zeit gemäß die verſchiedenen Lehrer ſo übereinſtimmten, daß ſie alle nach
Einem Rezept Anweiſung gaben. Nachdem nun der Mechanismus, der
zunächſt den Akademien an ſich nur nahe liegt, hiſtoriſch ſich ausgebildet
hatte, drang er auch in der Weiſe in den Unterricht ein, daß der ver-
nünftige Grundſatz der längeren Wiederholung einer und derſelben Uebung
bis zur Abſtumpfung übertrieben wurde: ewiges Copiren, ewiges Actzeich-
nen u. ſ. w. gab ſtatt der Sicherheit, welche ein richtiges Maaß fortgeſetzter
Uebung verleiht, der Anſchauung und der Phantaſie den Tod. Man
betrachte z. B. die Concurrenzarbeiten, wie ſie in der Akademie S. Luca zu
Rom ſeit Jahrhunderten geſammelt ſind: überall Sicherheit der Fauſt,
aber durchgängig auch ein todtenhafter, Präparaten-artiger, Schablonen-
mäßiger Charakter des Gemachten. Nun iſt es allerdings die Zeit der
Herrſchaft der Manier, in die uns unſere Erörterung geführt hat, allein
es waren namentlich eben die Akademieen, welche dieſe Schulmeiſterung
der Natur durch die ſelbſtgefällige Geſchicklichkeit des Subjects, die ſtehen-
den Griffe und Pfiffe, die obligaten Effecte, das Hinrücken der Gegenſtände
in einen verkünſtelten Beleuchtungsſtandpunct, das Renommiren mit
wunderbaren Stellungen, Verkürzungen, Licht- und Schatten-Contraſten,
die repoussoirs, die Charlatanerie der Compoſition, die geleckte Süßigkeit und
die eiſenfreſſeriſche Gewaltſamkeit der Auffaſſung genährt haben, und eben-
dieß lag ihnen ihrem Weſen gemäß nahe. Wenn wir nun behaupten,
daß in der akademiſchen Einrichtung an ſich dieſe Gefahr liegt und ſie
doch für unentbehrlich und nützlich erklären, ſo müſſen wir die Mittel
ſuchen, wodurch der Gefahr geſteuert wird. Davon im nächſten §. Zuvor
iſt nur noch auf das Concurrenzweſen hinzuweiſen, welches hier nicht, wie
§. 507, 2. als Förderungsmittel der Kunſt durch Anſpornung reifer Künſtler,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0120" n="108"/>
unwillkührlich zur Dre&#x017F;&#x017F;ur werden. Sieht man davon ab oder läugnet<lb/>
man es und &#x017F;agt, da die Lehrer &#x017F;elb&#x017F;t Kün&#x017F;tler &#x017F;eien, &#x017F;o wirken &#x017F;ie ja<lb/>
per&#x017F;önlich wie der Mei&#x017F;ter in jener familiären Erziehungsform, &#x017F;o geräth<lb/>
man auf die neue Schwierigkeit, daß, da für die ver&#x017F;chiedenen Zweige<lb/>
des Unterrichts ver&#x017F;chiedene Lehrer ange&#x017F;tellt &#x017F;ind, jene Einheit des Gei&#x017F;tes<lb/>
ver&#x017F;chwinden muß, die auf die Lehrlinge eines Mei&#x017F;ters zwar einer&#x017F;eits<lb/>
fe&#x017F;&#x017F;elnd wirkt, aus der &#x017F;ie &#x017F;ich aber, wenn der eigene Gei&#x017F;t die Flügel<lb/>
regt, auch leichter emanzipiren, eben weil es Ein erkennbarer Typus i&#x017F;t,<lb/>
gegen den der erwachte freie Gei&#x017F;t &#x017F;ich in klare und einfache Oppo&#x017F;ition<lb/>
&#x017F;tellen kann. Ge&#x017F;chichtlich aber hat &#x017F;ich dieß weitere Uebel der Ver&#x017F;chie-<lb/>
denheit des Gei&#x017F;tes im Unterricht ver&#x017F;chiedener Lehrer in das andere verkehrt,<lb/>
daß eine lange Zeit hindurch der eingewurzelte Gei&#x017F;t der Ab&#x017F;traction auch<lb/>
den gei&#x017F;tig freien Theil der Technik &#x017F;chlechthin unter den Begriff des exact<lb/>
Lehrbaren &#x017F;ub&#x017F;umirte und Alles, &#x017F;elb&#x017F;t die Compo&#x017F;ition, in das &#x017F;teife Maaß<lb/>
der conventionellen Regel ge&#x017F;pannt wurde, worin denn dem Gei&#x017F;te der<lb/>
Zeit gemäß die ver&#x017F;chiedenen Lehrer &#x017F;o überein&#x017F;timmten, daß &#x017F;ie alle nach<lb/>
Einem Rezept Anwei&#x017F;ung gaben. Nachdem nun der Mechanismus, der<lb/>
zunäch&#x017F;t den Akademien an &#x017F;ich nur nahe liegt, hi&#x017F;tori&#x017F;ch &#x017F;ich ausgebildet<lb/>
hatte, drang er auch in der Wei&#x017F;e in den Unterricht ein, daß der ver-<lb/>
nünftige Grund&#x017F;atz der längeren Wiederholung einer und der&#x017F;elben Uebung<lb/>
bis zur Ab&#x017F;tumpfung übertrieben wurde: ewiges Copiren, ewiges Actzeich-<lb/>
nen u. &#x017F;. w. gab &#x017F;tatt der Sicherheit, welche ein richtiges Maaß fortge&#x017F;etzter<lb/>
Uebung verleiht, der An&#x017F;chauung und der Phanta&#x017F;ie den Tod. Man<lb/>
betrachte z. B. die Concurrenzarbeiten, wie &#x017F;ie in der Akademie S. Luca zu<lb/>
Rom &#x017F;eit Jahrhunderten ge&#x017F;ammelt &#x017F;ind: überall Sicherheit der Fau&#x017F;t,<lb/>
aber durchgängig auch ein todtenhafter, Präparaten-artiger, Schablonen-<lb/>
mäßiger Charakter des Gemachten. Nun i&#x017F;t es allerdings die Zeit der<lb/>
Herr&#x017F;chaft der Manier, in die uns un&#x017F;ere Erörterung geführt hat, allein<lb/>
es waren namentlich eben die Akademieen, welche die&#x017F;e Schulmei&#x017F;terung<lb/>
der Natur durch die &#x017F;elb&#x017F;tgefällige Ge&#x017F;chicklichkeit des Subjects, die &#x017F;tehen-<lb/>
den Griffe und Pfiffe, die obligaten Effecte, das Hinrücken der Gegen&#x017F;tände<lb/>
in einen verkün&#x017F;telten Beleuchtungs&#x017F;tandpunct, das Renommiren mit<lb/>
wunderbaren Stellungen, Verkürzungen, Licht- und Schatten-Contra&#x017F;ten,<lb/>
die <hi rendition="#aq">repoussoirs,</hi> die Charlatanerie der Compo&#x017F;ition, die geleckte Süßigkeit und<lb/>
die ei&#x017F;enfre&#x017F;&#x017F;eri&#x017F;che Gewalt&#x017F;amkeit der Auffa&#x017F;&#x017F;ung genährt haben, und eben-<lb/>
dieß lag ihnen ihrem We&#x017F;en gemäß nahe. Wenn wir nun behaupten,<lb/>
daß in der akademi&#x017F;chen Einrichtung an &#x017F;ich die&#x017F;e Gefahr liegt und &#x017F;ie<lb/>
doch für unentbehrlich und nützlich erklären, &#x017F;o mü&#x017F;&#x017F;en wir die Mittel<lb/>
&#x017F;uchen, wodurch der Gefahr ge&#x017F;teuert wird. Davon im näch&#x017F;ten §. Zuvor<lb/>
i&#x017F;t nur noch auf das Concurrenzwe&#x017F;en hinzuwei&#x017F;en, welches hier nicht, wie<lb/>
§. 507, <hi rendition="#sub">2.</hi> als Förderungsmittel der Kun&#x017F;t durch An&#x017F;pornung reifer Kün&#x017F;tler,<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[108/0120] unwillkührlich zur Dreſſur werden. Sieht man davon ab oder läugnet man es und ſagt, da die Lehrer ſelbſt Künſtler ſeien, ſo wirken ſie ja perſönlich wie der Meiſter in jener familiären Erziehungsform, ſo geräth man auf die neue Schwierigkeit, daß, da für die verſchiedenen Zweige des Unterrichts verſchiedene Lehrer angeſtellt ſind, jene Einheit des Geiſtes verſchwinden muß, die auf die Lehrlinge eines Meiſters zwar einerſeits feſſelnd wirkt, aus der ſie ſich aber, wenn der eigene Geiſt die Flügel regt, auch leichter emanzipiren, eben weil es Ein erkennbarer Typus iſt, gegen den der erwachte freie Geiſt ſich in klare und einfache Oppoſition ſtellen kann. Geſchichtlich aber hat ſich dieß weitere Uebel der Verſchie- denheit des Geiſtes im Unterricht verſchiedener Lehrer in das andere verkehrt, daß eine lange Zeit hindurch der eingewurzelte Geiſt der Abſtraction auch den geiſtig freien Theil der Technik ſchlechthin unter den Begriff des exact Lehrbaren ſubſumirte und Alles, ſelbſt die Compoſition, in das ſteife Maaß der conventionellen Regel geſpannt wurde, worin denn dem Geiſte der Zeit gemäß die verſchiedenen Lehrer ſo übereinſtimmten, daß ſie alle nach Einem Rezept Anweiſung gaben. Nachdem nun der Mechanismus, der zunächſt den Akademien an ſich nur nahe liegt, hiſtoriſch ſich ausgebildet hatte, drang er auch in der Weiſe in den Unterricht ein, daß der ver- nünftige Grundſatz der längeren Wiederholung einer und derſelben Uebung bis zur Abſtumpfung übertrieben wurde: ewiges Copiren, ewiges Actzeich- nen u. ſ. w. gab ſtatt der Sicherheit, welche ein richtiges Maaß fortgeſetzter Uebung verleiht, der Anſchauung und der Phantaſie den Tod. Man betrachte z. B. die Concurrenzarbeiten, wie ſie in der Akademie S. Luca zu Rom ſeit Jahrhunderten geſammelt ſind: überall Sicherheit der Fauſt, aber durchgängig auch ein todtenhafter, Präparaten-artiger, Schablonen- mäßiger Charakter des Gemachten. Nun iſt es allerdings die Zeit der Herrſchaft der Manier, in die uns unſere Erörterung geführt hat, allein es waren namentlich eben die Akademieen, welche dieſe Schulmeiſterung der Natur durch die ſelbſtgefällige Geſchicklichkeit des Subjects, die ſtehen- den Griffe und Pfiffe, die obligaten Effecte, das Hinrücken der Gegenſtände in einen verkünſtelten Beleuchtungsſtandpunct, das Renommiren mit wunderbaren Stellungen, Verkürzungen, Licht- und Schatten-Contraſten, die repoussoirs, die Charlatanerie der Compoſition, die geleckte Süßigkeit und die eiſenfreſſeriſche Gewaltſamkeit der Auffaſſung genährt haben, und eben- dieß lag ihnen ihrem Weſen gemäß nahe. Wenn wir nun behaupten, daß in der akademiſchen Einrichtung an ſich dieſe Gefahr liegt und ſie doch für unentbehrlich und nützlich erklären, ſo müſſen wir die Mittel ſuchen, wodurch der Gefahr geſteuert wird. Davon im nächſten §. Zuvor iſt nur noch auf das Concurrenzweſen hinzuweiſen, welches hier nicht, wie §. 507, 2. als Förderungsmittel der Kunſt durch Anſpornung reifer Künſtler,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/120
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/120>, abgerufen am 21.11.2024.