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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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Wer zwingt denn den Künstler, so mußten wir schon zu §. 532
fragen, den Stein, das Erz, die Farbe u. s. w. zu wählen? Diese ein-
fache Frage hat sich die gemeine Logik nicht aufgeworfen, indem sie
das Darstellungsmittel, Material, Organ, Grundform der Anschauung
(Raum und Zeit) zum Theilungsprinzip erhob und nun bildende und
tonische Künste (andere dreitheilige Unterscheidungen auf demselben Stand-
puncte werden später zur Sprache kommen) unterschied. Wir werfen
jedoch dieses veraltete Verfahren nicht einfach weg, sondern verbessern es
vorerst dahin, daß nur nicht das Darstellungsmittel an sich den Einthei-
lungsgrund zu bilden hat, sondern die Sinnlichkeit, wie sie sich in den
Geist hineinerstreckt und das ihr entsprechende Material ergreift. Dadurch
erst wird auch eine Gliederung innerhalb der einzelnen Kategorien des
Materials möglich, welche jenen alten Eintheilungen ganz fehlte: es läßt
sich nun zeigen, warum es dreierlei bildende Künste, alle in körperlich
ausgedehntem, bewegungslosem, aber verschiedenem Material darstellend,
geben muß, und es wird im Folgenden gezeigt werden. Die Musik hat
ihr sinnliches Material im Tone, der ebenfalls noch einen Körper, dem
er abgewonnen wird, voraussetzt. Allein ganz erlischt das Recht dieser
Eintheilungsweise bei der Poesie; denn daß sie mit der Musik nicht
(unter der Kategorie der tonischen Künste, Künste der Zeit) coordinirt werden
kann, leuchtet selbst vor der Beweisführung ein, da Jeder weiß, daß das
Wort der Poesie nicht das ist, was der Musik der Ton. Die Poesie
ist es ja aber, die "in gewissem Sinn" gar kein Material hat; die alte
Eintheilung hatte durchaus keinen Ort für sie. Es muß also eine dop-
pelte Art der innerlich gesetzten Sinnlichkeit geben: eine solche, die wirk-
lich das ihrer Anschauungsweise entsprechende körperliche Sein nicht ent-
behren kann, und eine solche, die in sich bleibt, die auch in bloß vorge-
stelltem Stein, Farbe, Ton darstellen kann und nichts voraussetzt, als
daß der, an den sie sich wendet, dieselbe Vorstellung in sich erzeugen
könne. Nunmehr beschränkt sich jener verbesserte, vom Material genom-
mene Eintheilungsgrund auf die Künste außer der Poesie, er theilt nur
Eines von zwei Feldern, die nun vor uns liegen, und der höhere Thei-
lungsgrund für die zunächst auftretende Zweizahl ist der Unterschied zwi-
schen einer auf den entsprechenden Körper bezogenen und einer rein
innerlichen Sinnlichkeit des Geistes; also der des Realen und Idealen.
Auf dieses Schellingische Theilungsprinzip gründet denn Solger seine
Grundeintheilung. Er hat (Vorles. über Aesth. herausg. v. Heyse
S. 259) richtig erkannt, daß für die Poesie die Sprache nicht Darstel-
lungsmedium ist wie für die andern Künste ihr Material, er faßt sie als
die Kunst der reinen, das Mannigfaltige aus sich erzeugenden, ganzen
Idee, als die universelle Kunst, und stellt ihr die andern Künste gegen-

10*

Wer zwingt denn den Künſtler, ſo mußten wir ſchon zu §. 532
fragen, den Stein, das Erz, die Farbe u. ſ. w. zu wählen? Dieſe ein-
fache Frage hat ſich die gemeine Logik nicht aufgeworfen, indem ſie
das Darſtellungsmittel, Material, Organ, Grundform der Anſchauung
(Raum und Zeit) zum Theilungsprinzip erhob und nun bildende und
toniſche Künſte (andere dreitheilige Unterſcheidungen auf demſelben Stand-
puncte werden ſpäter zur Sprache kommen) unterſchied. Wir werfen
jedoch dieſes veraltete Verfahren nicht einfach weg, ſondern verbeſſern es
vorerſt dahin, daß nur nicht das Darſtellungsmittel an ſich den Einthei-
lungsgrund zu bilden hat, ſondern die Sinnlichkeit, wie ſie ſich in den
Geiſt hineinerſtreckt und das ihr entſprechende Material ergreift. Dadurch
erſt wird auch eine Gliederung innerhalb der einzelnen Kategorien des
Materials möglich, welche jenen alten Eintheilungen ganz fehlte: es läßt
ſich nun zeigen, warum es dreierlei bildende Künſte, alle in körperlich
ausgedehntem, bewegungsloſem, aber verſchiedenem Material darſtellend,
geben muß, und es wird im Folgenden gezeigt werden. Die Muſik hat
ihr ſinnliches Material im Tone, der ebenfalls noch einen Körper, dem
er abgewonnen wird, vorausſetzt. Allein ganz erliſcht das Recht dieſer
Eintheilungsweiſe bei der Poeſie; denn daß ſie mit der Muſik nicht
(unter der Kategorie der toniſchen Künſte, Künſte der Zeit) coordinirt werden
kann, leuchtet ſelbſt vor der Beweisführung ein, da Jeder weiß, daß das
Wort der Poeſie nicht das iſt, was der Muſik der Ton. Die Poeſie
iſt es ja aber, die „in gewiſſem Sinn“ gar kein Material hat; die alte
Eintheilung hatte durchaus keinen Ort für ſie. Es muß alſo eine dop-
pelte Art der innerlich geſetzten Sinnlichkeit geben: eine ſolche, die wirk-
lich das ihrer Anſchauungsweiſe entſprechende körperliche Sein nicht ent-
behren kann, und eine ſolche, die in ſich bleibt, die auch in bloß vorge-
ſtelltem Stein, Farbe, Ton darſtellen kann und nichts vorausſetzt, als
daß der, an den ſie ſich wendet, dieſelbe Vorſtellung in ſich erzeugen
könne. Nunmehr beſchränkt ſich jener verbeſſerte, vom Material genom-
mene Eintheilungsgrund auf die Künſte außer der Poeſie, er theilt nur
Eines von zwei Feldern, die nun vor uns liegen, und der höhere Thei-
lungsgrund für die zunächſt auftretende Zweizahl iſt der Unterſchied zwi-
ſchen einer auf den entſprechenden Körper bezogenen und einer rein
innerlichen Sinnlichkeit des Geiſtes; alſo der des Realen und Idealen.
Auf dieſes Schellingiſche Theilungsprinzip gründet denn Solger ſeine
Grundeintheilung. Er hat (Vorleſ. über Aeſth. herausg. v. Heyſe
S. 259) richtig erkannt, daß für die Poeſie die Sprache nicht Darſtel-
lungsmedium iſt wie für die andern Künſte ihr Material, er faßt ſie als
die Kunſt der reinen, das Mannigfaltige aus ſich erzeugenden, ganzen
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10*
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[147/0159] Wer zwingt denn den Künſtler, ſo mußten wir ſchon zu §. 532 fragen, den Stein, das Erz, die Farbe u. ſ. w. zu wählen? Dieſe ein- fache Frage hat ſich die gemeine Logik nicht aufgeworfen, indem ſie das Darſtellungsmittel, Material, Organ, Grundform der Anſchauung (Raum und Zeit) zum Theilungsprinzip erhob und nun bildende und toniſche Künſte (andere dreitheilige Unterſcheidungen auf demſelben Stand- puncte werden ſpäter zur Sprache kommen) unterſchied. Wir werfen jedoch dieſes veraltete Verfahren nicht einfach weg, ſondern verbeſſern es vorerſt dahin, daß nur nicht das Darſtellungsmittel an ſich den Einthei- lungsgrund zu bilden hat, ſondern die Sinnlichkeit, wie ſie ſich in den Geiſt hineinerſtreckt und das ihr entſprechende Material ergreift. Dadurch erſt wird auch eine Gliederung innerhalb der einzelnen Kategorien des Materials möglich, welche jenen alten Eintheilungen ganz fehlte: es läßt ſich nun zeigen, warum es dreierlei bildende Künſte, alle in körperlich ausgedehntem, bewegungsloſem, aber verſchiedenem Material darſtellend, geben muß, und es wird im Folgenden gezeigt werden. Die Muſik hat ihr ſinnliches Material im Tone, der ebenfalls noch einen Körper, dem er abgewonnen wird, vorausſetzt. Allein ganz erliſcht das Recht dieſer Eintheilungsweiſe bei der Poeſie; denn daß ſie mit der Muſik nicht (unter der Kategorie der toniſchen Künſte, Künſte der Zeit) coordinirt werden kann, leuchtet ſelbſt vor der Beweisführung ein, da Jeder weiß, daß das Wort der Poeſie nicht das iſt, was der Muſik der Ton. Die Poeſie iſt es ja aber, die „in gewiſſem Sinn“ gar kein Material hat; die alte Eintheilung hatte durchaus keinen Ort für ſie. Es muß alſo eine dop- pelte Art der innerlich geſetzten Sinnlichkeit geben: eine ſolche, die wirk- lich das ihrer Anſchauungsweiſe entſprechende körperliche Sein nicht ent- behren kann, und eine ſolche, die in ſich bleibt, die auch in bloß vorge- ſtelltem Stein, Farbe, Ton darſtellen kann und nichts vorausſetzt, als daß der, an den ſie ſich wendet, dieſelbe Vorſtellung in ſich erzeugen könne. Nunmehr beſchränkt ſich jener verbeſſerte, vom Material genom- mene Eintheilungsgrund auf die Künſte außer der Poeſie, er theilt nur Eines von zwei Feldern, die nun vor uns liegen, und der höhere Thei- lungsgrund für die zunächſt auftretende Zweizahl iſt der Unterſchied zwi- ſchen einer auf den entſprechenden Körper bezogenen und einer rein innerlichen Sinnlichkeit des Geiſtes; alſo der des Realen und Idealen. Auf dieſes Schellingiſche Theilungsprinzip gründet denn Solger ſeine Grundeintheilung. Er hat (Vorleſ. über Aeſth. herausg. v. Heyſe S. 259) richtig erkannt, daß für die Poeſie die Sprache nicht Darſtel- lungsmedium iſt wie für die andern Künſte ihr Material, er faßt ſie als die Kunſt der reinen, das Mannigfaltige aus ſich erzeugenden, ganzen Idee, als die univerſelle Kunſt, und ſtellt ihr die andern Künſte gegen- 10*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/159>, abgerufen am 27.11.2024.